Die Schreie der Verwundeten. Versuch über die Grausamkeit.

Sachbuch/Essayistik

Autor:
Besprechung:
Elke Engelhardt
 

Sachbuch/Essayistik

Zwischen Grausamkeit und Mitleid

26.03.2013  | Hamburg
 

„Man kann unsere Lage schon analysieren, die Geschichte ist nicht unbegreiflich,“ sagte der Philosoph Slavoj Žižek in einem Interview. Genau das tut Henning Ritter in seinem neuen Buch „Die Schreie der Verwundeten.“ Er führt ein offenes Gespräch mit der Geschichte, zeigt die Wechselwirkungen von Mitleid und Grausamkeit auf, bei denen vieles direkt auf das zwanzigste Jahrhundert voraus zu weisen scheint.

Im Vorwort zitiert Ritter eine Figur aus Stendahls „Rot und Schwarz“, die sich darüber beklagt, dass man die schlimmsten Grausamkeiten begehe aber ohne Grausamkeit.

Darum wird es auch im folgenden Gang durch die Geschichte gehen, um das Paradox, wie mit zunehmender Leidenschaftslosigkeit das Ausmaß der Grausamkeiten wächst, wie es innerhalb dieser Entwicklung erstmals zum völlig gesichtslosen Töten kommt. Michelet, so Ritter, entdeckte bereits in der Französischen Revolution die Buchhalter des Terrors, wenn er schreibt: „Le vrai roi moderne: le scribe.“

„Immer ist da ein Schreiber“, erläutert Ritter, „ein Sekretär des Ungeheuerlichen, der die Namen der Verdächtigen notiert, die Akten führt, die Todesurteile ausfertigt.“

Auch die Wurzeln der Propaganda reichen in die Zeit der französischen Revolution zurück. 

Robespierre erkannte und nutzte die Macht der Sprache. „Er erfand die Meinungsmacht, die Meinungsdiktatur in seiner Person und war bis unmittelbar vor seinem Ende ihr souveräner Lenker.“

Aus Mitleid und Leidenschaft in die Nachrevolutionäre Gesellschaft Frankreichs zurückkehren, bringt das Schwierigkeiten für die Aufarbeitung des Unrechts mit sich? Um den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, waren Prozesse notwendig, in denen die Täter bestraft werden sollten. Gerade diese Prozesse belebten aber wiederum die Erinnerung an die Gräueltaten und deckten zum Teil bislang Verborgenes erst auf.

Aus diesen Gründen plädierte Benjamin Constant dafür, „die Leidenschaften der Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen“, und Politik und Moral zu trennen, um die Handlungsfähigkeit der Regierung gewährleisten zu können.

Überfordert von der Politik und nicht länger am gemeinsamen Handeln interessiert, ist es „gerade die Friedlichkeit des modernen Menschen“, die „für die zunehmende Grausamkeit der modernen Kriege verantwortlich“ gemacht werden kann.

Benjamin Constant war es auch, der die Rolle, die „Propaganda bei der Vorbereitung der Kriege der Zukunft spielen werde.“ erkannte. „Friedlichen Völkern werden Kriegsgründe und Kriegsziele präsentiert, die so unkriegerisch erscheinen wie nur möglich. (¡K) In Wahrheit dient all dies der Verschleierung der ökonomischen Interessen, die der eigentliche Antrieb der kriegerischen Unternehmungen sind.“

Der unpolitische, grausame Mensch hat wiederum seine Wurzeln in der Demokratie, die Alexis de Tocqueville in mehreren Studien untersuchte.

„Die Demokratie schafft kein starkes Band zwischen den Menschen, aber sie erleichtert ihren Umgang miteinander“, konstatiert er und sieht das besondere Problem der Demokratie darin, dass ihre Bürger weder dem Gehorsam huldigen, noch Verantwortung übernehmen wollen.

Wie steht es in dieser Gesellschaft mit dem Mitleid? Auch hier gibt es keine eindeutigen Antworten, vielmehr gehen auch hier Grausamkeit und Mitleid Hand in Hand. Während die Sklavenbefreiung wesentlich durch den ersten „Konsumboykott aus moralischen Antrieben“, dem Zuckerboykott Großbritanniens, befördert wird, fragt sich Schopenhauer bei der Analyse von Zeitungsnachrichten: „Wie ist es möglich so ganz ohne Mitleid zu sein?“

Dass es Mitleid nur geben kann, wenn die „Schreie der Verwundeten“ wahrgenommen werden, ist für Henri Dunant, den Gründer des Roten Kreuzes, Anlass, bei seiner Schilderung der Schlacht von Solferino besonderes Augenmerk auf die „verborgene Welt“ der Verwundeten, der Leidenden zu legen. Bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung seines Berichtes, findet die erste Rot-Kreuz Konferenz statt.

Ähnlich pragmatisch sieht Charles Sanders Peirce, der William James maßgeblich beeinflusst hat, Armut und Elend. Die Moral einer Gesellschaft bemisst sich seiner Meinung nach daran, wie gut Arme und Leidende wahrgenommen werden. Folgerichtig lautete das Frühwarnsystem innerhalb seiner Ethik: „Der Philosoph weiß lediglich, daß er, wenn er einen schlimmen Fehler macht, von dieser Tatsache durch die Schreie der Verwundeten bald in Kenntnis gesetzt wird.“

Darwin, entdeckt nicht nur die Einheit der menschlichen Spezies, sondern auch die Unterlegenheit des menschlichen Geistes gegenüber den Prozessen der Natur. Angesichts der Umwälzungen, die das von ihm entdeckte Weltbild mit sich bringt, fällt der berühmte Satz: „Genauso gut könnte ein Hund über den Geist Newtons spekulieren.“

An die Stelle des Bildes des Menschen als Krone der Schöpfung, tritt nun die Überlegenheit der „zivilisierten Rasse.“ Der ungebrochene Fortschrittsglaube der Zeit tat ein Übriges, um diejenigen Völker, die sich am weitesten von der Natur entfernt hatten, als die überlegeneren zu begreifen.

Am Ende wird deutlich: Moral ist nur „ein Dialekt“ in der „Hochsprache der Evolution“.

Die Geschichte ist nicht unbegreiflich, hatte ich Slavoj Zizek am Anfang zitiert, ohne den zweiten Teil seiner These zu benennen. „Unbegreiflich ist nur, welche Rolle wir selber darin  spielen.“

Genau das hat Ritter mit seinem „Versuch über die Grausamkeit“ gezeigt. Die Geschichte ist analysierbar, man kann an vielen Punkten sehen, wie viel aus der Vergangenheit bereits in die Gegenwart bzw. die jüngste Vergangenheit vorausgewiesen hat, unwägbar und unverständlich bleibt dabei die Rolle des Menschen, seiner Grausamkeit, seines Mitleids.

Lernen lässt sich aus diesem Buch, wie wenig die Menschheit nach wie vor aus der Geschichte zu lernen in der Lage ist, und dass weder Mitleid noch Kultur ausreichen, um die Schreie der Verwundeten verstummen zu lassen.

 

Exklusivbeitrag

Henning Ritter. Die Schreie der Verwundeten. Versuch über die Grausamkeit.
Sachbuch/Essayistik. ISBN 978 3 406 64556 3. 19,95 Euro. C.H. Beck München 2013.

Elke Engelhardt hat zuletzt über »Freuds Schwester« von Goce Smilevski auf Fixpoetry geschrieben