Lyrikstimmen

Lyrik

Autoren:
Christiane Collorio, Peter Hamm, Harald Hartung, Michael Krüger
Besprechung:
Frank Milautzcki
 

Lyrik

Ein Fundus der Begegnungen und Überraschungen – Lyrikstimmen

Um Interpretationen geht es. Ein gutes Gedicht kann mehr, als jedes Vorlesen ausweisen oder provozieren kann und tut das in jedem Leser auf sehr private Weise. Zur Authentizität eines Gedichtes gehört, wie es sich in den inneren Kontext des Lesers fügt. Dort wird es auf ganz individuelle Art fertig und wahr. Als Interpretation. Es erhält seinen eigenen Rhythmus, einen Tonfall, eine Bedeutung und wird eingenäht in die persönliche Geschichte. Ein Gedicht zu lesen ist stillschweigend ein intimer Akt. Die Lyrikstimme ist eine innere Stimme, die eigentlich nicht vertont werden kann, weil sie als akustischer Fakt beladen wird mit Attributen und Gebärden, die nicht jenen entsprechen, die im Leser passieren. Deswegen kann ein vorgelesener Text immer nur ein Hinweis sein auf Mögliches, das im Anderen geschieht, auf die Art und Weise, wie der Andere diesen Text in seinem Inneren begleitet und sei dieser Andere der Autor. Das expressive Darstellen dieser Geschehnisse ist eigentlich ein Job, den in der Regel weder der Leser noch der Dichter gut beherrschen (die sich doch eher in der Stille begegnen) – es ist ein Job für Schauspieler, Darsteller, geübte Leute, die wissen wie man Theater macht.

Es ist heute manchmal so, daß ziemlich mittelmäßige Dichter ihre Texte ansprechend und gut performen und eher deswegen beeindrucken und sehr rasch Erfolg haben, als aufgrund der Qualität ihrer Texte. In der Spitze äußerst sich das so, daß sich eine neue Gattung herausgebildet hat, die medial besser verwertbar ist und leichter konsumierbar: der poetry slam. Hier wird der Text zum Teil des „acts“, zum script der show, löst sich aus dem geschriebenen und lesbaren Zustand und kann nicht mehr isoliert in und durch die Welt. Der Erfolg hängt nicht ab von der Güte des Geschriebenen, sondern vom Unterhaltungswert des persönlichen Vortrags – einen Slam gewinnt nicht der Text, sondern sein Interpret.
Es gibt seit Jahren Tendenzen in der Literatur und auch in der Lyrik, nicht erst seit Kling, das Geschriebene „ansprechender“ vorzutragen. Einige Verlage legen ihren Büchern mittlerweile CD’s bei und erweitern damit die Eigenschaften der zugrundeliegenden Literatur ins Akustische. Die Darstellung von Literatur, ihre Performance wird immer wichtiger. 

Mit der Sammlung „Lyrikstimmen“ haben wir nun erstmals einen Eindruck, wie sich der Vortrag eines Gedichtes über die Zeitläufte hinweg verändert hat. Sie präsentiert akustische Versionen von 420 Gedichten, gelesen von 122 Dichtern, aufgenommen in den Jahren 1907 bis 2007, einhundert Jahre vorgetragene Poesie, herausgegeben von der Lektorin Christiane Collorio und den Dichtern und Schriftstellern Peter Hamm, Harald Hartung und Michael Krüger. Neun CDs und über 600 Minuten Gedichte, wie sie von ihren Autoren gelesen werden. Man hat das Material aus Rundfunkarchiven und privaten Quellen zusammengetragen, über mehrere Jahre hinweg, hat Nachlässe durchstöbert, Erben ausfindig gemacht und angeschrieben, Suchanzeigen geschaltet, Vergriffenes in Antiquariaten nachgefragt und gefunden. Und so sehr viel Erstaunliches und manchmal auch Exklusives gefunden: Thomas Bernhards Texte "Bibelszenen" und "Geflüster" bspw. sind nicht nur die einzigen Lyrikaufnahmen, die es von ihm gibt, sondern waren bislang unveröffentlicht.

Wenn ich auf der ersten CD der Sammlung Hugo von Hofmannsthal frühe Aufnahme von 1907 höre, eine angestrengte Litanei die viel Jammerhaftes hat  - „manche freilich müssen drunten sterben“ – , dann zerbricht in mir das, was ich beim Lesen des Gedichtes für mich selbst einmal entdeckte. Das Gedicht ist nicht mehr dasjenige allein, das mit mir spricht, sondern hinzu tritt ein Mensch und seine Gebärde, der völlig andere Töne und Farben daraus entpackt. Das mag in vielen Fällen spannend und überraschend sein, oft ist es eine Enttäuschung. Von Hofmannsthal bspw. betet vor sich hin und teilt nichts und nicht mit. Er betet ein Gedicht vor, das er meint geschrieben zu haben und spricht nicht das aus, was vor ihm steht. Wie tief und sonor und aus einer großen Stille muß ein Satz kommen wie „manche freilich müssen drunten sterben, / wo die schweren Ruder der Schiffe streifen“ und wie kläglich sperrt er das ein in einen angestrengten, loseilenden dünnen Rhythmus mit dem er dem Inhalt davonsalbadert.

zurück