(In
einem Erdteil, wo heutzutage die Kriegsposaunen laut dröhnen.)
In
der ganzen Welt wollen die Eltern ihre Kinder zur Dämmerung bei
sich haben. Das ist ein Faktum. Meiner Meinung nach sollte es keine
Ausnahme von dieser Regel geben. Von New York bis Motihari. Unter schneeweißen
sonnenarmen Skandinaviern. Und unter den in der Sonnenhitze gerösteten
südlichen Völkern.
Stückchenweise
verschwindet am Horizont die rote immer größer werdende Scheibe,
die Vogelscharen fliegen zu ihren Horten zurück, und das Familiennest
dürstet nach dem Zusammensein.
Und
nicht selten vergessen die spielenden Kinder die Mahnungen ihrer Eltern,
abends rechtzeitig zuhause zu sein. In manchen Ländern wird es
in Gassen gerufen: Mamas und Papas artikulieren deutlich und laut die
Namen ihrer Lieblinge. In manchen Ländern wird wiederum an die
Tür des Nachbars geklopft, auf den Spielplätzen gesucht, ...
bei Freunden angerufen.
Es
gibt brave Kinder. Es gibt auch weniger brave Kinder, die nicht immer
den Eltern gehorchen. O Weh! Dann gibt es welche, die in ihrer Neugier
an einzelnen Abenden ein Geheimnis aufklären oder vielleicht auch
ein Rätsel lösen möchten. Sie möchten weiter erforschen,
weiter suchen.
So
einer ist der Junge Winton in Graham Greens Geschichte Under the
Garden. Eines Abends wird der Kleine richtig von seinem Entdeckungsdrang
gepackt, und er möchte die Geheimnisse des Haussees samt seiner
Insel erforschen. Beim Einbruch der Dämmerung versteckt sich Winton,
währenddessen sein braver älterer Bruder ihn vergeblich sucht.
Eine Weile, weil sich der gehorsame George vor der anbrechenden Dunkelheit
fürchtet. Er zieht ins Haus zu der Mom zurück.
In
unserer Familie gab es wenig Ermahnungen. Vielmehr dirigierten uns die
Regeln. Ja, die Gesetze von Herrn Papa mussten ausnahmslos befolgt werden.
Und Papa hat das Grundgesetz erlassen, dass jeder vor dem Sonnenuntergang
im Haus anwesend zu sein habe.
Papa
rief mich in Motihari laut, und wenn ich mich nicht in seiner Sichtweite
befand, dann erschallten seine Rufe in engen Straßen, die abends
allmähnlich immer leerer wurden. In den Ferien, als uns mein großer
Bruder aus dem Internat besuchte, hörte man zwei liebkosende Kindernamen,
deren Silben sich aufeinander so schön reimten. Sobald jene Laute
unsere Ohren erreichten, antworteten unsere Münder automatisch:
Ja Papa, wir kommen!
Hinzu
fällt mir eine kuriose sehr amüsante Anekdote ein. Ein neuer
Straßenverkäufer, dessen Stimme auffallend der Papas ähnelte,
begann in jener Zeit durch die Gassen unseres Wohnviertels zu kreuzen.
Und immer wenn er den Namen seiner Köstlichkeit aus Nüssen
wiederholt hintereinander laut rief, hörte ich meinen und den Namen
meines Bruders in Papas Stimme. Prompt antwortete ich darauf wie ein
Automat: Ja, ich komme! Sofort wurde mir jedoch die Tatsache
auch nach meinem wiederholten Durchsuchen des Hauses bewusst,
dass weder Papa noch mein älterer Bruder da waren. Verwundert fragte
sich meine Kinderseele, ob ich richtig gehört hatte oder mir die
Rufe bloß eingebildet hatte. Mein Kinderhirn rätselte. In
den darauffolgenden Tagen hörte ich noch einige Male die merkwürdigen
Rufe, auf die ich mechanisch antwortete. Dann wunderte ich mich. Es
vergingen noch einige Tage, bis ich selbst der Sache nachging, und die
Wirklichkeit peinlich lachend herausfand einen Trödler!
Zuhause
gab es abends erstmal einen kleinen Snack, und dann gingen wir, vier
Geschwister, ins Lesezimmer. Mal döste einer hinter seinem Buch.
Mal nahm einer ein kleines Nickerchen an seinem Schreibtisch. Aber nur,
wenn die Gefahr von Papa nicht in unmittelbarer Nähe lauerte.
Reminiszenzen!
Wenn ich mich heute in Europa während der Weihnachtstage an meine
östliche Welt so schön erinnere, unterhalte ich mich zugleich
darüber mit dem Schüler Anton. Anton wird 19 und macht sein
Abitur in der Waldorfschule Kassel. Anton stimmt mir zu und versucht
sehnsuchtsvoll auf seine Kindheit mit seiner alleinerziehenden Mutter
zurückzublicken: Stimmt! Die Mutter kam oft zum Spielplatz
und holte mich ab, denn es wurde auch Zeit zum Abendbrot ... Aber ich
werde demnächst meine Mutter fragen, was ihr dazu einfällt
... Damals lebten sie, Anton und seine Mutter, in Berlin. Antons
Mutter wohnt jetzt in Hamburg, und sie kommt regelmäßig nach
Kassel.
Die
Spielplätze meiner Kindheit waren die Straßen von Motihari.
Damals war jene kleine ostindische Stadt nicht übervölkert,
und die trockenen sauberen Straßen eines jeden Wohnviertels waren
ideal für unsere Spiele: Marmorkügelchen, Kreiselräder,
Badminton, ...
George
Orwell erblickte die Welt in dieser ostindischen Stadt (Bundesland Bihar),
und Mahatma Gandhi startete 1917 Satyagrah, den gewaltlosen Widerstand.