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Literatur: Zwischen Hurra und Todesangst: Kinder im Ersten Weltkrieg
Donnerstag, 15.05.2014, 10:42
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dpa/dpa Ein Junge bringt am 1. August 1914 Koffer und Gewehr seines Vaters zum Bahnhof.
„Ich freue mich jetzt auch schon sehr, dass ich den Krieg miterleben kann. Ich bin ganz stolz“, schreibt die 14-jährige Agnes Zenker, genannt Nessi, beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs in ihr Kriegstagebuch.

Wie die überwältigende Mehrheit der Deutschen zeigt sich die Tochter eines sächsischen Försters vollkommen siegesgewiss. Der frühe Angriff der Deutschen auf die befestigte Stadt Lüttich lässt sie denn auch jubilieren: „Die Feinde staunten alle. Zeppelin hat das meiste gemacht. Er hat tüchtig Bomben geworfen.“

Wie Nessi wurden viele Kinder von ihren Lehrern dazu angehalten, Kriegstagebücher zu führen. Man glaubte, glorreichen Zeiten entgegenzugehen und die Jungen und Mädchen sollten stolze Zeugen sein. „Ich freuʼ mich schon, wenn ich meinen Enkeln mein Kriegstagebuch zeige“, schreibt Nessi. Sie alle konnten nicht ahnen, dass diese im patriotischen Überschwang begonnenen Aufzeichnungen zu Chroniken der Trauer und des Schmerzes werden sollten. Der Krieg zerstörte ihre unbeschwerte Kindheit und prägte sie für den Rest des Lebens.

In ihrem Buch „Kleine Hände im Großen Krieg“ haben Yury und Sonya Winterberg ganz unterschiedliche Kinderschicksale aus dem Ersten Weltkrieg versammelt. Es sind unbekannte Kinder dabei wie Nessi, aber auch prominente Namen wie Simone de Beauvoir, Anaïs Nin oder Elias Canetti. Die Jungen und Mädchen kommen aus Deutschland, Frankreich, England, Russland, Kanada und anderen Ländern. Schließlich war es der erste weltumfassende Krieg und Kinder litten überall.

Erzählt werden „normale“ Kriegsbiografien, also die Geschichte von Kindern, die zu Hause vielerlei Entbehrungen zu erdulden hatten und vaterlos aufwuchsen, aber auch ganz außergewöhnliche Schicksale. Dazu gehört das fast schon romaneske Leben der russischen Kindersoldatin Marina Yurlowa. Das Kosakenmädchen kämpfte jahrelang an der Front. Später wurde sie Tänzerin.

Die Mechanismen der Propaganda glichen sich überall auf erschreckende Weise. Schon die Schulen gaben ihren Schützlingen das gewünschte patriotische Rüstzeug mit auf den Weg. In England gab es die illustrierte Fibel „ABC for Baby Patriots“, in Frankreich das „Alphabet des Großen Krieges“, in Deutschland wurde der Hass auf den Feind in Aufsätzen geschürt. Ein typisches Aufsatzthema im Krieg hieß etwa: „Übertragen Sie den Wolf und das Lamm auf den aktuellen Krieg. Bedenken Sie vor allem die Art und Weise, wie unsere Feinde den Krieg provoziert haben!“ Kein Wunder, dass die Saat aufging.

Eher harmlos mutet da noch der chauvinistische Furor der kleinen Simone de Beauvoir an, deren Kampf gegen den „Erzfeind“ mit der Zerstörung ihrer Zelluloidpuppe begann, weil auf ihr leider „Made in Germany“ stand. Bedeutend schlimmer war der törichte Eifer vieler Jungen, im kindlichen Alter Heldenmut zu beweisen.

Das Buch enthält zahlreiche tragische Beispiele pubertierender Jugendlicher, die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen frühzeitig zu Soldaten wurden und als Kanonenfutter endeten. Sie stellten sich den Krieg wie der vierzehnjährige Brite Horace Calvert als ein einziges großes Abenteuer vor: „Ich hatte das Gefühl, dass dies ein großartiges Leben sein müsste“. Stattdessen wurde es ein Abstieg in die Hölle. Manche dieser Jugendlichen desertierten. Zu den erschütterndsten Szenen im Buch gehört die Erschießung eines solchen jugendlichen Deserteurs, der in seiner Todesangst nach seiner Mutter ruft.

Am Ende steht bei allen die große Ernüchterung. „Ich habe nie gedacht, dass ich einmal so grässlich unpatriotisch sein würde, wie ich jetzt bin“, schrieb Nessi am 4. November 1918 in ihr Tagebuch. „Alles in mir schreit nur immer: Frieden, Frieden, Frieden!“ Und der Franzose Yves Congar empfindet nur noch eine große Müdigkeit: „Ich möchte alles aufgeben, mein Tagebuch, alles, ich möchte einfach nur noch daliegen und schlafen, bis der Krieg vorbei ist.“ Das Tragische an dieser Generation ist jedoch, dass das Kriegserlebnis für sie noch nicht vorbei ist. Denn aus den Kindern dieses Krieges sollten die Soldaten des nächsten werden.

- Yury und Sonya Winterberg: Kleine Hände im Großen Krieg. Kinderschicksale im Ersten Weltkrieg. Aufbau Verlag, Berlin, 368 Seiten, 22,99 Euro, ISBN 978-3-351-03564-8.

dpa
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