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Gedichte
Eine Ankunft
10.12.2012 | Hamburg
Ein letztes Mal wird auf die DDR zurückzukommen sein.
Als ich abfuhr, um eine Zeitlang in Frankfurt am Main zu leben, hatte ich unter anderem Kolbes Band Bornholm II im Gepäck. Ich suchte in der Rückschau Halt, und Halt gaben mir eben die ehemaligen Dissidenten. Wie Biermann, dessen Lieder ich als Heimatlieder vor mich hin trällerte, lebte Kolbe damals in Hamburg. Ich sah sie, sah mich als Emigranten, denn mein Bewusstsein hatte die DDR noch nicht verlassen.
Jetzt also liegt vor mir der Band : Lietzenlieder. Viel Wasser ist die Elbe … Kolbe lebt heute in Berlin, und ich lebe in Leipzig. Aber wir sind nicht zurückgekehrt.
Chapeau Uwe Kolbe! Wie sich da einer herausarbeitet aus sich selbst und souverän die Tradition als Leiter in die Freiheit einbindet, das ist einzigartig. Denn zunächst hatte ich das Gefühl, oder besser die Angst, der Band würde sich in der Rückschau genügen, in der Trauer über eine Unterdrückung, die zwar vergangen ist, aber letztlich gerade durch die Trauer am Leben gehalten wird. Die Melancholie des Sklaven. Aber weit gefehlt!
Man muss den Weg mitgehen durch diesen Band und merken, wie der Autor und der Leser auch Schritt für Schritt, Vers für Vers, Gedicht für Gedicht an Freiheit gewinnen und in einem furiosen Finale aus Sonetten, eben den Lietzenliedern aufspielen.
Man jubiliert, gewinnt Lust, atmet durch und liest den ersten Dreizeiler des Gedichtes Der Schlamm voller Genuss. Denn durch die Sphäre der Bedrohung ist man durch. Die Geschichte (DDR, erste Jahre im Westen, Besuch in Kanada) ist endlich zur Geschichte geronnen. Wir stehen mit nackten Füßen im Wasser, es mag ein gefluteter Tagebau sein, und alles Begrabene ist wieder Ursuppe geworden:
Gleich, was am Grunde hinsinkt, es wird Schlamm,
was sich erst unten findet, bildet Schlamm,
was sich so weich entrindet, will in Schlamm
Ich war an dieser Stelle der Lektüre frei, so frei, dass ich nicht nach Metaphorischem oder dem Sinn der Metapher mehr suchte. Und dabei hatte sich das gar nicht angekündigt. Durch die ersten Gedichte hatte ich mich noch mitsamt den Ketten der Herkunft geschleppt.
Noch auf Seite 24 in dem Gedicht Toronto oder das Metrische System zeigt sich die Sprache fremdbestimmt, ist ihr konstatieren auf das gerichtet, was vom Eigentlichen ablenkt. Und ihr Gegenüber findet sich nicht in der Lage, das Eigentliche zu entschlüsseln.
Statt ihr zu sagen, wie schön
sie sei, erwähne ich
meine Freude beim Anblick
der Straßenschilder in km/h
Das macht wahrscheinlich den Weltzugriff des entflohenen Sklaven aus, seine Heimat war der Knast, und wenn er auf etwas trifft, was diesem Knast ähnelt, fällt er in seine Sklavensprache zurück, und er lobt die Festigkeit der Mauern und die handwerkliche Fertigkeit ihrer Erbauer.
Ich fühlte mich an vielen Stellen peinlich an mich selbst erinnert. Das ist es nicht, was Knackis sich vom Knast erzählen, weil sie sich als Befreite in der Rückschau immer schon als Freie sehen. Aber das trifft es nicht. Nachdem die Ketten gesprengt sind, beginnt auch der langwierige Prozess der sprachlichen Befreiung. Zunächst war Freiheit uns formal gegeben worden, dann mussten wir sie Schritt für Schritt realisieren, und wahrscheinlich sind wir noch dabei. Wir haben uns aufgerichtet. Jetzt müssen wir uns dehnen und die Glieder ausschütteln.
Und was macht Kolbe?! Er legt sich neue, diesmal formale Ketten an, und schreibt Sonette. Als hielte er die Freiheit nicht aus. Was dabei aber geschieht ist einzigartig, der äußere Zwang, die Macht der vierzehn Zeilen schafft innerhalb der Texte Luft, macht Räume auf. Souveränität.
Im letzten Gedicht des Bandes Das Buch heißt es
...
ich folge seinen Sätzen, die Augenlider schälen
Schlag um Schlag den Blick,
und lege meine Hand auf jene Seite,
die ich eben las, und so ist Lesen Leben.
Exklusivbeitrag
Uwe Kolbe: Lietzenlieder. Gedichte. ISBN 978-3-10-040222-6, € 16,99 Verlag S. Fischer Frankfurt am Main 2012.