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Frühe Gedichte & Texte 1970 – 1978
Schreiben unter Beobachtung
30.11.2012 | Hamburg
Die „Aktionsgruppe Banat“, eine Vereinigung junger deutschsprachiger Autoren in Rumänien existierte in Temeswar zwischen 1972 und 1975 genau drei Jahre lang. Zu ihren Mitgliedern zählten auch Gerhard Ortinau (geb. 1953) und der fast gleichaltrige Herausgeber des vorliegenden Gedichtbandes Ernest Wichner (geb. 1952). Die Gruppe verstand sich als literarische Avantgarde, die mit ihren Texten neue Wege gehen und mit der traditionellen einheimischen Literatur brechen wollte. Vor allem widersetzten sich die jungen Leute den herrschenden Sprachregelungen und Inhalten der Ceaucescu-Diktatur, was natürlich den Geheimdienst Securitate auf den Plan brachte. Verfolgt, verhört und 1977 von der Hochschule relegiert, reiste Ortinau 1980 nach Berlin aus, Wichner war schon 1975 in die Bundesrepublik gezogen.
Foto: Gerhard Ortinau
Bei einer Veranstaltung des Münchner Literaturhauses zur Aktionsgruppe Banat
Quelle: Wikipedia
Vor diesem Hintergrund lesen sich die Gedichte und Kurztexte aus den Jahren 1970 bis 1978 von Gerhard Ortinau wie Wegweiser auf vermintem Gelände. Ortinau war zwischen 17 und 25 Jahre alt, als er diese Gedichte und Texte schrieb, in denen er sich hauptsächlich mit der politischen Situation in Rumänien, das heißt mit der ständigen Unterdrückung des Denkens auseinandersetzt. Dabei zeigt der Autor, dass er schon früh über unterschiedliche Möglichkeiten der Sprache verfügte. Mal ironisch, mal spielerisch oder auch in lyrischer Prosa schreibt er seine Texte immer so, dass deutlich wird, was er sagen möchte. Ein gutes Beispiel dafür ist das Gedicht „Paradoxon“, in dem er von jemandem erzählt, der sagt „ich kann nicht / antworten / denn ich bin stumm“. Und er schlussfolgert in der letzten Strophe: „damit hat der Mann / Politik gemacht / denn es ist hohe Politik / zu behaupten, „ich mache keine Politik“. Wie gut Securitate-Mitarbeiter das Gedicht interpretiert haben, kann man daran sehen, dass Ortinau in seiner Akte den Kommentar fand: „Exact asa este!“ Besonderen Ärger brachte ihm das Gedicht „Die Moritat von den 10 Wortarten / der traditionellen Grammatik“ ein. In den Absätzen 1. Schaltung, 2. Umschaltung, 3. Gleichschaltung stehen Wortarten für menschliche (Un)taten. Pronomen werden verhaftet, ein Verb wird in die Falle gelockt und am Schluss sind alle Wortarten gleich.
Bei aller Ironie dringt aber immer wieder der Ernst der Lage durch. So auch in dem „Abzählreim für Erwachsene, Wohnort hierzulande“. Dies ist kein Abzählreim für Kinder, auch wenn das Stilmittel der Wiederholungen die Kindersprache imitiert. Was mit „Gerhard“ geschehen sei, wird gefragt, und die Antwort lautet „gesagt hat er was / gemeint hat er was / verschwiegen hat er was / lügen wird er was“.
Auffallend ist das sich über drei Seiten erstreckende Gedicht „Die Pest“ mit dem in Klammer gesetzten Zusatz: „Nach einer Lektüre Adam Müller-Guttenbrunns“. In dem Gedicht erzählt er vom österreichisch-türkischen Krieg zu der Zeit als 1717 in Temeswar die Pest ausgebrochen war. Dabei lehnt er sich an Figuren dieses Romans an und richtet sein Augenmerk auf das Leiden und Verhalten der Menschen in einer solchen Extremsituation. In einer Art Fuge mit immer wieder auftretenden Wort- und Satzteilen wird auch hier das Thema Unsicherheit und Unbehaustheit des Menschen eindrücklich dargestellt. An Müller-Guttenbrunn kamen die jungen Dichter nicht vorbei. Galt er doch als wichtiger (konservativer) Vertreter der Literatur der Donauschwaben und der 1968 gegründete Literaturkreis in Temeswar wurde nach ihm benannt. Zu ihm zählte Herta Müller und auch die jungen Autoren der Aktionsgruppe fanden dort nach 1975 eine literarische Bleibe.
Alles in den frühen Gedichten Ortinaus ist nur scheinbar gut. „In einem verrauchten Zugabteil / Am Rande von Irgendetwas“, sieht er ein hübsches junges Paar, das sich zu lieben scheint und dessen Glück er nicht aushält, weil er unterwegs ist, um sich scheiden zu lassen. Aber: „ich sah sie / wieder / sie kamen noch vor uns dran / bei Gericht“.
„Mein Gott, ich habe noch ein Leben zu leben, und da schneit es nun.“ Auch in Ortinaus kurzen Prosatexten ist das Leben kompliziert und schafft aberwitzige Situationen. Es schneit, bis das Haus zusammenbricht, eine Familienidylle entpuppt sich als Schießübung und doch blitzen auch in diesen Texten unbeantwortete Fragen auf. „Ich habe vieles begriffen, heißt es in „Kleine Geschichte“, „nicht aber meine Eltern. Sie, die ihre Erinnerungen haben, fragen immer noch: warum?“ Mit dem letzten Prosatext schließlich in dem 34 Seiten starken Band schließt sich der Kreis. Mit viel Humor erzählt Ortinau, wie fremd er sich in den Siebziger Jahren trotz der gemeinsamer Sprache in Ostberlin gefühlt hat. „Kein rumäniendeutscher Autor fährt ungestraft nach Berlin.“ Der Text endet mit einer Vorstellung, die damals Utopie war. Der Bahnhof Friedrichstraße dreht sich, die Leute laufen in die falsche Richtung, „Ost und West gibt es nicht mehr.“
Exklusivbeitrag
Gerhard Ortinau, Am Rande von Irgendetwas.
Frühe Gedichte & Texte 1970 – 1978.
Herausgegeben von Ernest Wichner , ISBN 978-3942161-07-7, 6 €, hochroth Verlag Berlin 2010