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Biografie
Zwei Freunde, eine Frau und viele Männer. „Helen Hessel« - eine Biografie von Marie-Françoise Peteuil.
16.06.2013 | Hamburg
Wenn das Abbild populärer ist als sein Original, dann muss es helfen, das Original zu verkaufen. Zumal, wenn, wie im Fall Helen Hessels solche Namen wie der des französischen Filmemachers Francois Truffaut und der seiner Schauspielerin Jeanne Moreau mitklingen. Denn Helen Hessel ist das Original und die Namen der beiden Männer, die sie liebte – Jules und Jim – bilden den Titel des Films, für die die aufregende Dreiecksgeschichte das Vorbild abgab. In Wirklichkeit hießen sie Franz Hessel und Henri-Pierre Roché. Diese Verquickung von Realität und Fiktion kann man legal finden, schließlich ist Goethes Faust auch berühmter als das historische Vorbild Johann Georg Faust. Aber der Anspruch der Biografin ist deutlich ein Blick hinter die Legende. Sie stützt sich auf viele Quellen, ihre Hauptquelle jedoch ist das „Journal“, die Briefe, die Helen Hessel 1920 bis 21 an ihren Geliebten Roché schrieb. Dies aber ist der gordische Knoten, den es zu durchschlagen gilt. Denn in diesen Briefen greift die Liebende, – zu deren Werkzeugen, um den Geliebten bei der Stange zu halten, gehört, ihn eifersüchtig zu machen – gern in die Fiktionskiste. Tapfer kämpft Marie-Françoise Peteuil sich durch das feine Gespinst von Wahrheit und Dichtung und bietet gelegentlich mehrere Interpretationen an. Vermutlich hätte sie besser daran getan, sich großzügiger vom „Journal“ und anderen Quellen zu lösen.
Helen Hessel. Foto: M. Breslauer
Es gibt ein langes Leben zu erzählen. Die 1982 gestorbene Helen Hessel hat fast ein Jahrhundert gelebt. In Preußens Kaiserreich 1886 geboren, in der Familie eines Bankiers mit vier größeren Geschwistern so getobt, dass sich die Mutter früh in eine Depression zurückzieht. Oder – die Biografin betrachtet den biografischen Knoten von vielen Seiten – haben die Kinder mit ihrem Lärm versucht, die Mutter zu erreichen? Oder – hat der Vater, ein notorischer Fremdgeher, sie in die Depression getrieben oder – alles stimmt zusammen?
Helen Hessel studiert mit 17 Jahren an der Damenakademie des Berliner Künstlerinnenvereins bei Käthe Kollwitz. Später geht sie mit Malfreundinnen nach Paris, wo sie Franz Hessel kennenlernt. Hessel ist begütert und kann sich in aller Ruhe der Schriftstellerei hingeben. Der Heirat geht eine lange Freundschaft voraus und mit der materiellen Unabhängigkeit gibt Hessel ihr auch volle Freiheit, was sie zunächst verunsichert. Sie bekommen zwei Kinder, Stefan, der Jüngere wird ein bekannter Diplomat und Publizist, er veröffentlicht die engagierte Schrift „Empört Euch“.
Hessel muss vier Jahre in den Krieg, als er zurückkommt, will er lediglich seine Ruhe. Um seine anstrengende und liebesdurstige Frau zu „beschäftigen“, ruft er seinen Freund, den Kunsthändler Roché, herbei. Und über 13 Jahre leben die drei samt Kindern in einer offenen Ménage-à-trois. Das quälende Hin und Her, das lange Ende führt die Biografin akribisch auf, belegt es mit Romanzitaten, Briefen und dem „Journal“. Das wird auch dem größten Voyeur irgendwann zu viel. Auch Hessel schickt immer wieder, um seine Ruhe zu haben, das komplizierte Paar auf Reisen, auch alle aufgelistet. Hier hätte die Biografin geschickter sortieren müssen. Spannend ist die Geschichte allemal. Der Geliebte Roché hat nämlich eine Vision: Er möchte einen Sohn, kein Kind, sondern einen Sohn. Und die ideale Mutter dafür soll Helen sein. Damit der Sohn auch ihm gehöre, verabredet er mit seinem Freund, dass Helen sich scheiden lässt, sobald sie schwanger ist. So geschieht es. Doch dann kommen dem Helden Zweifel und er bedrängt die arme Helen, abzutreiben. Das gleiche geschieht noch einmal und noch einmal. Der ideale Sohn bleibt ungeboren. Roché schreibt unerträgliche Gedichte über seine Erleichterung und seine Verdächtigungen, das Kind war möglicherweise gar nicht von ihm. Helen liebt den Mann. Der die ganze Zeit noch eine Freundin hat, mit der er gemeinsam alt werden will. Zwischendurch nimmt er außerdem alles mit, was sich bietet. Helen ihrerseits kann ihn nur halten, indem sie ständig Affären hat, reale, ausgedachte, Hauptsache, der seltsame Geliebte kehrt wieder zurück in ihr Bett. Und Hessel schaut zu. Das macht sie aber auch wahnsinnig. Stoff ohne Ende. Das sieht auch Roché, der seine Geliebte bittet, alles aufzuschreiben. Das „Journal“, er fordert nach, konkreter!, wenn es um Einzelheiten des Liebesaktes geht. Helen liefert. Aus diesen und seinen eigenen Aufzeichnungen entsteht Rochés Roman „Jules und Jim“, der 1953, dreißig Jahre nach der Affäre, veröffentlicht wird. Der Roman wird die Grundlage für Truffauts Film.
Helen Hessel ist eine anstrengende Frau, eine fordernde, eine verrückte, die nackt auf dem Balkongeländer balanciert und sich dabei fotografieren lässt. Die ausprobiert. Als junge Mutter lässt sie die Kinder beim Vater und geht nach Polen, wo sie sich zur Landwirtin ausbilden lassen will. Um dem geliebten Mann in Paris nahe zu sein, beginnt sie für ihren Unterhalt Artikel für Modejournale zu schreiben, während Mann und Kinder noch in Berlin leben, später ziehen sie nach.
Aber Helen ist auch eine energische Frau, Hessel ist Jude, in den 30er Jahren lebt er wieder in Berlin und will auch dort bleiben. Doch Helen holt ihn entschlossen nach Paris. Im zweiten Weltkrieg arbeitet sie in der Résistance. Als Sohn Stefan nach Amerika geht, folgt sie ihm, ist sich nicht zu schade für ihren Lebensunterhalt zu putzen und andere Leute zu chauffieren, doch es gibt keinen amerikanischen Traum für Helen. Sie bleibt glücklos und kehrt zurück. Und übersetzt für Rowohlt Nabukovs „Lolita“.
Als Truffaut 1962 den Film „Jim und Jule“ mit Jeanne Moreau in der Rolle als Helen dreht, ist sie 77 Jahre alt. Sie ist stolz auf ihr Liebesleben, sie fühlt sich gut getroffen mit der schönen Schauspielerin. Ein später Glanz fällt auf sie. Sie überlebt ihre Männer, Franz um 42 Jahre, Pierre um 23 Jahre. Sie ist vielen interessanten Menschen begegnet: Rainer Maria Rilke, Walter Benjamin, Marcel Duchamp, Man Ray, der sie fotografierte. Sie war eine emanzipierte Frau, die ihren teils schweren Weg ging und bedingungslos liebte.
All das kann man in der Biografie Marie-Françoise Peteuils lesen, das Bemühen der Biografin hinter der Legende und allen Fiktionen die Frau zu finden, die auch, man sollte es kaum glauben, scheu war, die zweifelte, ist sehr verdienstvoll. In Frankreich ist das Buch sehr erfolgreich. Die deutsche Übersetzung von Patricia Klobusiczky scheint gelegentlich etwas schwerfällig, doch ist schwer auszumachen, ob es an der Übersetzung liegt oder die Ursache im Original zu suchen ist.
Exklusivbeitrag
Marie-Françoise Peteuil: Helen Hessel. Die Frau, die Jules und Jim liebte. Eine Biografie. Übersetzt von Patricia Klobusiczky. 420 Seiten mit Fotoblock. 24,95 Euro Verlag Schöffling & Co. 2013
Simone Trieder hat zuletzt über »Gibraltar» von Sascha Reh auf Fixpoetry geschrieben.