Essay
Vom Tempo unserer Zeit. »Beschleunigung und Entfremdung«. Entwurf einer Kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit von Hartmut Rosa.
16.07.2013 | Hamburg
Deadlines, Leistungsdruck, volle Terminkalender, unzählige unbeantwortete E-Mails, Nachrichtenticker rund um die Uhr… Jeder von uns hatte sicher schon manchmal den Eindruck mit dem Tempo der Welt nicht mehr Schritt halten zu können. Zugegeben, diese Erfahrung machen Menschen nicht erst seit dem beginnenden 21. Jahrhundert. Bereits 1918 war sich Alfred Döblin sicher: „Die wenigsten Menschen erleben ihre Zeit, […] die meisten Menschen sind geschäftlich und haben keine Zeit für ihre Zeit.“ Auch Goethe ist als ausgewiesener Skeptiker einer sich immer weiter beschleunigenden Moderne bekannt. Sein Zeitgenosse Friedrich Ancillon beklagte 1828: „Alles ist beweglich geworden, oder wird beweglich gemacht, und in der Absicht oder unter dem Vorwand, Alles zu vervollkommnen, wird Alles in Frage gezogen, bezweifelt, und geht einer allgemeinen Umwandlung entgegen. Die Liebe zur Bewegung an sich, auch ohne Zweck und ohne ein bestimmtes Ziel, hat sich aus den Bewegungen der Zeit ergeben und entwickelt. In ihr, und in ihr allein, setzt und sucht man das wahre Leben.“
Die Frage nach dem wahren Leben, oder besser nach dem „guten Leben“ steht auch im Mittelpunkt von Hartmut Rosas aktuellem Buch Beschleunigung und Entfremdung. Wie im Untertitel angekündigt, wird hier der Versuch unternommen, eine Kritische Theorie spätmoderner Zeitlichkeit zu entwerfen. Der Jenaer Soziologe wird dabei von einer Kernfrage der Kritischen Theorie (gemeint ist die kritische Gesellschaftsanalyse, die von den Vertretern der „Frankfurter Schule“, also u. a. Horkheimer und Adorno, entwickelt wurde) angetrieben, die da lautet: Warum haben wir kein gutes Leben? Die Antwort auf diese Frage findet sich, laut Rosa, in einem vielschichtigen Entfremdungseffekt, der vorrangig als Folge einer sozialen Beschleunigung und den damit einhergehenden Veränderungen der Zeitstrukturen in der Spätmoderne anzusehen ist. Unter diesen Bedingungen hält Rosa das moderne Leben, in persönlicher wie gesellschaftlicher Hinsicht, für „dringend reformbedürftig“.
Bereits in seiner 2005 erschienenen Habilitationsschrift Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne entwickelte Rosa seine Theorie der sozialen Beschleunigung. Demnach ist die Erfahrung beschleunigter „Transformationen der materiellen, sozialen und geistigen Welt“ ständiger Begleiter des modernen Menschen. In Zeugnissen kultureller Selbstreflexion lässt sich diese Erfahrung seit Shakespeare lückenlos nachweisen. Für Rosa ergeben sich daraus im Wesentlichen drei Kategorien, in denen die allgemeine Beschleunigung der Lebenswelt sichtbar wird: Technik, sozialer Wandel und Lebenstempo. Dabei wirft der Soziologe nicht nur Beispiele wie fast food, power napping, speed dating oder drive-through funerals in den Ring, sondern erklärt präzise, woran die drei genannten Kategorien sichtbar werden. Wurde in früherer Zeit beispielsweise ein Handwerk in der Familie von Generation zu Generation weitergegeben und blieb diese Familie über diese Generationen hinweg an einem Ort, vielleicht sogar im selben Haus wohnen, ist es heute eher der Normalfall, dass man in einem Leben häufig umzieht und den Beruf wechselt. Diese „sozialen Veränderungsraten“ führen, laut Rosa, zu einer „Steigerung der Verfallsraten der Verläßlichkeit von Erfahrungen und Erwartungen und [zu einer] Verkürzung der als Gegenwart zu bestimmenden Zeiträume“. Eine ähnlich präzise Definition entwickelte der Soziologe im Hinblick auf die Beschleunigung des Lebenstempos. Geht man davon aus, dass Zeit heutzutage wie eine Ressource behandelt wird, ergibt sich daraus der Wunsch nach einer „Steigerung der Zahl an Handlungs- und Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit“, also das Bedürfnis in weniger Zeit mehr zu tun und zu erleben.
Dass Zeit als immer knapper und daher immer wertvoller werdendes Gut behandelt wird, ist angesichts der allgemeinen technischen Beschleunigung unserer Lebenswelt (man denke nur an unsere heutigen Reise- und Kommunikationsgeschwindigkeiten) ein Paradox. Die Freisetzung von Zeit bzw. die Zeitersparnis durch E-Mails, Flugzeuge und dergleichen scheint in unserem Alltag nicht anzukommen; eine Erfahrung, die uns die Beschleunigung der Welt vor Augen führt, da auch die Menge unseres „Outputs“ zunimmt. Wir schreiben 10 E-Mails statt einen Brief am Tag, unternehmen 5 Flugreisen, statt einer Kutschfahrt im Jahr. Da diese Wachstumsraten sich schneller entwickeln als unser Lebenstempo, haben wir einen omnipräsenten Eindruck von Zeitknappheit.
Im weiteren Verlauf seiner Studie verdeutlicht Hartmut Rosa, welche die Motoren der Beschleunigung sind und warum es keine wirkliche Entschleunigung gibt. Zudem versucht er zu verdeutlichen, warum das Phänomen der sozialen Beschleunigung einer Kritischen Analyse bedarf. Ein Argument dafür ist unter anderem Rosas Behauptung, Beschleunigung sei als eine neue Form des Totalitarismus anzusehen. „Ich möchte den Vorschlag machen, eine Gewalt dann als ‚totalitär‘ zu bezeichnen, wenn sie (a) Druck auf den Willen und die Handlungen der Subjekte ausübt, wenn es (b) unmöglich ist, ihr auszuweichen, so daß in der einen oder anderen Form alle Subjekte von ihr betroffen sind, wenn sie (c) alle Lebensbereiche durchdringt und nicht auf die eine oder andere Gesellschaftssphäre beschränkt ist, und wenn es (d) schwierig oder nahezu unmöglich ist, sie zu kritisieren oder zu bekämpfen.“ Im Gegensatz zu totalitären politischen Systemen, die, laut Rosa, die Kategorien (b), (c) und (d) nie vollständig erfüllen und denen man sich auf die ein oder andere Weise immer entziehen kann, ist damit das Regime von Beschleunigung und Zeitdruck durch den Einzelnen nicht anfechtbar. Diese Einschätzung gehört sicher zu den strittigsten Thesen in Rosas Schrift. Zum einen lassen sich die individuellen Lebens- bzw. Widerstandsbedingungen von in totalitären Systemen lebenden Menschen kaum oder nur schwer verallgemeinern. Zum anderen bekommt das Aufwiegen oder Abgrenzen eines Totalitarismusbegriffs gegen einen anderen immer einen faden, wenn nicht zynischen Beigeschmack.
Dennoch führt Rosa in einem abschließenden Kapitel seiner Studie nachvollziehbar vor, wie das Beschleunigungsregime, dem wir unterworfen zu sein scheinen, zu verschiedenen Formen der Entfremdung führt. „Entfremdung kann dabei zunächst als ein Zustand definiert werden, in welchem Subjekte Ziele verfolgen oder Praktiken ausüben, die ihnen einerseits nicht von anderen Akteuren oder äußeren Faktoren aufgezwungen wurden […], welche sie aber andererseits nicht ‚wirklich‘ wollen oder unterstützen.“ Diese Definition hinkt natürlich etwas, da nach Rosas Argumentation der „Totalitarismus Beschleunigung“ durchaus auch als „äußerer Faktor“ bezeichnet werden kann. Gleichwohl konkretisiert er seine Definition, indem er Beispiele alltäglicher Entfremdungserscheinungen angibt, die empirisch sehr gut belegbar sind. So hat sich durch die Beschleunigung der Reisegeschwindigkeiten eine völlig neue Beziehung zu Raumverhältnissen ergeben. Zudem nehmen wir uns zum Kennenlernen dieser nun leichter erreichbaren Orte immer weniger Zeit, machen uns nicht mit ihnen bekannt und brauchen Souvenirs, um uns an sie und unsere Erlebnisse zu erinnern. Die Souvenir-Theorie findet sich im Übrigen schon bei Walter Benjamin.
Außerdem ändert sich, laut Rosa, aufgrund der geringeren Halbwertszeit von Gegenständen unser Verhältnis zu ihnen. Verbrachten wir früher Jahre mit ein und demselben Kassettenrekorder, löst das iPad schon den iPod ab, bevor wir ihn richtig bedienen konnten. Dass wir deshalb ein schlechtes Gewissen gegenüber diesen Gegenständen entwickeln, ist dagegen eine Meinung, die Rosa exklusiv hat. Nachvollziehbarer ist da schon die Beobachtung, dass wir unsere Handlungen immer häufiger vor dem Hintergrund unseres Zeitmanagements rechtfertigen. „Und das korrespondiert wiederum mit der statistisch belegten Tatsache, daß Menschen aus mehr oder minder allen sozialen Gruppen in mehr oder minder allen entwickelten Ländern in empirischen Zeitstudien in überwältigenden Maße der Aussage zustimmen, daß sie fast nie die Zeit finden, das zu tun, was sie wirklich wollen.“ Oder mit Ödön von Horvaths Worten gesprochen: „Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur nie dazu.“
In diesem Diktum schließt sich für Hartmut Rosa der Kreis seiner Argumentation, die ich hier nur skizziert habe. Wer sich einführend mit der Wechselbeziehung von Entfremdung und Beschleunigung beschäftigen möchte, dem sei dieses kleine Buch sehr empfohlen. Es handelt sich dabei um ein leicht verständliches und vor allem empirisch meist nachvollziehbares Stück Wissenschaftsprosa, das sich in seinem Stil erfreulicherweise eher an angelsächsischen als an deutschen Standards orientiert.
Gegenüber dem Leser muss man jedoch fairerweise darauf hinweisen, dass es sich bei Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer Kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit um eine Arbeit handelt, die bereits 2010 auf Englisch erschien und lediglich eine Zweitverwertung von Kapiteln darstellt, die so oder so ähnlich bereits in der Habilitationsschrift Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne und in Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung zu finden sind. Doch jede akademische Biografie braucht eine lange Publikationsliste und so heiligt der Zweck einmal mehr die Mittel. Wer sich also gleich eingehender mit dem Thema beschäftigen möchte, sollte auf die zuletzt genannten Bücher Hartmuts Rosas zurückgreifen.
Exklusivbeitrag
Hartmut Rosa: Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer Kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Aus dem Englischen von Robin Celikates. ISBN: 978-3-518-58596-2, 20,-€. Suhrkamp, Berlin 2013.
Mario Osterland hat zuletzt über »Flughunde« von Ulli Lust und Marcel Beyer auf Fixpoetry geschrieben.