Körper: ein Handbuch

Gedichte

Autor:
Ricardo Domeneck
Besprechung:
Elke Engelhardt
 

Gedichte

Die Rückkehr der Körper in die Gedichte. Ricardo Domenecks »Körper: ein Handbuch»

29.04.2013 | Hamburg

Einen merkwürdig anmutenden Titel: „Körper: Ein Handbuch“, trägt der erste Gedichtband, der von Ricardo Domeneck in deutscher Übersetzung vorliegt. Es ist sein insgesamt sechster Gedichtband, und gleichzeitig der erste in deutscher Übersetzung. Der Titel allerdings klingt weder auf Portugiesisch noch auf Deutsch besonders poetisch. Und doch ist es genau der richtige Titel für diesen Gedichtband des brasilianischen Dichters, der seit 2002 in Berlin lebt und arbeitet. Für die deutsche Übersetzung ist Odile Kennel zu danken, die auch das Nachwort verfasst hat, in dem sie bekennt, selten eine so anregende Übersetzungsarbeit gemacht zu haben. Das Ergebnis ist jedenfalls ganz und gar überzeugend. Laut Ricardo Domeneck sind die Übersetzungen sogar besser als die Originale.

Aber reden wir zunächst über das Thema des Buches, das, wie unschwer zu erraten sein dürfte, der Körper ist: „Seit der Aufklärung haben die Menschen vergessen, dass sie einen Körper haben“, sagt Ricardo Domeneck. Deswegen macht er ihn zum Thema.

Thomas Kunst bedauerte 2004: „Es wird nicht mehr gestaunt. Es wird sich nicht mehr gewundert. Aber es werden Nachmittagsseminare belegt. Es wird geforscht. Aber schon längst ohne Körper.“

Angesichts Ricardo Domenecks Gedichten ist dieser durchaus berechtigte Vorwurf haltlos. Hier ist ein Dichter am Werk, der Grenzen auflöst zwischen Wort und Bild, Geist und Körper. Ein Dichter, bei dem selbst die Übersetzung eines Gedichtes zu einer erotischen Übung wird. Für Domeneck sind weder Sprache noch Dichtung abstrakt, ebenso wenig wie man Dichtung vom Kontext, in dem sie entsteht und aufgeführt wird, trennen kann.

Seine Überzeugung, dass eine Trennung von Geist und Körper „ungesund“ sei, findet ihren Niederschlag nicht zuletzt darin, dass Domeneck mit unterschiedlichen Medien und mit Performances arbeitet. Er will neben den Ohren auch die Augen ansprechen. 

Bereits im ersten Gedicht des Bandes („Hoch lebe die reine Poesie“) macht Domeneck seine Position, seinen Standort, deutlich. Ironisch behandelt er die Trennung von konkreter und abstrakter Dichtung und verleiht seiner Überzeugung Nachdruck, dass die konkrete Erfahrung wichtiger ist als die großen Ideale.

Als Kostprobe der Gedichte Domenecks, habe ich das Gedicht ausgewählt, das mich persönlich am meisten berührt hat:

 

         Ìsis Dias de Oliveira (1941 - ?)

 

         Vielleicht

         würde sie sich gerade

         langweilen an einem Sonntag

         hätte den Blues

         auf dem Sofa, oder schliefe

         geschieden, vielleicht.

         Vielleicht würde sie

         mit den drei Kindern

         die sie nie bekam

         in einer Einzimmer-

         Mietwohnung leben, glücklich

         oder unglücklich

         wie man eben so ist, vielleicht.

         Vielleicht zöge sie

         in dieser Minute

         in der Sonne ihre abgenutzten

         Lieblingsschuhe an

         der Freundin stibitzt

         mit der sie verstritten wäre

         vielleicht. Vielleicht hätte

         der Selbstmord sie längst

         geholt, hätte sie schon

         den zweiten Mann, eventuell

         auch eine Kugel Eis, vielleicht.

         Sie würde sich kugeln

         vor Lachen vielleicht

         beim Erzählen eines schlechten

         Witzes, den ihre Freunde

         schon nicht mehr

         hören könnten. Vielleicht

         würde sie fragen, warum

         sie dieses Leben, diesen Kampf

         geführt hat, wenn kein

         besseres Land

         herauskam als dieses.

         Vielleicht wäre sie emigriert

         wäre heiter in einem anderen

         Klima, einer anderen

         Sprache, vergessen

         die Bewegung

         der Untergrund, vielleicht.

         Ihre Finger wären vielleicht

         voller Druckerschwärze

         von der Morgenzeitung

         die vielleicht

         wie früher

         lügen würde

         und das Schwarz

         färbte ab auf die weiße

         Keramiktasse, so wie

         Materie von Materie

         auf Materie übergeht

         sofern lebendig

         vielleicht.

 

 

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