Brodecks Bericht

Roman

Autor:
Philippe Claudel
Besprechung:
Karen Lohse
 

Roman

„Der Mensch ist ein Tier, das immer wieder neu anfängt“ – Philippe Claudel beendet seine Trilogie über die Verführbarkeit des Menschen zur Gewalt

Es gibt eine Schmetterlingsart, die in größeren Gruppen zusammenlebt. In friedlichen Zeiten akzeptieren sie auch artfremde Exemplare. In bedrohlichen Situationen aber schließen sie diese aus der Gemeinschaft aus, um das eigene Überleben zu sichern: „Wenn es um das Fortbestehen ihrer Gruppe oder um ihr eigenes Überleben geht, opfern sie ohne Zögern den Schmetterling, der nicht einer von ihnen ist“, begründet Leutnant Adolf Buller seinen Befehl das kleine Bergdorf von „Fremden“ zu „säubern“ (nicht ohne Grund hat ‚Buller’ die gleiche Buchstabenzahl wie ‚Hitler’). Wenige Tage zuvor ist er mit einem Regiment über die Landesgrenze gekommen und hat der Dorfbevölkerung erklärt, dass sie fortan zum „Reich“ gehören würden.

Es kommt zu einer Machtdemonstration an deren Ende ein Dorfbewohner hingerichtet wird und zwei andere, die das Stigma der „Fremden“ aufgedrückt bekommen haben, in ferne „Lager“ deportiert werden. Einer davon ist Brodeck. Das was ihn zum „Fremden“ macht, ist das „fehlende Stück Haut zwischen seinen Schenkeln“. Aber Brodeck überlebt und kehrt nach dem Abzug von Bullers Truppe in die Gemeinschaft der Schmetterlinge zurück. Er ertrug das Grauen des Lagers, weil er sich das Geschehen dort als eine Ausnahme von der Regel erklärte. Brodeck hält die Hoffnung aufrecht, dass diese schreckliche Verfehlung aller Menschlichkeit mit seiner Rückkehr in das Heimatdorf und zu seiner geliebten Frau ungeschehen wird.

Seine Hoffnungen brechen alsbald zusammen: Die feindlichen Truppen haben seine Frau vergewaltigt. Noch schlimmer: Die Dorfbewohner sahen nicht nur tatenlos zu, sondern beteiligten sich selbst an der grauenvollen Tat. Doch Brodeck, der nach seiner Rückkehr psychisch und physisch am Ende seiner Kräfte ist, bleibt mit seiner Familie im Dorf. Eines Tages kommt der „Andere“ in das Dorf. Das ist ein exotisch aussehender Mann mit ungewöhnlichen Verhaltensweisen, der sich allein dadurch meilenweit von der Lebenswelt der Dorfbevölkerung entfernt. Er mietet sich im Gasthof ein und bleibt in seiner allgegenwärtigen Sichtbarkeit unsichtbar. Der „Andere“ wandert mit Zeichen- und Notizblock im Dorf und in den Bergen herum. Ansonsten schweigt er. Der „Andere“ versucht sich überhaupt nicht den Dorfbewohnern zu erklären. Die Gerüche über ihn kochen hoch: „Dieser Mann war wie ein Spiegel [...] er sagte nichts, man sah nur sich selbst in ihm.“ Am Ende steht der kollektive Mord an ihm, über den Brodeck, der daran nicht beteiligt war, einen Bericht schreiben soll. Die Gewalt der fremden Truppen, die Claudel mit dem altertümlich klingenden Wort „Fratergekeime“ bezeichnet, ist auf fruchtbaren Boden gefallen. Denn die  Dorfgemeinschaft war auch schon vor ihrer Ankunft alles andere als friedlich. Der Keim der Gewaltsamkeit steckte tief hinter den verkniffenen Gesichtern. Denn wer einmal Blut geleckt hat, giert immer wieder danach.

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