Gibraltar

Roman

Autor:
Sascha Reh
Besprechung:
Simone Trieder
 

Roman

Familienaufstellung um ein scheues Reh. »Gibraltar» von Sascha Reh.

09.05.2013 | Hamburg

Es wird oft beklagt, dass Gegenwartsautoren einen Bogen um die großen gesellschaftlichen Probleme machen. Zum Beispiel: die Finanzkrise. Sascha Reh ist einer der wenigen, der es wagt, sich mit dem Geld beziehungsweise dessen Nichtvorhandensein zu beschäftigen. Sein Roman „Gibraltar“ kreist um eine Bank, allerdings eine Bank der aussterbenden Art, sie ist ein traditionelles Familienunternehmen. Sascha Reh ist Familientherapeut und so gerät „Gibraltar“ unversehens Kapitel für Kapitel zu einer Familienaufstellung.

In einer Szene sitzt eine Familie in Spanien in einer billigen Pizzabude und keiner hat Geld, um die Rechnung zu begleichen. Vater Bernhard  ist Investmentbanker auf der Flucht, weil er sich schwer verzockt hat. Seine Frau Carmen hat zuhause zwar die teuerste Küche, die man kriegen, die jedoch niemand bedienen kann. Die Tochter Valerie hat Schulden und nimmt an einem Entschuldungsprogramm teil. Der dann doch die Pizzarechnung begleicht, ist Thomas. Thomas ist der Sohn des Inhabers der Privatbank Alberts. Die nun pleite ist, der Inhaber Johann liegt nach einem Herzinfarkt im Sterben. Verursacht hat die Pleite Bernhard, der Ziehsohn Alberts mit Leerankäufen griechischer Staatsanleihen. Weil er risikobereit ist und ehrgeizig setzte der Bankhausinhaber ihn  an die Stelle des Sohnes und ließ ihm freie Hand. Sohn Thomas wollte nicht in das Bankgeschäft einsteigen, ist aber als Erbe pro forma im Vorstand.

Wie erstarrt die Familienbeziehungen sind, zeigt, dass Thomas eine Vorstandssitzung nutzt, um den Vater etwas ganz Privates zu fragen, nämlich warum der Vater sich in Thomas Liebesbeziehung einmischt. Was er nicht weiß, der Vater selbst hat ein Verhältnis mit der Quasi-Schwiegertochter. Die dann einen Sohn bekommt, von dem man nicht weiß, ist der Vater Thomas oder Johann.

Was passiert: Bernhard hat das Kapital der Bank verzockt und ist verschwunden. Johann bekommt einen Herzinfarkt. Die Familie versammelt sich an seinem Krankenbett und später in seinem Haus. Thomas und Valerie fahren nach Spanien, wo sie Bernhard vermuten. Er hat auf ein geheimes Offshore-Konto 40 Millionen überwiesen, die eigentlich an Alberts Kunden gehen sollten. In den leerstehenden Häusern einer Investruine dicht an der Grenze zu Gibraltar hält er sich versteckt, wird aber von afrikanischen Flüchtlingen entdeckt. Bei einem Überfall wird ihm die Kreditkarte abgenommen und unter Lebensgefahr die Pin erpresst. Auch seine Frau Carmen reist ihm nach, gemeinsam klauen sie Thomas` Auto, sie schleust Bernhard im Kofferraum über die Grenze nach Gibraltar, wo Carmen begreift, dass Bernhard zwar 40 Millionen auf der Bank hat, aber niemals herankommen wird, da übergibt sie ihn der Polizei.

Sascha Reh lässt die Familienmitglieder sprechen: Thomas, der „Ratgeber“, wie er sich nennt, weil er nicht Therapeut heißen darf, Valerie, die er vor Jahren behandelt hat und die einen Selbstmordversuch unternommen hatte, für den er sich verantwortlich fühlte. Bernhard auf der Flucht, Johann spricht im Sterben in Gedanken mit jedem Familienmitglied. Carmen, die gern bei Blinddates Unbekannte trifft und dabei zufällig einmal ihren Ehemann Bernhard erwischt. Helene, die Frau Johanns, die einer Stiftung vorsteht, die in Schwierigkeiten geratenen Jugendlichen hilft, wie Valerie.

Reh erzählt im Personalstil nicht chronologisch, jeder der Beteiligten hat seine Sicht, dabei tun sich für den Leser einerseits reizvolle Lücken auf, aber er hat andererseits auch Mühe, das Gesamtbild zu erstellen. Das vielfältige Beziehungsgeflecht durchleuchtet Therapeut Reh ausführlich, überall deckt er den verborgenen Zündstoff auf, die Unfähigkeit Carmens mit der Tochter umzugehen. Als die Dreijährige sich weigert sich anzuziehen, setzt Carmen das Kind im Schlafanzug aufs Rad, es kommt blaugefroren im Kindergarten an. Selbst die Anzeige, vermutlich durch eine Kindergärtnerin, kann sie niederschlagen. Valerie wird dafür ihr Leben lang frieren. Als der kleine  Bruder am plötzlichen Kindstod verstirbt, ist Valerie in seiner Nähe und ihr Stiefvater wird ihr immer die Schuld daran geben. Valerie geht zur Therapie und zu einem Entschuldungsprogramm. Obwohl ihr kaum etwas bleibt, wird ihr geraten, einen „magischen Zehneuroschein“, nicht auszugeben. Als sie ihren Stiefvater in Südspanien völlig pleite antrifft, bittet er sie um Geld für Zigaretten. Sie antwortet, dass er sich doch eine von ihrem Tabak drehen soll. Doch er mag den „Krümelscheiß“ nicht. „Und während sie noch darüber nachdenkt, ob beziehungsweise warum sie ihn den Zehner auf keinen Fall geben wird, hat sie es schon getan.“  Dann dreht sich Bernhard eine Zigarette von ihrem Tabak.

Man könnte meinen, Sascha Reh weiß zu viel über die Abgründe zwischen den Menschen, soviel Unausgesprochenes Widersprüchliches, so viel menschlichen Müll häuft er zwischen den Familienmitgliedern an. Und jede zwischenmenschliche Konstellation ist mit Geld verklebt oder in ihr knirscht das nicht vorhandene Geld.

An einer Stelle erklärt Johann seiner Tochter das Selbstverständnis einer Bank, aus seiner Sicht, der einer Privatbank: Die Fortschritte der Menschheit hätten ohne Banken nicht stattgefunden, sie gaben den Erfindern Edison, Bell und Ford das nötige Geld für Experimente und Forschung. Die Tochter begegnet diesem Selbstverständnis aus dem 19. Jahrhundert mit der Realität von heute: überteuerte Kredite an Entwicklungsländer, gigantisch überbezahlte Berater, Bankenrettung. Sohn Thomas hat in der Geschichte der Familienbank jüdische Vorbesitzer gefunden, die zur Zeit des Nationalsozialismus enteignet worden waren. Auf alles hat Vater Johann eine Antwort, die die Kinder nicht zufriedenstellt. „Das Kapital ist ein scheues Reh“, diesen vielzitierten Satz von Karl Marx sagt ausgerechnet Bernhard, als er Johanns Bank ausgeraubt hat, aber an das Geld nicht herankommt.

Warum wählte Sascha Reh Gibraltar, das von Symbolen aller Art nur überquillt, dass man sich kaum entscheiden kann. Ist es das „non plus ultra“, das Herakles auf Gibraltar mit Säulen markierte – non plus ultra – wörtlich: nicht mehr weiter, nach griechischer Mythologie das Ende der Welt? Heute wird diese Redensart im Sinne von – etwas Besseres gibt es nicht – verwendet. Ist es der Doppelsinn des Geldes?

Die Geschichte geht leider weiter, weil Carmen im Flugzeug angetrunken einem völlig Unbekannten ihre ganze Geschichte erzählt, auch (der Leser bekommt das nun zum vierten Mal serviert) dass sie bei einem Blinddate ihren Mann getroffen hat. Doch der Unbekannte ist Journalist und ergreift Partei für die Loser der Familie, für Thomas und Valerie. Seine „Artikel“ rahmen den Roman ein. Abgesehen davon, dass es schwer nachvollziehbar ist, dass Carmen einem Unbekannten alles erzählt, bekommt die sonst sehr lesenswerte Familienaufstellung um ein scheues Reh letztlich einen unnötigen Weltverbesserungstouch.


Exklusivbeitrag

Sascha Reh: Gibraltar. Roman. Gebunden 460 Seiten. 22,95 Euro. ISBN: 978-3-89561-086-8. Schöffling & Co  Frankfurt am Main 2013

Simone Trieder hat zuletzt über »Der amerikanische Architekt» von Amy Waldman auf Fixpoetry geschrieben.