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Novelle
Verschwinden und Bewahren. »Alles, was draußen ist« von Saskia Hennig von Lange.
20.08.2013 | Hamburg
„Ich blieb immer hier drinnen“ – So beginnt Saskia Hennig von Langes Novelle „Alles, was draußen ist“. Ein Widerspruch in sich? Nein, denn die Grenzen zwischen Innen und Außen verwischen zusehends in diesem kleinen, feinen Kammerspiel, das keinen anderen (physischen) Raum kennt als ein mit Vanitas-Symbolen vollgestelltes Museum und den Kopf des namenlosen Protagonisten. Ein einziges Mal, ganz zu Anfang des Buches, geht er hinaus, ins Krankenhaus, wo ihm folgende Diagnose gestellt wird: Er ist todkrank. Er wird den nächsten Frühling nicht mehr erleben.
Anstatt sich aufzulehnen gegen das Unvermeidliche, geht er zurück in das heruntergekommene anatomische Museum, das er seit Jahren hütet, in dem er seine gesamte Zeit verbringt. Gewohnt, zu ordnen, zu beschriften und zu konservieren, verfolgt er mit der gleichen Beharrlichkeit, was er schon immer als seine Aufgabe angesehen hat: das Bewahren. Konsequent und logisch nur, dass er im Angesicht des Todes beginnt, sich selbst zu archivieren.
Er nimmt Gipsabdrücke seines Körpers und schreibt frenetisch Notizen, um etwas von sich zu hinterlassen. Und er erinnert sich. „Lange nicht mehr Gedachtes“ fließt in ihn hinein, während er noch einmal die Ausstellungsräume durchschreitet, jede Wegstrecke bewusst zurücklegt, um den Raum zu fühlen, den sein Körper einnimmt. Seine Herkunft, sein Alter und Aussehen bleiben im Dunkeln. Auch das ist konsequent: Wer nicht angesprochen oder angesehen wird, bleibt sich selbst unsichtbar. Und damit auch dem Leser. Einzig die Erinnerungsfragmente an seine Kindheit und eine lang zurück liegende, unglückliche Affäre lassen ein vages Bild entstehen, was für ein Mensch diese Erzählfigur sein könnte.
Dafür schildert von Lange die Kuriositätensammlung, die ihn umgibt, umso plastischer: die menschlichen und tierischen Schädel, die wächsernen Lungen, die „Hudeleien der Natur“, wie etwa ein sechsbeiniges Schaf, siamesische Zwillinge oder Embryonen mit Wasserköpfen. Mal nüchtern-analytisch, mal mit leicht morbidem Schaudern. Ganz offensichtlich kennt sich die Autorin aus mit makabren Exponaten – neben dem literarischen Schreiben promoviert die Kunstgeschichtlerin über das Verhältnis zwischen Körper, Bild und Text in der spätmittelalterlichen Kunst. Allzu akademisch fällt ihr Ton in „Alles, was draußen ist“ zum Glück nicht aus. Im Gegenteil, ihre Sprache ist so klar wie poetisch. Obwohl äußerlich kaum etwas passiert, hat ihr Stil etwas Atemloses, Getriebenes, das nach wenigen Seiten einen ganz eigenen Sog entwickelt. Philosophische Überlegungen zu Tod und Leben, Innen und Außen, verknüpft sie mühelos mit den Rundgängen ihres Erzählers. Schließlich liegt das Memento Mori überall in der Luft, die der Todkranke atmet.
Schicht für Schicht legt von Lange frei, was schon immer da war, nur verborgen. Die unpathetische Erkenntnis: „Das alles wird verrotten und vergehen, und das Einzige, was von mir bleiben wird, ist dieser Totenschädel, den ich schon jetzt hinter meinem Gesicht trage.“ Überdeutlich sagen es auch die Kupferstiche der hautlosen Muskelmänner: „Innen ist nichts anderes als außen, nur dass die Haut fehlt, die sonst die Grenze deines Blicks gewesen wäre.“
Beziehungen zwischen Innen und Außen finden einzig in der Imagination des Protagonisten statt. Blicke durchs Fenster, ein Klopfen an seine Brust, an seine Tür – in der Erinnerung. Was andere „Leben“ nennen, ist ihm nichts, also wird er sich auch nicht verzweifelt daran klammern. Obwohl das nicht ganz stimmt: Manchmal sehnt er sich doch danach, wahrgenommen zu werden, oder das, was er selbst wahrnimmt, mit jemandem zu teilen. Als Projektionsfläche dient ihm die „Untendruntenwohnerin“, die er nie gesehen hat und deren Namen er nicht einmal kennt. Er hört nur jeden Morgen, wie sie singend durch die Wohnung geht, und stellt sich vor, was sie wohl dabei tut, und vor allem, welche Gedanken sie dabei über ihn anstellt. „Stünde sie hinter mir, die Untendruntenwohnerin, was sähe sie, was fragte sie sich über mich, oder fragte sie sich nichts?“
Die Vorstellung der eigenen Existenz durch die Wahrnehmung anderer nimmt mehr und mehr Raum ein, je näher seine physische Auslöschung rückt. In seiner Fantasie zeigt er der „Untendruntenwohnerin“ die prächtigsten Ausstellungsstücke: „Die schöne Beischläferin“, ein aufgeschnittener Frauenleib mitsamt Embryo, deren trauriges Schicksal keinerlei Spuren im Sichtbaren hinterlassen hat. Die Totenmaske Robespierres, die dem Todgeweihten ein weiteres Paradoxon vorführt: „Meine Anwesenheit, dass ich hier liegen kann in deinem Museum, unter der Glasplatte, und du mich ansehen kannst, dass ich wirklich da bin, das verdankst du der Abwesenheit von etwas anderem: Des Lebens.“
Besonders stolz ist der Museumshüter auf die Vitrine mit den 300 Innenohrpräparaten, die er selbst zusammengestellt hat. Schon seit seiner Jugend treibt ihn die Frage um: „Wie kommt der Ton in den Kopf und wie kommt er wieder heraus, oder kommt er gar nicht heraus, sondern sitzt für immer darin“. Abgesehen von der neuerlichen Variation über das Thema des „Innen-Außen“ wohnt dieser Obsession auch ein subtiler Horror inne. In Rückblenden schildert der Erzähler, wie junge Medizinstudenten ihm frisches Material aus der Pathologie brachten, die Tüten fröhlich schlenkernd, als lägen darin Salat- anstelle von Menschenköpfen. Die Abgebrühtheit derer, die sich täglich mit dem Tod beschäftigen, kann einem Schauer über den Rücken jagen. Auf jeder neuen Seite lauert die Erwartung kaltblütiger Morde aus einem verqueren wissenschaftlichen Interesse, wie sie der Besessene in Patrick Süßkinds „Das Parfüm“ zuhauf begeht. Doch der Namenlose hat lediglich ein paar Hunde und Katzen aus dem Tierheim auf dem Gewissen. Denen er immerhin eigenhändig den Kopf abschlägt, nachdem er ihnen die geheime Losung aus Kindertagen ins Ohr flüsterte: „Nein, du bleibst hier, bei mir, du gehst nicht nach draußen.“
Ein Einsamer, ein Freak, ein unermüdlicher Forscher, ein Perverser, ein Ausgestoßener. Von Langes Erzähler vereint all das in sich, und doch will man sich nicht von ihm abwenden. Zu faszinierend, und dabei sprachlich makellos gestaltet, ist das Oszillieren zwischen Innen und Außen, Sehen und Gesehen werden, Hören und Gehört werden. Zuletzt geht das literarische „Ich“ vor sich selbst her, blickt sich selbst nach, beobachtet sich durch die toten Augen seiner Exponate. Und stellt sich dabei die Fragen, die wir uns alle einmal stellen: Wer wird kommen, um mir die Totenmaske abzunehmen? Was wird auf dem Schild stehen, das meinen Tod besiegelt?
Saskia Hennig von Lange: Alles, was draußen ist. Novelle. 116 Seiten, 16,90 Euro. ISBN 978-3990270271. Verlag Jung und Jung, Salzburg, Wien 2013.
Anja Kümmel hat zuletzt über »Stille Leben« von Volker Demuth auf Fixpoetry geschrieben.
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