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Gedichte
Die Spur der Roggenmuhme im Koordinatensystem. Mit Roland Bärwinkels Gedichten.
09.07.2013 | Hamburg
Der Mann hat eine Weile gewartet mit seinem literarischen Debüt. Inzwischen hat er sich als Bibliothekswissenschaftler und Mitarbeiter der ehrwürdigen Anna-Amalia-Bibliothek zu Weimar einen Namen gemacht. Roland Bärwinkels erstem Lyrikband, erschienen in der segensreichen, von Wulf Kirsten begründeten und nunmehr seit einem Jahrzehnt von Kai Agthe verantworteten Edition Muschelkalk, eignet denn auch eine einem Bibliothekar gemäße Strenge, anders allerdings, als man erwarten mag: sie findet sich zunächst in der Textur der Sammlung.
Die Gedichte selbst, oft in weit schwingenden, betont freirhythmischen Versen gesetzt, sind nach ihren Titeln alphabetisch angeordnet, von „Abfahren“ bis zum Liebesgesang „Wimper“, das zugleich, indem es die Bärwinkel’sche Tonart ein letztes Mal vorführt, einen griffigen Schlussakkord für das Buch setzt: „Wimper. Fühler. Braue. Großartig sie alle. / Ich behielt das bei mir und lief / durch diesen Tag mit einem / Geheimnis, das umso / wundervoller wirkte, weil es / unauflösbar blieb.“
Von „A“ bis „W“, ein denkbar einfaches, triftiges Ordnungsprinzip; schlagwortartig, möchte man meinen: ein Wagnis und gleichzeitig, angesichts der anderswo reichlich malträtierten Aufbringung von Empfindsamkeit, einen Gedichtband zu koordinieren, eine kräftige Gegenbewegung. In den Texten selbst geht es u. a. um die Überwindung, Überbrückung des Abgrunds zwischen Aufbegehren und Verzagtheit, das Erträumte wie Verlorene wird kraftvoll bereist und gewichtet. Die Vorbildräume dieses Dichters, die eher bei Paulus Böhmer (ihm ist das umfänglichste der Bärwinkel’schen Traktate im Buch gewidmet) oder Jean Krier zu suchen sind denn bei den klassischen Alt-Vorderen, die Vorbildräume werden geöffnet und geschlossen und mit der wohl wuchtigsten möglichen Zutat garniert: einer forschen wie forschenden Geradlinigkeit, die nicht nur mental auf die Ursprünge des Autors verweist.
Ja, der gebürtige Magdeburger, in der angrenzenden niederen Börde aufgewachsene Bärwinkel ist in den Gedichten seiner Sammlung „Bevor es zu spät wird“ u. a. dem Wunder der Herkunft, der Prägung durch jene, gleichsam aber auch der Entzauberung der Ankunft auf der Spur. Unter der Hand ist ihm dabei ein ganzes Werk entstanden, neben wissenschaftlichen Aufsätzen harrt beispielsweise eine Reihe Erzählungen und Miniaturen der Entdeckung. Seine Lyrik bewegt sich indes auf dem Grat zwischen der Fülle und dem Halt in einem Koordinatensystem, das oft überbordende, in Kaskaden, zuweilen Kavalkaden und Wortspielen dahintreibende Geflecht dieser Texte ist, so scheint es, u. a. durch die Anordnung wie in einem Zettelkasten rückversichert – die Kühnheit, die das Künstlerische benötigt, trägt so eine Art mäßigendes Korsett und erzählt damit eine innere wie äußere Geschichte.
Eindrücklich, bereits in der Dankfloskel angedeutet, das Wummern der durch die Elbe geprägten Schwarzerde-Caldera im Hintergrund dieser Lyrik, dass es einem bang werden mag, ob man die Spur der Roggenmuhme, vor der gewarnt wird („Wansleber Daumen“), nicht doch noch, und in einem Moment womöglich, wo es am wenigsten passt, findet. Der Mann, der an der Ilm seine zweite Heimat gefunden haben zu vermuten gibt, hantiert mit den Begriffen einer hocheindrücklichen Gegend, die selbst ihren Bewohnern von Zeit zu Zeit zerrissen erscheinen mag, wenngleich sie doch an einem Scharnierpunkt mitteleuropäischer Geschichte angesetzt sein dürfte. Bärwinkel nennt sie einmal ‚Anhaltistan‘, nicht ganz korrekt für die Krümelzähler, aber dennoch treffend. Ein verwunschener Kreuzweg, um seinen Kern eine aus Altmärkern, Ostfalen, Harzern, Sachsen und Thüringern gepresste Einheit, heute unter dem Namen eines so genannten Bindestrich-Lands geführt, über das gern gefeixt wird, das seine Bewohner jedoch prägt wie vielleicht kaum ein anderes.
Dazwischen siedelt Bärwinkel seine Reminiszenzen, Anrufungen („Wettergott“), seine Verzichtserklärungen und Liebesgedichte („Dänisch Gelb“) an, die häufig auch den Versuch einer Quersumme wagen. Die Erinnerungen gehen einher mit Aufzählungen und Postulierungen, die Landstriche, das Leben in ihnen zeigt sich gelegentlich als für das Leben selbst bedenklich; das Abbrechen des einen Gedanken findet womöglich seinen Fortgang in einem anderen Gebilde, nur durch das Raster der gewählten Folge an einem anderen Ort, in anderem Licht.
Apropos Licht – als drittes Glied in der Vorbildkette flammt Les Murray auf; es wirkt, als hätte der Dichter Bärwinkel für seine Lyrikauswahl, die den vielleicht kommenden Zyklen vorausgeht, mächtig Anlauf genommen und, gewissermaßen, ein in strenge Verfügtheit genommenes Kompendium der Selbstvergewisserung geschaffen, „bevor es zu spät wird“. Man muss gespannt sein, was nachfolgt. Der Ostfale Bärwinkel, aus den fruchtbaren Iden seines Ursprungs an das flirrende Ilm-Idyll versetzt, hat jedenfalls, so kann man sagen, nun sein literarisches Handwerkszeug ausgebreitet: ausgehend vom Barleber See und den bördeschen Feldern, durch die die Roggenmuhme (dessen sind wir gewiss) geht, über die thüringischen Ammoniten-Steinbrüche in die verbleibende Welt öffnet sich der Kosmos der an Aufenthalten und mitreißenden Strudeln reichen Gedichte dieses Buchs wie ein Versprechen.
Exklusivbeitrag
Roland Bärwinkel: Bevor es zu spät wird, Gedichte, Klappenbr. 112 Seiten, 11,80 Euro. ISBN: 978-3-86160-334-4. Weimar: Wartburg Verlag 2011.
André Schinkel hat zuletzt über »Die Nelkenfalle« von Christine Hoba auf Fixpoetry geschrieben.