Westfalen, sonst nichts?

Anthologie

Autor:
Hrsg: Christoph Wenzel, Adrian Kasnitz
Besprechung:
Dominik Dombrowski
 

Anthologie

Eine Bierlaune, aber keine Schnapsidee

08.02.2013 | Hamburg

Wenn man sich das Mittelfeld von Borussia Dortmund einmal etwas genauer anschaut, spielen dort mit Ilkay Gündogan, Nuri Sahin, Kevin Großkreutz und Mario Götze derzeit lauter gebürtige Westfalen. Das ist zwar nicht (immer) entscheidend, aber immerhin doch eine Überraschung bei der heutigen durchkommerzialisierten Internationalität des Fußballs, besonders nach dem Bosman-Urteil von 1995, welches zum einen besagt, dass Profi-Fußballspieler in der Europäischen Union nach Ende des Vertrages ablösefrei zu einem anderen Verein wechseln dürfen, und zum anderen die im europäischen Sport bestehenden Restriktionen für Ausländer zu Fall brachte. Ähnliches Erstaunen muss auch Christoph Wenzel und Adrian Kasnitz befallen haben, bei einem Brainstorming darüber, wie viele Lyriker merkwürdigerweise aus Westfalen stammen. „Immer wieder die Situation nach Lesungen:“, erklären die Herausgeber im Editorial „die Pils-, die Schnapstrinker bleiben übrig. So kennt man es. Aber tatsächlich ist die Idee für diese Anthologie in einer solchen Gesprächssituation nach einer Lesung in Köln entstanden: Warum trifft man immer wieder auf jüngere Dichterinnen und Dichter, die auf irgendeine Weise mit Westfalen verbandelt sind?“

 


Quelle: parasitenpresse


Nachdem die alljährliche Auszeichnung der „Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Kulturarbeit e.V.“ (GWK-Förderpreis) in der Sparte Literatur im Jahr 2011 an Adrian Kasnitz und 2012, ein Jahr später, an Christoph Wenzel ging, und beide Dichter auch gleichzeitig als Verleger der zwei kleinen aber feinen Verlage parasitenpresse und [SIC]-Literaturverlag fungieren, lag es mehr als nahe, dass sie auf die Idee verfielen, in publizistischer Kooperation  einmal zusammenzutragen, was Westfalen an Gedichten und Dichtern so zu bieten hat. Dabei hatten sie es nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, auf eine historische Anthologie abgesehen – etwa von Annette von Droste-Hülshoff bis Herbert Grönemeyer – , sondern trugen junge gegenwärtige Lyrik zusammen, insgesamt zweiunddreißig Dichter und Dichterinnen in alphabetischer Reihenfolge, Herausgeber eingeschlossen, darunter mit Nicolai Kobus, Jan Skudlarek, Dagmara Kraus, Hendrik Jackson, Sabine Scho und Hendrik Rost weitere GWK-Förderpreisträger. Und es ist bereits bezeichnend für die Sinnhaftigkeit des Unternehmens, dass – würde man in dem Buch etwa nicht den geringsten Hinweis auf den Landstrich Westfalen finden - diese Anthologie trotzdem als aktuelle Sammlung deutschsprachiger Gegenwartslyrik durchgehen würde. In diesem Sinne ist der Titel „Westfalen, sonst nichts?“ auch eher augenzwinkernd zu verstehen, die Betonung liegt also schwergewichtig auf dem Fragezeichen. Ich glaube auch, dass es den Herausgebern nicht darauf ankam, auf Teufel-komm-raus eine Westfalen-Anthologie in die Welt zu setzen, wenn sie nicht durch die Vielzahl von Könnern, die es für die Sammlung zu gewinnen gab, ermutigt worden wären.

Zudem gab es auch keine Vorgabe, dass sich die Gedichte inhaltlich mit Westfalen zu beschäftigen hätten, aber sie durften es natürlich schon, wie bei der melancholisch-ironischen Skizze „Westfälisch“ (Seite 53) des Ibbenbürers Paul Heinrich, die jene klassische lokalkolorierte Stimmung zwischen Vergänglichkeit, Wandel und trockenem Humor entwirft: „weißt du noch vor zwanzig Jahren / als die erste McDonald’s Filiale eröffnete / bei uns auf dem Dorf / direkt an der Autobahnauffahrt Richtung Amsterdam / und du hast deinen Vater dahin geschleppt / und er stand da inmitten der Neueröffnung / so passend wie ein Massivholzmöbel / in einer Raumsonde / und deiner Einladung zu einem Hamburger / entgegnete er mit zarter aber vernehmlicher Stimme / ‚lieber sterben‘ / und sein schelmischer Gesichtsausdruck mischte / sich für einige Minuten mit den besten Zutaten / für einen Showdown im Mittleren Westen“ Eine ganz andere Saite schlägt die aus Iserlohn stammende Lyrikerin Angela Sanmann an. Sie steuert der Sammlung mit den Gedichten „mandeln und mahdia“ oder „ticken“ (Seite 130/131) bezaubernde surreale Gleichnisse bei: „du hast den wecker an den baumstamm genagelt // jetzt sitzen wir davor und fragen / uns jede stunde abwechselnd nach der uhrzeit // wir wollen so genau wie möglich sein / in der bestimmung unseres kleinsten / gemeinsamen nenners“

Den Facettenreichtum der Anthologie unterstreicht schließlich der Hammenser Jan Skudlarek, der sich als ein Meister des Enjambements erweist, dessen Texte durchgängig Überraschungsmomente bergen und eine stete Spannung bis zum Ende halten: „ich leuchte im dunkeln – wie ein hirn in seinem / tank. ein kurzer moment der unachtsamkeit und / der kirchturm perforiert den himmel“ („magische pilze, sixtinische lamellen“, Seite 153) Kurz gesagt, in diesem Buch kann jeder seine Favoriten finden, aber vor allem nichts Uninteressantes. Mein persönliches Highlight sind die fünf Gedichte des Warendorfers Daniel Ketteler auf den Seiten 79-83, die mit ihrem musikalischen Drive, ihrem Ideen- und Bilderreichtum, ihrem liebevollen Sarkasmus mich zu wiederholtem Lesen animieren:


Kaum ist der Kuchen gegessen,

meldet sich auch schon ein Stück schlechtes

Gewissen. Schon beim Kauen der letzten

Bisse gemahnte mich das Goldgelb

des Apfels an ein zusammengeschmolzenes

Stückchen Biographie. Autobahnrast, Verdauung

und ein Positionswechsel zwischen zwei Rücken-

übungen. Da lag er, der Ring. Nicht

ein Name zeugt vom Karat dieser Ehe.

Nur der Uhrenmann (kaufe Altgold)

murmelt sich ein paar Franken zusammen,

in seiner tickenden Stille.

Natürlich schmelze ich das Raubgold

sofort ein, setze es um, picke Krumen,

wende Teller und schlürfe ein letztes

Tröpfchen Kaffee.
 

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