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Roman
Schielen nach dem Nascheimer
05.12.2012 | Hamburg
Eine ihrer Hauptthematiken nimmt die niederländische Erfolgsautorin Anna Enquist (geboren 1945) auch in ihrem jüngsten Roman Die Betäubung wieder auf: den menschlichen Schmerz. Als ausgebildete Psychotherapeutin und Mutter, die ihr Kind verlor (ihr Roman Kontrapunkt), weiß sie, dass ein Schmerz nicht zum Verschweigen da ist. Aber wie kommt es dazu, dass in Die Betäubung außer Einblicken in Theorie und Praxis der Psychiatrie wie nebenbei ein Kompendium der Anästhesiologie mitgeliefert wird? Die Autorin erklärt es in ihrem Nachwort: Immer schon habe sie der Gegensatz beschäftigt, dass es ja Grundgeschäft eines Psychotherapeuten ist, Gefühle an die Oberfläche zu holen, während der Anästhesist Sorge trage, dass kein Empfinden auftaucht. Als ein Amsterdamer Krankenhaus sie ausdrücklich als Literatin einlud, die praktische Arbeit einer medizinischen Disziplin dort in Augenschein zu nehmen, wählte die Autorin die Anästhesie.
Und da begegnen wir dann im Roman der Anästhesistin Suzan (Ende vierzig), die anscheinend, oder etwa nur scheinbar, vergleichsweise gut zurecht kommt mit dem Verlust ihrer Schwägerin Hanna, die sie so aufopferungsvoll gepflegt hatte. Ihre Arbeit nämlich bietet ihr die nötige Ablenkung, eine Tätigkeit, die ja so konkret, so handlungsorientiert ist, in der präzise ausgeführte handwerkliche Routine mehrfach pro Tag zu den gewünschten Erfolgen führt. Außerdem kümmert sie sich nun wie selbstverständlich statt um ihre Schwägerin um ihren Bruder Drik.
Dieser dagegen, vier Jahre älter als Suzan, der Psychotherapeut, nimmt sich nach dem Tod der Ehefrau eine berufliche Auszeit, die ihm aber nur vermehrtes Grübeln einbringt. Selbstzweifel, auch an seiner beruflichen Kompetenz („Wir Analytiker sind Geschichtenerzähler, und die beste Geschichte hauen wir den Patienten um die Ohren.“) intensivieren sich, als er schließlich wieder einen Patienten annimmt. Und dieser Allard Schuurman, ein Psychologiestudent, der die obligatorische Lehrtherapie zu absolvieren hat, sich Drik aber als störrisch und im Grunde therapieunwillig erweist, wird zum Bindeglied in dem nun rasant Fahrt aufnehmenden Familiendrama.
Allard bricht das Psychologiestudium nämlich abrupt ab, wechselt zu den Anästhesisten und wird hier Suzan als Ausbilderin zugeteilt. Inzwischen hatte uns der Roman schon verraten, dass auch Suzan nicht die unerschütterliche Persönlichkeit ist, denn sie leidet an dem belasteten Verhältnis zu ihrer Tochter Roos, einem Erstsemester der Geschichte; später, als jeder Federn lässt, Kassiererin bei Aldi.
Als sie aber mit Allard eine Liebesaffäre am Arbeitsplatz startet, von der Drik schon aus Therapiegesprächen mit ihm wusste, wird das Leben für Suzan, ihren Ehemann Peter, ebenfalls Therapeut, sowie alle übrigen Familienangehörigen ungemütlich. Ob der Schluss des Buches eine Wiederannäherung andeutet? Und ob es sich überhaupt lohnt, nach einer jeweiligen Betäubung wieder zurückzukehren, in „eine unbegreifliche, grausame Welt“?
Liebhaber einer verspielt- kunstvollen dichterischen Sprache werden in diesem Buch nicht immer auf ihre Kosten kommen.
Die Handlung erscheint mitunter recht konstruiert, ein wenig reißerisch: Muss nun gerade Suzans Tochter den Allard zum Freund haben, da wir uns doch wohl in einer niederländischen Großstadt befinden; müssen die Kapitel mehrfach mit der Andeutung eines Katastrophe versprechenden Telefonanrufes enden?
Aber das Buch hat Stärken. Es ist so spannend geschrieben, dass man es nicht gerne zuklappt. Der Grund liegt darin, dass wir doch in unseren westlichen Ländern derzeit wie der Ochs vorm Berge stehen in Sachen Modellen zur „richtigen“ Lebensführung. Anna Enquist führt uns da mitten hinein: Wie wichtig sind mir mein Lebenspartner, mein Kind, meine Eltern, meine Freundin, mein Freund, meine Patienten, meine notwendigen zeitweisen Krisen all dem gegenüber?
In jedem OP-Vorbereitungsraum taucht in Die Betäubung der Nascheimer auf, ein wunderbares Symbol für die allgemeine Überforderung im Berufs- und Alltagsleben: Jeder Akteur im Krankenhausbetrieb scheint Bedürfnis nach etwas Süßem, nach (mehr) Menschlichkeit zu haben. Und das, Anna Enquist macht es deutlich, obwohl jeder so andersartig ist und deshalb auch alle Projekte zur Effizienzsteigerung in Richtung Einheitlichkeit, zumindest in diesem Krankenhaus, an ihre Grenzen gelangen.
Den Medizinbetrieb beschreibt Anna Enquist angenehm differenziert; grandios aber ist ihr Engagement bei den, mitunter allerdings kaum fiktionalisierten Schilderungen des medizinischen Krankenhausalltags, besonders im OP-Bereich, speziell für die Sparte Anästhesiologie, aber auch alle möglichen anderen.
Wer sich nach einer OP wundert, kein Zeitempfinden gehabt zu haben: Die Literatur, der Roman Die Betäubung gibt uns ein wenig zurück. Schmerzfreiheit, so eine Botschaft der Anna Enquist, ist aber wohl doch nicht ohne Gegenleistung zu haben.
Exklusivbeitrag
Anna Enquist: Die Betäubung. Roman. Hardcover, € 16,99 ISBN: 978-3-630-87400-5 Luchterhand München 2012