Der Graf lehrte uns wieder, den Kitsch zu lieben. “Ich wünsche dir, dass du immer glücklich bist, und das Leuchten deiner Augen niemals erlischt” widmeten Mütter ihren Söhnen, “die Zeit fliegt viel zu schnell an uns vorbei, ich halte dich, ich will nie mehr alleine sein, mh-mh-mh-mh, mit dir will ich unsterblich sein” ... schworen sich Liebende mit Tränen in den Augen.
Ich habe ihn erst spät entdeckt, denn in Australien war seine Musik nicht im Radio (wie die seiner Landsleute Rammstein, an deren Stil er manchmal entfernt erinnert) und in Wien und Graz habe ich seine Auftritte verpasst. Vielleicht kann ich dem PhänomenUnheilig beim wirklich „letzten Mal“ auf den Grund gehen. Warum mag ich diese neue deutsche Schlagermusik?
Ein Zitat aus dem Pressetext – Es ist der Abschluss einer beispiellosen Karriere: mit dem neuen Album „Gipfelstürmer“ verabschieden sich der GRAF und Unheilig musikalisch von ihren Fans. Das achte Studioalbum von Unheilig markiert zugleich den Höhepunkt einer 15 jährigen Bandgeschichte, die im deutschen Musikbusiness neue Meilensteine gesetzt hat. Mit dem sechsten Studioalbum „Große Freiheit“, das für über 1,7 Millionen verkaufte Exemplare mit 7fach Platin ausgezeichnet wurde, stellten Unheilig 2010 einen neuen historischen Chart-Rekord auf: 15 Wochen belegte das Album mit dem Überhit „Geboren um zu Leben“ ununterbrochen Platz 1 der Albumcharts und verdrängten damit Herbert Grönemeyer mit seinem Album „Ö“ vom Allzeit-Thron, den dieser seit 1988 belegte. Über drei Millionen verkaufte Tonträger, Millionen begeisterter Fans auf mehreren hundert Konzerten, Auszeichnungen wie „Echo“, Goldene Kamera“, „Bambi“ oder „Bundesvision Song Contest“: mit den letzten beiden Studioalben „Große Freiheit“ und „Lichter der Stadt“ eroberte der GRAF mit seinen Songs die Herzen eines Millionenpublikums und wurde innerhalb weniger Jahre zu einem der erfolgreichsten deutschsprachigen Musikkünstler des neuen Jahrtausends. Nun erscheint mit „Gipfelstürmer“ wiederum ein Konzeptalbum, das, obwohl es einen Schlusspunkt setzt, doch zugleich den großen Bogen spannt zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Das große Abenteuer „Unheilig“ geht langsam zu Ende. Wir alle durften Teil dieses Abenteuers sein und im Verlauf der letzten Jahre auch die Wandlung einer Künstlerpersönlichkeit sehr nah erleben und verfolgen, der der Schutz der Privatsphäre immer noch über alles geht. Wir haben einen Künstler erlebt, der durch seine Songs und die Liebe seines Publikums stetig gewachsen ist und seine Ängste besiegt hat. Einen Künstler, der den Schutz farbiger Kontaktlinsen und Fingernägel nicht mehr braucht, und der sein Stottern nicht mehr zu verstecken versucht, weil Musik seine Sprache wurde und millionenfach verstanden wird.
Aber der Graf wäre wohl nicht der Graf und Unheilig, wenn er ohne ein großes und besonderes Abschiedsgeschenk die Musikbühne verlassen würde. Das neue Album „Gipfelstürmer“ und die folgende gleichnamige Abschiedstournee werden noch einmal ein Zeichen setzen. Der allerletzte Vorhang wird für Unheilig auf einem besonderen Konzertereignis im September 2016 fallen.
Und so endet der Abschiedsbrief des Grafen mit den Worten: „Ich möchte euch alle bitten, die Botschaft meiner Texte und Songs mit all den positiven Werten in die Zukunft zu tragen und an Eure Liebsten weiter zu geben. Die Musik wird bleiben und der Glaube, die Hoffnung und das Gute daraus werden ebenso bleiben und überleben.“ – soweit der Pressetext. Meine persönlichen Eindrücke folgen.
“Ein letztes Mal” lässt UNHEILIG also nach mittlerweile 16 jähriger Bandgeschichte doch noch von sich hören. Freitag, 1.7. sieht man den Grafen in Graz, allerdings nicht Open Air wie angekündigt, sondern in der Stadthalle. Das in Österreich letzte Konzert am Samstag, 2.7. in Wien wird aufgrund der umfassenden Bautätigkeit am Gelände Krieau in den Festivalpark Marx Halle verlegt. Alle Termine: www.unheilig.com/termine/tour
Ein letztes Mal eroberte der Graf im Schweiße seines Angesichts die Herzen der Grazer.
Der Graf singt ein letztes Mal vom kleinen Stück vom Glück und ich war live dabei, als das Phänomen UNHEILIG sich für immer verabschiedete, herzlich, warm und vom Grazer Publikum geliebt bis in alle Ewigkeit. Leider war ich alleine in der Stadthalle, hatte sozusagen eine Audienz beim Grafen ohne Fotogräfin, sodass mein neues iPhone zum Einsatz kommen musste.
Aber was solls, es gibt genug professionelle Aufnahmen von unserem sympathischen Helden. Nach 16 Jahren auf der Bühne ist es auch kein Wunder dass er sich sehr fotogen bewegt und ganz genau weiß, wie er rüberkommt. Er läuft, fit wie ein Turnschuh, von Rand zu Rand um sich jedem zu posen. Das deckt sich mit Beobachtungen einer Freundin, die ihn beim Konzert vor zwei Jahren gesehen hat.
Meine zweite Freikarte fand auch nach einigen Telefonaten in letzter Minute keinen Ersatzbeschenkten mehr und verfiel, also schlenderte ich durch die Reihen der geschätzten 5,000 Konzertbesucher und wie erwartet fand ich auch einige alte Bekannte in der UNHEILIG Fangemeinde.
Apropos schlendern: Ich bin es gewohnt, ständig meinen Platz und damit meine Perspektive auf das Geschehen zu verändern, die meisten Besucher scheinen jedoch am einmal gewählten Ort zu kleben, was mir ein, zwei rüpelhafte Bemerkungen einbrachte. Ein älterer Herr wurde beinahe handgreiflich, als ich seine Plastikbecher vom freien Sitz stellte, um mich auszuruhen. Ich kann einfach nicht mehr zwei Stunden nonstop stehen. Das wiederum brachte mir binnen Minuten die höflichen Aufforderungen der Security Männer von rechts und links ein, die mir erklärten, dass das Publikum auf Stehplätzen eben zu stehen habe. Nachdem ich beiden gesagt hatte, dass mein Sitzbedarf medizinische Ursachen habe, ließ man mich in Ruhe, hätte mich aber am liebsten mit einem Sanitäter entfernt. Man kann sich doch nicht einfach an der Absperrung hinsetzen und ausruhen!
Während ich mir das Gebotene aus jedem Winkel anschaute und in den vordersten Reihen sogar in schmerzhafter Laustärke, die einem die Innereien erschüttert, anhörte, gingen mir die Lichter (der Stadt) auf, warum ihn die Menschen lieben –
Sie verstehen ihn, da er auf Deutsch singt (ich erinnere mich noch gut an ein Frank Zappa Konzert in Graz, das den Künstler total frustrierte, da er keine Verbindung zum Publikum herstellen konnte. Wir gehen immer davon aus, dass Englisch-Kenntnisse weitverbreitet sind, aber Texte versteht man in der eigenen Sprache schwer, wie ist das erst in der gesungenen Fremdsprache ...
Er verwendet Reime, wenn auch mitunter holprige, die man sich leicht merken kann, und auch keine allzu anspruchsvolle Sprache, sondern bewährten Schlager-Wortschatz. Ich bin immer wieder fasziniert, wenn ich mich umsehe, wie seine Fans die Worte synchron mit den Lippen formen, weil sie alle Texte kennen ...
Er bezieht das Publikum mit ein, zum gemeinsamen Singen (auch wenn es nur la-la-la ist), zum Mit-klatschen, -hüpfen und -tanzen, oder die Hände wiegen, mit oder ohne Handys/Feuerzeuge. Und alle tun es, bis in die hintersten Reihen, weil die Musik so schön zeitgenössisch dazu rockt.
Auch wenn ich seine Botschaften in Erinnerung rufe, ist keinerlei Schaden getan, wenn er etwa von der Liebe zu seiner Mutter singt. Ganz anders als seine deutschen Kollegen Rammstein (Gewaltverherrlichung), Sido (Scheiße in dein Ohr) oder Xavier Naidoo (der christliche Missionar). Durchaus positiv ist seine Hingabe zur Musik, die er den Zuhörenden durch sein eigenes Beispiel nahe bringt, da Singen ihn vom stotternden Kind zum selbstbewussten Erwachsenen gemacht hat, der sein mit Schweiß durchnässtes Handtuch, das er sowohl ekelig als auch geil findet, einer Frau im Publikum zuwirft. “Danke schön!”
Manche der Lieder von UNHEILIG werden mich wohl begleiten, wenn mir nach Kitsch und Romantik zumute ist. Man darf schließlich all seine Gefühle leben und Männer dürfen auch weinen.
Ursprung, am 2. Juli 2016
PS.: Beinahe hätte ich vergessen zu erwähnen, dass der Graf am Ende des zweistündigen Konzerts als letztes Überraschungsgeschenk für die treuen Fans ein neues Album von UNHEILIG ankündigte, das nach dem Ende der Tournee erscheinen werde. Kluges Marketing, denn schließlich ist die Musikbranche Big Business.