Vor der Zeit. Korrekturen

Erzählungen

Autor:
Christoph Hein
Besprechung:
Fabian Thomas
 

Erzählungen

Back to the roots. Christoph Heins neuer Erzählungsband holt weit aus und schlägt den Boden zu einem leidenschaftlichen Plädoyer für die Unabhängigkeit des Künstlers.

09.08.2013 | Hamburg

Da ist erst einmal die Überraschung: Christoph Hein, der zuletzt in seinem scharf beobachteten Gesellschaftsroman Weiskerns Nachlass das akademische Prekariat zum Thema machte und wie nebenbei einen ungemein spannende Kunstfälscher-Krimi aus dem Ärmel schüttelte, schwenkt in seinem neuen Buch groß um und katapultiert uns zurück zu den alten Mythen Vor der Zeit.

Gewiss, der Rückgriff auf den Mythos überrascht nicht komplett: Man muss nur die westdeutsche Ausgabe von Der fremde Freund, namentlich Drachenblut, genauer anschauen; so wird nämlich die gefühlssichere Panzerung der Ärztin Claudia in Anlehnung an die Siegfried-Sage umschrieben. Und setzte Hein als kritischer DDR-Autor nicht der greisen SED-Staatsführung noch 1989 ein wenig schmeichelhaftes Denkmal in dem Theaterstück Die Ritter der Tafelrunde?

Auch in dem kleinen Erzählungsband Vor der Zeit, passenderweise bei Insel in feinem Leinen erschienen, steht ein Twistmit auf dem Programm, soll es doch um „Korrekturen“ der Mythen gehen. Was soll korrigiert werden? Warum bedarf es einer Korrektur? Eine Fährte legt der Schutzumschlag, auf dem ein Kriegerkopf aus dem Ostgiebel des Aphaiatempes zu Aigina um 480 v. Chr. abgebildet ist, mit wenigen roten Pinselstrichen versehen, eine beginnende Arbeit an der Farbrekonstruktion. Denn, wie die Archäologie heute weiß, das weiße Alabaster der antiken Statuen war nie das Schönheitsideal, als das es im 19. Jahrhundert gefeiert wurde, ganz im Gegenteil: Erst spät ausgemachte Farbreste an den Statuen erlauben die korrigierte Vorstellung von bunt bemalten, mithin umso lebensnaheren Plastiken im alten Griechenland.

Eine Korrektur also, die Götter und Helden in ein menschlicheres Licht taucht, ist das auch Christoph Heins Plan in diesem Band? Nehmen wir etwa Prometheus, bei dem es ja genau um den Konflikt Götter gegen Menschen geht: Dieser wird bei Hein zum selbstgefälligen Helden, der sich von den Menschen, denen er das Feuer brachte, feiern lässt, sie aber im Grunde verachtet – Zeus dagegen ist in dieser Version der Missverstandene, dessen Hoffnungen auf ein eigenständiges Menschengeschlecht, das einer Hilfe von Prometheus gar nicht erst bedarf, bitter getrübt werden.

Ein hübsches Spiel, ein Rollentausch also, aber warum erzählt Hein das? Schaut noch einmal auf diese Ur-Geschichten über die schöne Helena, das goldene Vlies, Herakles und Odysseus? Erwartet man von einem dezidiert politischen Schriftsteller nicht etwas mehr, noch einen weiteren Dreh?

Die Antwort gibt spätestens der fulminante Schluss dieses Bandes, ein Schlagabtausch zwischen dem heimgekehrten Odysseus und Homer, dem blinden Sänger, der als Gast eines Festmahls die Helden des Trojanischen Kriegs besingen soll. Diese Erzählung ist eine historische Metafiktion erster Güte (bedenkt man, das allein über die Frage nach der Identität Homers als Autor der Ilias und Odyssee Bände geschrieben wurden), in der Christoph Heins Erzählkunst ganz aufgeht: Nach einem Streit über die Deutungshoheit zu den Kriegsereignissen zwingt Odysseus Homer, eine neue Version seiner Gesänge anzufertigen, die weniger die Landnahme und Eroberungszüge der griechischen Helden als vielmehr die schicksalhafte Befreiung der geraubten Helena in den Vordergrund stellen sollen. Groß ist das Erstaunen, als dieser zweite Gesang dem Publikum nur müden Applaus entlockt.

Für Christoph Hein sind diese Mythen also zweierlei: Quelle für ein Erzählen, das zu den Ursprüngen zurückgeht und doch mit Gewohnheiten bricht – und Anlass für eine Reflektion über die Rolle des Erzählers als Spielball der Macht. Die Pointe, in Homers Fall, lässt er sich übrigens nicht nehmen: Odysseus wirft den ersten, abgelehnten Gesang ins Feuer. Als Homer nach Erledigung seines Auftrags nach Hause zurückkehrt, gräbt er eine Abschrift dieses Gesangs aus, die er zuvor angefertigt hat. Freilich ist dieser – laut Heins Metafiktion – bis heute verschollen, aber zumindest so viel kann darüber gesagt werden: Er ist „in der Welt“; aufgehoben, in einer weiteren Geschichte.

 

Christoph Hein: Vor der Zeit. Korrekturen. ISBN: 978-3-458-17570-4. 19.95 Euro. Suhrkamp, Berlin 2013

Fabian Thomas hat zuletzt über »Ein Gedicht von mir« herausgegeben von Dirk von Petersdorff auf Fixpoetry geschrieben.


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