Alcyone

Lobgesänge des Himmels, des Meeres, der Erde und der Helden

Autor:
Gabriele d’Annunzio
Besprechung:
Tobias Roth
 

Lobgesänge des Himmels, des Meeres, der Erde und der Helden

Phantastisch kostbarer Bombast. »Alcyone« von Gabriele d'Annunzio

05.06.2013 | Hamburg

Das Haus von Gabriele d’Annunzio oberhalb von Salò, in Gardone, am Westufer des Gardasees, liegt nicht nur in einem umwerfend schönen Hanggrundstück, ist nicht nur ein umwerfend geschmackvolles Ensemble von Gebäuden, Wegen und Formen, es ist, soweit ich sehen kann, der übermütigste Zeichenkörper, den je ein Mensch zu bewohnen gewagt hat. Ein Spaziergang durch dieses Anwesen schließt Anblicke auf, die mit Händen greifen lassen, wie ein Ästhetizismus, ein Symbolismus geradezu zwangsläufig in einen Surrealismus münden. Man muss nur geradewegs formulieren was sich da sehen lässt: Da steht, jenseits eines Bächleins und eines terrassierten kleinen Nutzgartens, inmitten der Bäume ein Kanonenboot, zur Hälfte in den Hang eingemauert. Und überhalb eines Tempelchens für ein Torpedoboot liegt auf der Hügelkuppe das Mausoleum des Meisters, umringt von den Gräbern seiner Getreuen, ein Monument, das der Phantasie eines Comiczeichners aus den 70er-Jahren entsprungen scheint, der die Geschichte von König Arthus und seiner Tafelrunde in eine ferne Zukunft und auf einen fernen Planeten verlagert hat. Dann betritt man das Haus. Da lagern freilich mehr Bücher als in einer mittleren Universitätsbibliothek. Da ist ein Zimmer, nur der Korrespondenz vorbehalten, dessen Wände mit einem geklauten, gotischen Chorgestühl verkleidet sind. Da hängt ein kompletter Doppeldecker von der Decke, mit dem der Hausherr im Krieg unterwegs war. Da stapeln sich Buddhastatuen neben mittelalterlichen Kruzifixen. Da gibt es verschiedene Eingänge für willkommene und unwillkommene Gäste. Neben einem Klavier, auf dem Franz Liszt gespielt haben soll, steht ein irrwitzig kunstvoll gedrechseltes Tischchen, darauf ein Deckchen, darauf eine antikische Figurine, umschlungen vom Schal irgendeiner berühmten Sopranistin, behängt mit einem Rosenkranz aus Assisi, daneben eine getrocknete Blüte, und an der Figurine lehnt das Lenkrad des Motorbootes, das einen Freund des Dichters bei irgendeinem (erfolgreichen) Weltrekordversuch vom Leben in den Tod beförderte. Da sind manche Fenster nicht aus Glas, sondern aus hauchfein geschliffenem Alabaster. Mit wenigen Schritten tritt man von einer Sakristei in ein Prager Jugendstilkaffeehaus, vom Keller eines anatomischen Instituts in eine orientalische Badeanstalt, und in so ziemlich alle Schwellen und Balken sind Verse geschnitzt und auf so ziemlich allen kostbaren Gegenständen liegen noch andere kostbare Gegenstände. So geht es durch viele hundert Quadratmeter. Da steht der Bronzeabguss der Hausschildkröte auf der Tafel im Speisesaal als Symbol der Mäßigung.

Da kommt man schon als Ausflügler dem Wahnsinn nahe. Über das Schreibzimmer des Dichters, in dem d’Annunzio angeblich siebenundzwanzig Stunden am Tag verbracht hat, habe ich indessen noch kein Wort verloren – und werde es auch nicht tun; die schweifende Phantasie des Lesers soll sich damit beschäftigen, während sie vom in den Hang gesprengten Amphitheater über dem See die Zypressenallee zum Haupteingang hinaufschlendert. Ich könnte mich noch in unzähligen Details dieses Anwesens verlieren, aber ich denke, es dürfte ein Eindruck entstanden sein, mit was für einem Temperament wir es bei d’Annunzio zu tun haben. Alles spricht, jede Kleinigkeit; muttersprachlich ästhetizistisch. Die hohe Dichtergestalt als ein Zentralgestirn, das alle Zeichen an sich saugt und dabei nichts als die eigene Supernova ersehnt. Mehrmals schon hatte ich dieses Haus besucht, ohne eine Zeile von d’Annunzio gelesen zu haben, und lange verspürte ich auch kein Bedürfnis danach, es genügte mir völlig an dem Versuch, dieses Haus zu entziffern. Aber dass es sich lohnt, hat sich bald gezeigt. Es entspricht sich. Weniges scheint so aufschlussreich über den Irrsinn des frühen 20. Jahrhunderts zu handeln, über seine politischen wie moralischen Brutalismen und Idiotismen, seinen sektlaunigen Übermenschentotentanz, seine absurde Kombination von altväterlichen Denkgebäuden und elektrifizierten Produktionsmitteln, seine wildgewordene theatralische Bildung. Zur Allegorie geneigt könnte man die These aufstellen: das ist d’Annunzios Haus in Gardone, das ist der Typ, die Gedichte, die er schrieb, bevor er dieses Haus ausgestaltete. Voller Widersprüche – aber niemals halbe Sachen. Politisch agitatorischer Ästhet, Salonlöwe und Weiberheld, ein gebrechlicher Hypochonder vor dem Herrn, ein kommunistischer Nazi, vielleicht, oder andersherum, man zähle alles auf, was einem einfällt. Er lädt zur Spekulation ein, lädt ein, einige strotzendblühende Schwachsinnigkeiten mit ihm zu teilen, einige Verantwortungslosigkeiten; man stelle sich vor, auf den Tisch kommen nur Getränke, die älter sind als der durchschnittliche deutsche Familienstammbaum, und Gerichte, deren Namen kein Christenmensch aussprechen kann. Und man wird sich nie sicher sein können, ob man durch den Eingang für willkommene oder für unwillkommene Gäste hereingebeten wird.

Jedenfalls, damit ich nach fast 700 vagen Wörtern auch einmal etwas nützliches sage: Gabriele d’Annunzios (1863-1938) zwischen 1899 und 1903 geschriebener Gedichtband Alcyone ist nach einer langen, verdienstvollen Arbeit in der Übersetzung von Ernst-Jürgen Dreyer, Geralinde Gabor und Hans Krieger im Berliner Elfenbein Verlag erschienen. Lange, verdienstvolle, titanische Arbeit: es ist „nur“ ein Gedichtband (der wiederum mit anderen Bänden einen Zyklus formt), aber in zweisprachiger Präsentation, umringt nur vom nötigsten an Kommentar und Nachwort, umfasst der Band 500 Seiten. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. 250 Seiten voll mit italienischen preziösen Versen, die einen durch den Ausgang für undankbare Leser wieder hinausschicken, wenn man sie sich nicht je einzeln auf der Zunge zergehen lässt. So etwas wie die Selbstmordwelle nach dem Jungen Werther – ich glaube, das wäre d’Annunzios Paradies gewesen. Das geht, man ahnt es, aus vielen Gründen an die Grenze der Lesbarkeit, macht aber, man ahnt es, auch einen vorsemantischen Heidenspaß.

Erläuterungen erhofft man von Nachwort und Kommentar. Eine angenehme Portion bildet das werkbiographische Nachwort der Übersetzer. Mit vielen Textbeispielen aus anderen Werken angereichert, mit intimer Kenntnis verfasst, nimmt das Nachwort auch, wie es im Falle d’Annunzios nur gerecht erscheint, vor allem das frühe und mittlere Werk gegen das spätere Leben in Schutz; eine gelungene Einführung. Zudem erläutert das Nachwort konzise die vertrackte Gliederung der „Alcyone“, zwischen vier Dithyramben als Gravitationszentren und voll mit magnetischen Gedichtpaarungen, erläutert zudem die hauptsächlichen Anspielungsräume und reißt den Horizont der Vieldeutigkeiten auf, die unmöglich zu übersetzen sind. Überraschend karg fällt dagegen der Stellenkommentar aus. Dort führen zudem Querverweise ins Leere. Kein Kommentar kann sich wohl der Vollständigkeit rühmen, aber die vielleicht fünfzig Seiten mehr (nun sind es insgesamt bloß zehn), die ein etwas genauerer Stellenkommentar benötigt hätte, wären gut investiert gewesen. So finden sich einige Lücken, die man durchaus bekritteln kann, nämlich dann, wenn das Nachwort selbst immer wieder die Bedeutung Ovids für den Band betont, andrerseits aber ein motivisch höchst einschlägiger, lateinischer Gedichttitel nicht als Ovidzitat aus der Phaeton-Metamorphose ausgewiesen wird: Stabat nuda aestas, nackt stand der Sommer. Wie aber kommt dem die Übersetzung bei?

Auf Wagnis und Verdienst dieser Übersetzung wurde bereits hingewiesen. Und auch im Einzelnen gelingt sie, da sie sich weitestgehend und nach möglich recht treu an das Original schmiegt und immer wieder kluge Lösungen findet. So etwa in jenem Stabat nuda aestas, dem Binnenprolog vor dem dritten Ditirambo, dessen Schlussverse so nachgebildet werden: Distesa cadde tra le sabbie e l’acque. / Il ponente schiumò ne’ suoi capegli. / Immensa apparve, immensa nudità. – Lang fiel sie nieder zwischen Sand und Wasser. / Der Westwind schäumte auf in ihren Haaren. / Grenzenlos schien sie: grenzenlos nackt. Die Treue hält dabei Schlaglöcher für die Übersetzer bereit. Wo gerade noch der Plural sabbie im Deutschen verständlich und gängig als Singular Sand übersetzt wurde, heißt es im anschließenden Ditirambo III wenig schmiegsam der Wellen, der Sände für dei flutti e delle sabbie. Wie könnte es anders sein: es gelingt mal mehr, mal weniger, aber ersteres überwiegt. Obwohl die Reibungsverluste groß sind. Im Nachwort ist sehr treffend die Rede von einer „Sprache, die Wörter verschiedenen Seltenheitsgrades, verschiedener Kostbarkeit und verschiedenem Patinierungsstadiums gegeneinander abwägt“. Der Wortschatz d’Annunzios ist bombastisch. Dazu kommt ein weitschwingendes, verzweigtes Anspielungssystem, das naturgemäß hauptsächlich im Italienischen funktioniert und folglich kaum übersetzt werden kann. Wenn zum Beginn des Ditirambo III die Loblieder des Franz von Assisi nachhallen in der Formel laudata sii, dann lässt sich dieses religiöse Sprechen noch mit gelobt seiest du einfangen, wenn es auch nicht mehr so deutlich auf den bescheidenen Franz geht; wie sich aber im großen naturerotischen Bild pallida di desiri la nube / languir di rupe in rupe der Nachhall und die erotischen Steigerung der großen naturnachdenklichen, naturverliebten Kanzone Francecso Petrarcas Di pensier in pensier, di monte in monte / mi guida Amor übersetzen lässt, das sei dahingestellt. Es ist an sich schön, wenn es heißt, dass die Wolke bleich vor Begierde / von Felsen zu Felsen schmachten, aber den charakteristischen Konnex von Natur, Körper und Kunst hätte man kommentieren können, kommentieren müssen. Der Kommentar aber schweigt sich zum ganzen Ditirambo III aus. Und: Die Dithyramben wie auch andere Gedichte fahren nicht selten dreistellige Verszahlen auf; Ditirambo IV kommt auf 650; unverständlich die Herausgeberentscheidung, auf den Seiten keine Verszählung zu führen.

Als weiteres Problem treten d’Annunzios exzessive Klangspielereien hinzu, die, soweit ich sehen kann, schlicht und ergreifend die deutsche Sprache nicht hergibt (Brentano soll mich Lügen strafen). Die „Kritik“ gilt also ihr und nicht im Geringsten den Übersetzern. Wenn es etwa zur poetischen Vergegenwärtigen bewegten Wasser kommt, muss sich das Deutsche begnügen (und begnügt es sich auch hemmungslos, wie der Schulunterricht zeigt) mit Schillers Und es wallet und siedet und brauset und zischt und so fort und es spritzet der dampfende Gischt und so ähnlich. In d’Annunzios virtuosem und (wie üblich) sehr langem Gedicht L’Onda, Die Welle, geht das etwa so: come criniera / nivea di cavallo. / Il vento la scavezza. / L'onda si spezza, / precipita nel cavo / del solco sonora; / spumeggia, biancheggia, / s'infiora, odora, / travolge la cuora, / trae l'alga e l'ulva; / s'allunga, / rotola, galoppa und so fort und par che di crisopazzi / scintilli / e di berilli / viridi a sacca. / O sua favella! / Sciacqua, sciaborda, / scroscia, schiocca, schianta, / romba, ride, canta und so weiter und weiter und weiter. Shakespeares steife Königin Gertrude, die fordert: more matter with less art: wäre von d’Annunzio nicht einmal durch den Eingang für unwillkommene Gäste gebeten worden. Er hätte von Ferne und aus dem Garten heraus mit dem Kanonenboot auf sie geschossen.

Länge heischt Länge, aber um mich noch einmal kurz zu fassen: Diese gewaltige Übersetzungs- und Vermittlungsarbeit kann man getrost als Begleiter für den hoffentlich bald heraufziehenden Sommer wählen. Er enthält genügend Wörter, genügend Bilder, genügend Klänge für eine lange Zeit. Die überschwängliche Liebelei mit dem All, der wählerische Ästhetizismus sind dabei hochinfektiös – eine Rezension dieses Bandes könnte wie Walter Serners Letzte Lockerung mit einem Einkaufszettel für lektürebegleitende Speisen und getränke eröffnen. Der streng gestrickte Zyklus Alcyone vollzieht eine Jahreszeitenbewegung vom frühen Juni in den späten September und es erscheint mir ratsam, dem lesen Folge zu leisten. Voller Lobpreis, voller Hingabe an die Schönheit, voller gedrechselter Kostbarkeit stehen da Verse, die man nur im Sommer lesen kann, niemals aber in einem (nord)deutschen Herbst: O Estate, Estate ardente, / quanto t’amammo noi per t’assomigliare : O Glut du, o Sommerglut, / wie liebten wir dich dafür, dir ähnlich zu sein.

 

Exklusivbeitrag

Gabriele d’Annunzio: Alcyone. Lobgesänge des Himmels, des Meeres, der Erde und der Helden. Italienisch und Deutsch. Übersetzt von Ernst-Jürgen Dreyer und Geraldine Gabor unter Mitarbeit von Hans Krieger. ISBN: 9783941184169 48,00 € Elfenbein Verlag Berlin 2013.

Tobias Roth hat zuletzt über »Blauwärts» - ein Ausflug zu dritt von Hans Magnus Enzensberger, Jan Peter Tripp und Justine Landat auf Fixpoetry geschrieben.