Neubuch-Neue junge Lyrik

Lyrik

Autor:
Ron Winkler
Besprechung:
Frank Milautzcki
 

Lyrik

Das Winken mit dem Neuen gehört zum Klappern – über das Neubuch

In der zeitgenössischen Lyrik ist einiges in Bewegung, seit langem schon. Als Herausgeber hat der Berliner Lyriker Ron Winkler in einem Buch zusammengetragen, was beispielhaft dafür sein kann – er nennt es „Neubuch“ und featured darin 25 Lyriker/innen, die zwischen 1972 und 1985 geboren sind. Es ist erschienen, kaum daß das Kuhligk/Wagner’sche Lyrik von Jetzt 2 draußen war und es gibt zwischen diesen beiden Büchern sehr viele Überschneidungen. Die Feuilletons haben vor allem die zuerst erschienene Anthologie gewürdigt, aber es gibt auch Stimmen, die in dem vielleicht weniger artifiziellen und etwas frischer, offensiver und im Detail inhaltsschwerer wirkenden Neubuch einen treffenderen Spiegel sehen. Von allen schriftlichen Reaktionen auf diese beiden Bücher fesselte mich am meisten, was Hendrik Jackson aus der Autorensicht dazu schreibt ( http://www.lyrikkritik.de/Jackson-LVJII.html ). Eine auch für Lyrikleser aufschlussreiche, wunderbar ehrlich-direkte Auseinandersetzung mit dem lyrischen Zeitgeist. Daß man jetzt mehrfach die Lyrikwelt in alt und jung trennt, mag in guter dokumentarischer Absicht geschehen, ist aber dennoch ein so plakatives Abgrenzen,  daß es letzten Endes provoziert einmal zu untersuchen, inwiefern die „neue junge Lyrik“  (wie sie Winkler im Untertitel nennt) tatsächlich eine derart isolierte Betrachtung wert ist.

„Staunen will ich wohl über Sprach- und Ding-, Innen- und Außenwelten, die sich öffnen. Etwas Besonderes mit der Sprache zu machen ist dabei nur ein Teil des Unterfangens. Gemacht wird etwas Bestimmtes mit dem Blick…“ so beschreibt Ulrike Draesner in ihrem Nachwort worum es geht. Es geht vielfach gar nicht mehr um das einzelne Gedicht, sondern darum ein Verfahren zu finden, mit dem ein Text zu bewerkstelligen ist, der sich von bisher geschriebenen Texten unterscheidet. Auf diese Weise lassen sich Gemeinplätze neu verpacken. Aber man kann auch neue Plätze anlegen und dabei geht es dann nicht um das Neu-Sagen von längst Bekanntem, sondern auch um das Sagen von noch nicht Gesagtem.
Prinzipiell gibt es jedoch kein anderes Ur-Verfahren als das, was Wittgenstein das Sprachspiel nennt und was wir unter dem Begriff Denken zusammenfassen können. Denken als sprachliches Beziehen und Verstreben. Dieses Verfahren liegt allen anderen zugrunde. Dennoch gibt es Sprachen, die sich nicht mit dem herkömmlichen Sprechen ausdrücken lassen und die uns dennoch Mitteilungen und uns mitteilend machen, Körpersprache, Mimik, Musik, es gibt Gefühle und Empfindungen, Sensuelles, es gibt unbewußt angesteuerte Prozesse, die uns dem Tierhaften verwandt zeigen. Aus all diesen Bereichen bezieht auch die Lyrik Impulse, arbeitet bspw. mit Assoziationen, Lautmalereien, Rhythmus, Bildersprache, Temperatur, Temperament. Aus diesen Gebieten reichert der Autor seine Verfahren an, indem er für sich Zulassungen definiert – das ist ganz subjektiv und immer der Person angemessen. Die Lyrik ist also kein reines Sprachspiel,  nicht allein über Denkarbeit entschlüsselbar, sondern triggert andere Bereiche in uns an, musikalische, emotionale usw.,  was – und das ist eben das „sensationelle“ – ein Gedicht schließlich „empfindbar“ macht. Das ist auch der Grund, warum in Gedichten Erkenntnisvorgänge eingeschlossen sind, die das bloße intellektuelle Verstehen deutlich hinter sich lassen. Weil dort, in der komprimierten und komponierten Form des Gedichtes, sprachliche Beziehungsmuster ungeahnte und andernorts so nicht mögliche Bezüge darlegen können. Viele Gedichte verweigern sich heute einer klaren Aussage, zum einen deshalb, weil schlicht sehr wenige wirklich etwas zu sagen wüssten, was nicht längst wo anders schon besser und ausführlicher gesagt wurde (das muß man jetzt nicht negativ lesen, das hat auch mit freiwilliger Rücknahme und bewusster Beschränkung zu tun), aber auch, weil man so in Territorien vordringen kann, wo einen hochinteressante neue, unvorhergesehene Beziehungsmuster förmlich anspringen. Der Verzicht auf Aussage, der Verzicht auf Statement und Meinung, auf gedankliche Konsequenz und politische Zielvorstellung, ist in mancherlei Hinsicht eine Wohltat fürs Gedicht, es bleibt dadurch offen und hoffend, ja eigentlich wird es erst dadurch zum Gedicht, weil es das Konkrete der Sprache ins Vage, das Eindeutige ins Vieldeutige transferiert und eigentlich liegt auch hierin wieder Erkenntnisgewinn: die festgelegte durchdefinierte Welt gibt es nämlich nicht, es gibt nur den Blick auf sie, der so unterschiedlich ausfallen kann, wie das Erleben der Welt nur unterschiedlich sein kann – von Mensch zu Mensch verschieden, ein jeder in seinen eigenen Kontext verwoben und einzig. Wobei der Kontext des Lyrikers auch enthält, was er je mit Genuß oder Abscheu gelesen hat. Der gute Ratschlag, den man einem jungen Dichter gab, „Lesen Sie! Lesen Sie alles an Lyrik, was Sie zwischen die Finger kriegen können!“ zielt daraufhin – erweitere deinen Kontext.

Wenn es also im Eigentlichen um Verfahren geht, die den im persönlichen Hintergrund wirksamen Kontext in einer eigenen Gebärde konzentrieren sollen (to do your own thing und zwar gnadenlos), dann geht es auch um das Behaupten eigener Zuständigkeit.

Daß sich eine junge Generation zuständig fühlt in neuen Gedichten eigene Gebärden zu entwickeln, hat wenig Sensationelles und unterscheidet die jetzige nicht von vorangegangenen. Worin sich allerdings Unterschiede finden, sind Umstände. Äußere und innere. Während bspw. der Brinkmann-Epigone sich noch in schreibmaschinengetippten, fotokopierten Broschüren ohne Randbeschnitt schwachauflagig im Nirgendwo präsentiert sehen musste, kann heute der Kling- oder Falkner-Eleve in grafisch durchgestylten Mags print und online dastehen wie ein arrivierter Held der Sprache. Die Möglichkeiten zu „performen“ sind heute einfach um ein zigfaches professioneller und umfangreicher. Wer bspw. den jahrelangen Überlebenskampf eines Biby Wintjes noch miterlebt hat, der in den 70ern mit seinem „Ulcus Molle Info“ einer „Alternativen Literatur“(worunter sich die damalige Schreib-Generation zusammenfassen ließ) einen Vertrieb nur unter immerwährenden finanziellen Existenznöten und größten privaten Opfern bis hin zu echten Hungerszeiten zu etablieren vermochte und vergleicht damit den machtvollen Auftritt von Tubuk, der mag verführt sein die neue Generation um eine gewisse Leichtigkeit, eine komfortable Möglichkeitswelt zu beneiden. Niemand würde das öffentlich zugeben, Neid ist hässlich, aber man würde die neue Generation anders anschauen, überkritisch womöglich, an Parametern messend, für deren divergente Nullpunktbedingungen sie nichts kann. Ein Teil der (oft nur im vertrauten Gespräch geäußerten) Kritik an „Lyrik von Jetzt“ oder „Neubuch“ entspringt bei manchem Autor einem besorgten, unbewußten Fragen nach dem Verbleib des eigenen Kampfes und der eigenen inneren Revolution, denn vieles an lyrischer Umwälzung aus der Vergangenheit ist längst nicht zu Ende geschrieben. Wer nach Erben fragt, ist besorgt um das Eigene und hat kaum einen Blick für das Andere.

Viele weitere Umstände sind heute extrem verändert. Es ist schon faszinierend, wie viele verschiedene Schreibstile der heute in die Lyrik Findende in kürzester Zeit assimilieren und wie schnell er sich Diskussionen und poetologischen Überlegungen stellen kann. Er kann sich sogar über Jahre tagein tagaus auschließlich mit dem Schreiben beschäftigen, indem er es – das ist auch neu – nicht mehr nur im Privaten studiert, sondern als offizielles Studium betreibt. Der privaten Konkurrenz fungiert das Internet als ein Katalog, der allzeit und allerorten ebenso passenden Inhalt zur Verfügung stellt. Der Hungrige findet reiche Auswahl und wer dran bleibt, avanciert in kürzester Zeit zum Kenner, Hausmannskost ist schnell entlarvt und das Gaumenfest weitläufig erkundet. Alle Prozesse, die man zu einem Wachsen des eigenen Schreibens braucht, sind extrem forcierbar und in der Regel verkürzt, Entwicklungen werden durcheilt und es drängt sich die Frage auf, ob diesem Tempo nicht die hinter den Details stehenden Inhalte zum Opfer fallen. Ob nicht nur der Phänotyp assimiliert und imitiert oder überwunden, das Abbild zum Zitat erklärt und die bloße Oberfläche zum Raum umdefiniert wird. Das neue Gedicht gibt vor und arbeitet damit, das alte zu kennen. Es behandelt es manchmal so, als führte ein formales Überwältigen, eine freches Zerbrechen schon zu einem neuen Gedicht. Würde man einige der im Neubuch versammelten Texte ihrer phänotypischen Extravaganzen berauben, es bliebe nicht viel übrig vom neuen Gedicht.

Natürlich ist nur manches aus der lyrischen Stimmenvielfalt der Gegenwart wirklich haltbar, von Relevanz, wie das Michael Braun erkannte schon bei Lyrik von Jetzt 1. Im Chor aber ist auch die dünnere Stimme gültig und darauf kommt es an, gültig für die Jetztzeit und eine stimmige Gebärde. Und wenn wir diese Stimmen betrachten, dann dürfen wir in ihnen nicht nur nach Kontexten aus der Vergangenheit suchen und auf deren geradlinige Fortführung hoffen. Obwohl es von Zitaten geradezu wimmelt, sie stehen aber in neuen Beziehungen. Es gibt eine umfassendere Relativität, eine anders verstrebte Realität. Cut-Ups und Collagen aus überlieferten lyrischen Welten mixen sich in einen kühn bis resignativ verlorenen Blick auf die Fläche der Jetztzeit. Das innere Fehlen echter Utopien wirft auf die Betrachtung der Beschaffenheit der Gegenwart zurück. Die im Alltag aufgefundene Geste des Moments bewirkt das essentielle, poetische Tun. Der Text dient der Überschauung der Ebene und gleichzeitig dem Sichtbarmachen eines möglichen Standpunkts, er ist eine Art Flagge. Was aber fehlt und was vielleicht zu Recht bemängelt wird, ist die Vertiefung. Die unglaublichen Ausweitungen und quasioffenen Darlegungen der Moderne überdecken alles, ihre Flächigkeit und das dort für alle sichtbar Ins-Feld-Gestelltsein erfordern die Suche nach einer möglichst auffälligen formalen Abgrenzung. Man investiert zunächst mehr in die Form und den poetologischen Schnickschnack als in Inhalt und Bedeutung. Je exzentrischer die Bewegung ausschließlich um sich und seine eigenen formalen Befunde kreist (als Egorotation hat das Hendrik Jackson bezeichnet), umso attraktiver wird dieser Ausdruckstanz für Redaktionen, Verleger, Jurys und Gremien, die Stipendien vergeben. Das eigene Ding radikal durchziehen –  das imponiert denjenigen, die auf der Suche sind nach dem nächsten großen Ding, dem nächsten Peter Huchel und der nächsten Ingeborg Bachmann. Man kann heute ein preisgekrönter Dichter sein und hat noch nicht eine wirklichere Wahrheit transportiert, weder über sich selbst, noch über die Welt und ihr Wesen, als daß die Behauptung eher eine Sache des unbedingten Wollens ist, als die einer gewollten Unbedingtheit.

Keine Generation bislang hat so zahlreich und kenntnisreich und gekonnt Lyrik geschrieben, wie diese neue. Manches entpuppt sich als Attitüde, Erscheinung, Mimikry und Mitgelaufe. Was in jeder der Generationen zuvor übrigens auch schon so war. So gewinnt eine Zeit ihr Gesicht - anhand sich selbst verstärkender Erscheinungen. Neuartige Intonationen und hellhörig machender Duktus werden bewußt gesucht und probiert, sind aber immer auch persönliche Resonanz aus dem eigenen Kontext, der je vielschichtiger angelegt, um so weniger einsehbar ist und der deshalb Geheimnisvolles evoziert. Über manchmal fehlende Authentizität täuschen Klugheit der Inszenierung und handwerkliche Brillanz hinweg. Das anscheinende Fehlen von benennbarem Sinn ist aber kein tatsächliches Fehlen von Tiefe, sondern nur ein Zeichen einer nie zuvor dagewesenen Verunsicherung, was die Gegenwart von Wahrheit betrifft, denn auch das stimmt: keine Generation zuvor hat in so großer Breite die ambivalenten Momente der sinnentleerten Gegenwart ausloten und so angestrengt gültigen Unterschlupf im Gedicht suchen müssen. Das Neubuch zeigt, das ihr das gelingt.

Winkler, Ron (Hrg.) „Neubuch – Neue junge Lyrik“, mit einem Nachwort von Ulrike Draesner. [yedermann, Riemerling b. München 2008.