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Roman
Die Koordinaten eines Lebens
10.09.2012 | Hamburg
Nominiert: 2012 Deutscher Buchpreis | Longlist
„Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, hatte die Großmutter am Rand der Grube zu ihr gesagt. Aber das stimmte nicht, denn der Herr hatte viel mehr genommen, als da war – auch alles, was aus dem Kind hätte werden können, lag jetzt da unten und sollte unter die Erde.“ Statt unter die Erde kommt das Kind in Jenny Erpenbecks meisterhaften Roman „Aller Tage Abend“ immer wieder mit dem Leben davon. In fünf Büchern wird die mögliche Geschichte des Kindes erzählt, auf dessen Beerdigung sich der Leser mit den ersten Zeilen des Buches befindet. Was wäre gewesen, wenn dieses Kind tatsächlich so früh gestorben wäre, wie wäre dann das Leben von Mutter und Vater und Großmutter verlaufen? Erpenbeck erzählt die Geschichten, die auf diese Fragen folgen, aus unterschiedlichen Perspektiven, unumgänglich und folgerichtig, wie uns das Leben zumeist erscheint, das, was wir Schicksal nennen. Dann jedoch stellt sie es in Frage. Welche Kleinigkeit müsste anders verlaufen sein, damit das Kind doch noch zu einem jungen Mädchen herangewachsen wäre, zu einer Frau, die mit ihrem Mann in die Sowjetunion emigriert ist, zu einer gefeierten Schriftstellerin in der DDR, zu einer sich langsam selbst vergessenden Greisin in einem Altenheim?
Die fünf Bücher, die jeweils auf einem unterschiedlichen Lebensende von Erpenbecks Protagonistin beruhen, werden von vier Intermezzi in Frage gestellt. Ein winziges Detail verläuft anders, eine Handvoll Schnee, ein Schritt, der in die andere Richtung gelenkt wird, ein Wort, das nicht gefallen ist, und schon verändert sich ein ganzes Leben, schon ist nicht „aller Tage Abend“ und das Leben geht weiter. Ein Lebenslauf ist alles andere als eine gerade Linie, sondern eine Ansammlung von Zufällen und großen Fragen, auf die es keine Antworten gibt. „(...) wie nämlich Vorgänge, Zustände und Ereignisse, die allgemeiner Natur sind – zum Beispiel ein Krieg, oder lang andauernder Hunger, oder auch ein Beamtengehalt, das nicht an die rasende Inflation angepasst wird – in ein beliebiges privates Gesicht hineinschlüpfen können. Hier machen sie ein paar Haare grau, dort fressen sie ein paar liebliche Wangen auf, bis die Haut nur noch über kantige Kiefernknochen gespannt ist, die Abspaltung Ungarns führt vielleicht in dem Gesicht irgendeiner Frau, es kann auch seine eigene sein, zu zerbissenen Lippen. Von ganz weit außen nach ganz weit innen wird also fortwährend übersetzt, nur gibt es dabei für jeden einzelnen Menschen ein eigenes Vokabular, und deshalb hat wohl bisher niemand erkannt, dass es sich dabei überhaupt um eine Sprache handelt, und zwar um die einzige, die für die ganze Welt und alle Zeit Gültigkeit hat.
Indem Erpenbeck in ihrem Roman jedem Menschen sein eigenes Vokalbular lässt, es aber den Bedingungen gemäß von außen nach innen übersetzt, erzählt sie ganz nebenbei, aber umso eindringlicher, ein ganzes Jahrhundert Zeitgeschichte.
Nichts ist zufällig an diesen Geschichten, die doch von der Macht des Zufalls handeln, sämtliche Motive sind sorgsam miteinander verknüpft, nichts Überflüssiges wird erzählt. Erpenbeck zeigt, dass ein Leben, so wenig gegen Zufälle gefeit es auch sein mag, dennoch nicht beliebig ist, dass die unterschiedlichen Lebensläufe vielmehr unterschiedliche Möglichkeiten darstellen, mit Erschütterungen umzugehen. „Es ist ihm, als würde von allem, was er sieht und was ihm begegnet, auf einmal die Schicht abbröckeln, die ihn bisher am Verstehen gehindert hat, und er vermöchte nun endlich das, was darunter liegt, zu erkennen,“ heißt es im zweiten Buch über den Vater der Protagonistin, der sich in seiner Freizeit mit dem Erdbeben in der Steiermark 1897 auseinandersetzt. Eben diesen Gedanken hatte im ersten Buch die Mutter nach dem Tod ihres Kindes. So ist alles verbunden, über die gegensätzlichen Verläufe hinweg. Unauffällig und geschickt hält Erpenbeck an Gegenständen fest, die Knöpfe vom Mantel des Vaters, die Standuhr der Großmutter, oder die Gesamtausgabe von Goethe, bei der der 9. Band beschädigt wurde, laufen durch die unterschiedlichen Lebensgeschichten und zeigen, dass diese Geschichte trotz aller Disparität, eben doch immer dieselbe Geschichte ist. Das einzige, das in Frage gestellt wird, ist immer wieder die Endgültigkeit, das Ende aller Tage. Das einzige was wirklich feststeht, sind die Koordinaten „des Ortes (…) an dem er selbst aufhören wird zu leben.“
"Wie stolz das klingt: Ein Mensch“. Nach Vermessenheit und danach, als sei man Herr seines Schicksals. Erpenbeck zeigt, wie unhaltbar diese Illusion ist, und wie gut man aus Zweifeln und Fragen Geschichten weben kann. Und vielleicht liegt genau darin die Hoffnung, die in diesem großen Buch steckt; dass zwischen den feststehenden Koordinaten auch alles ganz anders hätte verlaufen können.
Exklusivbeitrag
Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend Roman Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 288 Seiten,13,5 x 21,5 cmISBN: 978-3-8135-0369-2
€ 19,99 Albrecht Knaus Verlag München, 2012