Winter in Prag

Erinnerungen an meine Kindheit

Autor:
Madeleine Albright
Besprechung:
Barbara Zeizinger
 

Erinnerungen an meine Kindheit

Ich wünschte, meine Eltern hätten es mir erklärt. Madeleine Albrights gründliche Spurensuche nach ihrer jüdischen Vergangenheit

21.04.2013 | Hamburg

Madeleine Albright, die ehemalige amerikanische Außenministerin unter Bill Clinton, war schon 58 Jahre alt, als sie erfuhr, dass sie aus einer jüdischen Familie stammt und ihre Großeltern und andere Verwandte im Holocaust umgekommen sind. 1937 als Madlenka Korbelová in Prag zur Welt gekommen, hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt an ihre katholisch-tschechischen Wurzeln geglaubt.

„Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg“ lautet der Untertitel ihres Buches, das die Zeit von 1939 bis 1948 behandelt. Das Spannende an ihrer Darstellung ist, dass die Spurensuche nach ihrer eigentlichen Identität viele persönliche Aspekte und detaillierte Schicksale enthält, diese aber nie isoliert, sondern stets im Kontext der historischen und politischen Ereignisse betrachtet werden.

Strenggenommen sind es zwei Erzählungen, die sie miteinander verbindet. Zum einen die aufregende Geschichte ihrer Familie. Der Vater war Diplomat, bewegte sich unter Staatspräsident Edvard Beneš in höchsten Regierungskreisen, die Familie folgte Beneš ins Exil nach London und kehrte 1945 mit ihm zurück. Doch bald vertrieb der Stalinismus Korbels erneut aus Prag und 1949 zogen sie endgültig in die USA.

Die andere Erzählung handelt von der Geschichte Tschechiens und der Tschechoslowakei im Strudel der Geschichte. Von dem kleinen Land, das immer um seine Selbständigkeit kämpfen musste und dabei oft unter die Räder der mächtigen Nachbarn geriet. Dabei blickt die Autorin weit zurück. König Wenzel, Jan Hus und der von ihr verehrte erste Staatspräsident nach 1918 Tomáš Garrigue Masaryk sind nur einige Stationen. Von 1940 bis 1948 war Masarys Sohn Jan Außenminister, erst der Exilregierung und dann in der unsicheren Nachkriegszeit in Prag. Während des Machtkampfes zwischen Stalin und den demokratischen Parteien kam er unter ungeklärten Umständen ums Leben. Albrights Antikommunismus verrät sich übrigens manchmal in einer unfreiwilligen Komik. So schreibt sie über einen tschechischen Nachbarn in London, er sei Kommunist gewesen, aber ein netter.

Madeleine Albright wurde 1937 geboren, ein Jahr vor dem Münchner Abkommen, das bekannterweise nicht nur die Tschechoslowakei verriet, sondern auch als Beginn von Hitlers Grenzüberschreitungen gilt. Für Albright ist das Münchner Abkommen der Sündenfall schlechthin. „Eine unfähige Führung lässt sich zweifellos so definieren, dass jemand ein Ziel erreicht, dafür das Verdienst beansprucht und schon wenige Monate später jedes einzelne Wort zurücknehmen lässt“, schreibt sie über Chamberlain. Aber auch Beneš wirft sie vor, dass er das Diktat von München angenommen hat.

Der Überfall der Deutschen in der Tschechoslowakei nimmt den größten Raum des Buches ein und in diesem Zusammenhang kommt sie naturgemäß auf das eigentliche Thema ihrer jüdischen Familiengeschichte zurück. Zweimal besichtigt sie Theresienstadt, eine Stadt, die ursprünglich nach Kaiserin Maria Theresia benannt wurde und für viele jüdische Menschen das Durchgangslager in den Tod bedeutete. Inzwischen weiß Madeleine Albright, dass darunter auch ihre Großmutter war. Mehrmals führt sie aus, dass ihrer Meinung nach Entscheidungen oft nicht gewollte Folgen nach sich ziehen können. Dennoch heißt sie das Attentat auf Heydrich als Zeichen der Unbeugsamkeit des tschechischen Volkes letztlich gut, obwohl die Strafaktionen viele unschuldige Menschen traf, auch ihre Großmutter: „Am 9. Juni 1942, dem Tag, an dem Heydrich beerdigt und Lidice zerstört wurde, stieg Růžena Spiegelová in Kolin bei Poděbrady in einen Zug, der sie nach Theresienstadt fuhr. Jahre zuvor hatte sie einen Laden gehabt und ihren Kunden versichert, dass der Kaffee ihrer Familie der beste in ganz Böhmen sei.“

In Albrights Bewertungen fließen natürlich ihre Erfahrungen als Politikerin ein, die sie in ihrem Buch auch manchmal direkt mitteilt. Als Demonstranten sie 2012 bei ihrer Buchvorstellung in Prag mit serbischen Bombenopfern aus dem Kosovokrieg konfrontierten, verteidigte sie sich mit der Begründung, die USA hätten etwas gegen Milošević und seine ethnischen Säuberungen unternehmen müssen. Eine Haltung, der sie sich auch bei der Frage der Vertreibung der Sudentendeutschen nach dem zweiten Weltkrieg treu bleibt: Keine Kollektivschuld, keine ethnischen Vertreibungen, denn: „umso mehr weil multiethnische Kooperation noch heute für den Erfolg demokratischer Staaten auf der ganzen Welt entscheidend ist.“

Für sie ist Geschichte stets damit verbunden, wie Menschen handeln. Immer wieder kommt sie auf Menschen zu sprechen, die in schwierigen Situationen Entscheidungen treffen mussten. Wie beispielsweise die Frau, die Heydrichs Attentäter versteckte, was ihre ganze Familie mit dem Tod bezahlte. „Ich persönlich empfinde Verachtung für die echten Verräter und uneingeschränkte Bewunderung für die Helden, die sich für eine mutige Handlungsweise entschieden“, schreibt sie in diesem Zusammenhang.

Grundsätzlich bemüht sie sich aber bei der Beurteilung von Verhaltensweisen gerecht zu sein. Über den von Hannah Arendt kritisierten Judenrat in Theresienstadt sagt sie: „Die Auswahl der Opfer brachte die jüdischen Führer in ein schreckliches moralisches Dilemma. Und fügt hinzu: „Wie sollte man an so einem Ort den Unterschied zwischen richtig und falsch erkennen?“

„Warum treffen wir bestimmte Entscheidungen? Diese Frage nennt die Autorin als Leitmotiv ihres Buches. Sie lässt uns teilnehmen an der Suche nach ihren Wurzeln und hat dabei ein sehr persönliches und gleichzeitig ausführliches Buch über das Land ihrer Geburt geschrieben. Als ehemalige Außenministerin stand ihr natürlich ein ganzer Stab Mitarbeiter zur Verfügung, der für sie recherchieren konnte. Viele Freunde, darunter Václav Havel, halfen bei der Suche nach Dokumenten. Nur die Frage, die sie am meisten umtreibt, konnte ihr niemand beantworten: Warum ihre Eltern ihr die jüdische Herkunft verschwiegen haben.


Exklusivbeitrag

Madeleine Albright, Winter in Prag. Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg. In Zusammenarbeit mit Bill Woodward Übersetzung: Norbert Juraschitz ISBN 978-3-88680-988-2, 18,95 €, Siedler Verlag München 2013

Barbara Zeizinger hat zuletzt über »Toronto« von Luc Bondy auf Fixpoetry geschrieben.