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Lyrikerinnen und Lyriker der Gegenwart stellen sich vor.
Ein Kessel Buntes
19.11.2012 | Hamburg
Die Tage werden kürzer, und da macht es sich der Bildungsbürger doch gerne mit einem Buch vor dem Kamin gemütlich: So etwa funktioniert die von Dirk von Petersdorff herausgegebene, pünktlich zum Weihnachtsgeschäft erscheinende und alles in allem etwas betuliche Anthologie Ein Gedicht von mir. Lyrikerinnen und Lyriker der Gegenwart stellen sich vor.
Die Zeit der großen Anthologien ist bei Reclam scheint's vorbei: Das Hartungsche Jahrhundertgedächtnis, komplementiert durch sein Prosa-Gegenstück Jahrhundertchronik, setzte in einer letzten großen Geste den schönen Traum vom Kanon fort. Seitdem geht es ins Detail, mal mehr, mal weniger beliebig: Blaue, grüne, rote Gedichte? Gedichte für Mädchen? Gedichte über Gold und Silber? Über Sinn und Unsinn solcher Anthologien lässt sich allem Einfallsreichtum zum Trotz trefflich streiten. Lobend zu erwähnen ist allerdings, dass sich bei Reclam und auch anderen größeren Verlagshäusern wie S. Fischer oder dtv die Lyrik immerhin einigermaßen regelmäßig neu anthologisiert: Fleißig, aber mit wenig Widerhall stellten Michael Lentz und Michael Opitz für In diesem Land deutsche Gedichte seit 1990 zusammen; poppig wurde es bei Thomas Kraft, der für den Band ROCK Lyrik junge Lyriker um Entgegnungen zu ihren Lieblings-Songs bat. Aber Björn Kuhligks und Jan Wagners Lyrik von jetzt? Oder Thomas Klings grandioser Sprachspeicher? Daran anzuknüpfen scheint sich momentan kein Verlag so richtig zu trauen, was sehr schade ist.
Der Einfallsreichtum im Kleinen ist währenddessen, wie gesagt, groß, und so kann man auch Dirk von Petersdorffs Idee verstehen: Für „Ein Gedicht von mir“, von Reclam zum Weihnachtsgeschäft in hübsch-betulicher Hardcover-Aufmachung herausgebracht, sollten die eingeladenen Autoren ihren repräsentativsten Beitrag selbst auswählen. Ist das eine gute Idee? Und überhaupt: Sind die besten Lyrik-Herausgeber zwangsläufig auch solche, die selber Lyrik schreiben (siehe Lentz, Kuhlig, Wagner, Kling)?
Zunächst einmal: Natürlich handelt es sich hier um ein Geschenkbuch, mit zehn Euro für 160 Seiten ein heillos überteuertes, und auch das in der kurzgefassten Einleitungssequenz formulierte Auswahlverfahren liest sich, als gehe es hier um ganz Grundsätzliches: Komm mit! Ich lade dich ein! Trau dich! Lyrik für Nicht-Lyrik-Leser. Einen einfachen Zugang zur ach-so-komplizierten Welt der Gegenwartslyrik schaffen. Das ist ja an sich nicht verkehrt als Werbung für die gute Sache. Romantik-Fans oder Balladen-Freunde erhalten mit diesem Buch die Chance, sich überhaupt erstmal damit auseinanderzusetzen, was in den Gedichten von Ron Winkler, Ulf Stolterfoht, Ann Cotten oder Ulrike Almut Sandig passiert. Vorsicht sollte man aber walten lassen, wenn man Petersdorff gleich als Doyen speziell der jungen Gegenwartslyrik denkt: Genau wie die oben Genannten hat er nämlich eben auch den guten alten Enzensberger, Michael Krüger und Jürgen Becker parat. Das spannt den Bogen weit, und je länger man durch dieses Büchlein blättert, entsteht außerdem umso mehr der Eindruck, dass Petersdorff alle abholen will: Für die Berliner ein bisschen Ron Winkler. Für die Studienräte etwas Enzensberger. Und für das Musiker-Camp – tatsächlich – Dirk von Lowtzow, Judith Holofernes und Peter Licht mit Songtexten. Die übrigens gar nicht abstinken gegen die anderen Gedichte, soviel kann man sagen. Und das ist dann wieder fast lustig: Wo findet man schon Grass und Grebe friedlich nebeneinander in einem Buch vereint?
Dass dieser ganze Band natürlich haarsträubend heterogen und gleich in zweierlei Hinsicht subjektiv (Petersdorff wählt aus, und dann wählen die Lyriker noch einmal sich selbst aus, was ja nicht immer von Vorteil sein muss – Stichwort Eigenwahrnehmung/Fremdwahrnehmung) ist, steht außer Frage. Auch provokativ, herausfordernd ist an diesem Kessel Buntes wenig (nein, auch nicht die Aufnahme von Musikern, für die sich Petersdorff meint, zu Beginn noch einmal ausdrücklich entschuldigen zu müssen). Aber wenn es über diese Art der Präsentation vielleicht zwei oder drei Lyriker unter achtzig schaffen, auch Besucher der Thalia-Non-Book-Läden zwischen edlem Schreibset und Manufaktum-Notizbüchern zu erreichen, hat sich das Sammeln vielleicht gelohnt.
Exklusivbeitrag
Dirk von Petersdorff: Ein Gedicht von mir. Lyrikerinnen und Lyriker der Gegenwart stellen sich vor. 160 Seiten, 10 Euro,
ISBN: 978-3-15-010885-7. Reclam Verlag, Stuttgart 2012.