1
Schnee. Zwischen den Palmen,
Orchideen und Farnen hält sie es nicht lange aus. Vor der
Pyramide wartet ihr Mitsubishi Colt.
In voller Kriegsbemalung über die East Terrace ist sie sofort
im Tandanya.
Der Motorenlärm macht ihr nichts aus, dass sie allein
essen muß. Sie genießt ihr Känguruhsteak,
während die Boliden ihre Runden drehn.
Ihr kann keiner etwas erzählen. Sie ist auf vereisten
Straßen aufgewachsen: schleudernd, driftend und
springend.
Die fliegende Frau im fliegenden Colt: Das ist sie: Die wildeste
Reiterin: Aus dem Staub ins Licht der Publicity.
Sie hat eine imponierende Abschußliste, aber wieviele Autos
genau sie zu Totalschäden umgebaut hat? Für die meisten
Autos ist sie einfach zu gut.
Der Colt ist nicht umzubringen. Und Alice kommt wie immer zu
spät.
Aber das ist ihre gemeinsame Strategie: Zuerst die andern
davonrasen lassen, dann zuschlagen, aus letzter Position, wenn die
andern im Dreck stecken.
Sie hält die Augen geschlossen, und Alice liest ihr das
Gebetbuch vor: Die Fahrt: Die Kontrollpunkte: Dazwischen ist
leerer Raum.
Wie oft sind sie die Strecke gefahren, von hier nach Darwin und
zurück? Sie hat alle Angaben gemacht, und Alice hat wie
verrückt mitgeschrieben. Die Reinschrift haben sie immer
wieder überprüft und verbessert und neue Abschneider
ausprobiert.
Ohne die Kontrollen würden sie von Port Augusta 700 km nach
Nordwesten preschen und an der Schnittstelle mit der Bahnlinie
direkt nach Norden hochstechen. Zwischen den Olgas und Ayers
Rock.
Mit Vollgas. Ein Durchhalter hat keine Chance zu siegen. Die Autos
sind alle perfekt, sie lassen sich nicht zerbrechen. Man kann sie
höchstens zu vorsichtig fahren.
Vollgas. Der linke Fuß ist für die Kupplung, genauso
wie der rechte Fuß zum Lenken bestimmt ist, und sie lenkt
mit den Hinterrädern, an denen die Pferdestärken ins
Freie drängen.
300 PS für eine 3000 km lange Kunstflug-Übung.
Während Alice in das Gebetbuch schaut und über das
Navigations-System GPS die Daten vergleicht.
Alles trocken. Staub, brauner und roter Staub.
Staub, der durch alle Ritzen dringt.
Staub, der Minuten lang stehenbleibt.
Die freie Straße dort vorne vor diesem Meer aus Staub.
Die Straße ist plötzlich aus.
Jump, ruft Alice, als sie mit dem Heck voran aus der Kurve
kommt.
Eine Kurve, Sonne fällt plötzlich ein. Staub und Sonne
und Blindheit.
Im Blindflug im Staub.
In einer riesigen Staubfahne, ohne dass jemand vor ihr
fährt.
Straight heißt Vollgas. Sie vertraut Alice rückhaltlos.
Eine andere Fahrerin würde sich eine Reserve behalten, um bei
einer zu voll angesagten Kurve korrigieren zu können.
Aber schließlich geht es geradeaus. Alice findet immer neue
Abschneider, aus dem Stand. Alice weiß, wie man Karten
faltet.
Kein lokaler Verkehr, keine Straßensperren wegen
Bauarbeiten, keine Umleitungen. Hier gibt es nur sie und den
Colt.
Sie bleibt auf dem Gas, und wenn die Vierte wimmert, schaltet sie
auf den Dreier, immer noch Vollgas, und wenn der Dreier winselt,
geht sie auf den Zweier, der Zweier ist erschöpft, auf den
Einser.
Alice hat den schlechteren Schlaf. Alice schläft auf den
schnellen Verbindungsetappen, während sie auf den langsamen
schlafen kann. Und Alice fährt so weich und geschmeidig,
dass sie etwas Schönes träumen kann.
Der Colt beginnt sich langsam von innen zu öffnen, das Dach
und die Türen passen nicht mehr.
Um das Dach nicht zu verlieren, holen sie es mit Draht nieder und
machen die Türen mit Ketten fest.
Weiter nach Ti-Tree, sie fährt auf Angriff, obwohl die Gegner
abstrakt sind, keine Spur von anderen Autos, die Abschneider sind
genial.
Alice ist am Ende der Konzentrationsfähigkeit, und der Colt
wird immer weicher und niedriger.
Sie schnallt sich in die Beifahrer-Gurten, und Alice fährt,
bis alles zu flimmern beginnt: der Himmel, die Luft, die
Straße, und Alice wird immer langsamer.
Alice bleibt stehn, und sie wechseln die Plätze.
Sie kann das: Schlafen auf Befehl. Sie ist eine
Kunstschläferin: Eine Minute Schlaf bringt sie wieder 20
Minuten weiter.
Die Piste wird weich, sehr weich. Tiefe Rillen, und sie stecken
fest. Sie legen Schneeketten an. Und weiter. Bis eine
Radaufhängung bricht. Sie reparieren den Schaden mit den
Sicherheitsgurten und erreichen Batchelor.
Oder Balaklava? Noch 91 km. Alice knüllt die Karte zusammen.
Als das Ziel schon zu riechen ist.
2
Das Meer. Jedesmal, wenn sie an
Bord geht – auf die Away führt eine veritable,
bequeme Treppe – betritt sie eine neue, andere Welt – Achterdeck
und umlaufende Decksflächen vermitteln niemals das
Gefühl von Beengtheit.
Jedesmal, wenn sie in ihrer Kabine erwacht und an die Decke –
Zierleisten aus dunklem Rosenholz – schaut, möchte sie
nirgendwo anders sein – große Fensterflächen und helle
Farben machen die Away zu einem einzigen lichten, luftigen Raum,
die vielen Spiegel.
Der Niedergang ist ein Kunstwerk mit halbrund ausgeformten Stufen
– Messinggeländer im Pub-Stil.
Spektakulär das anderthalb Stockwerke hohe Bad – rosa Marmor
– mit Wendeltreppe und Whirlpool – sie hat es gern, wenn das
Wasser bei schwerem Wetter überschwappt.
Die Duschtassen für die Crew sind mit jeweils drei
Abläufen versehen, einer in der Mitte, zwei weitere an jeder
Seite, so dass ein Duschbad, auch wenn die Away kräftig
Lage schiebt, möglich ist.
Die Mannschaftsräume neben dem Kontrollraum – vor dem
schallisolierten Motorraum – sind großzügig
dimensioniert und mit allem Komfort ausgestattet.
Der Salon – mit Bar und Piano, auf dem sie jedesmal spielt, wenn
die See ruhig ist – die dezente Sitzgarnitur verschwindet auf
Knopfdruck und gibt eine Tanzfläche frei – damit sich das
Auge nicht verliert, sind die Wände durch
Holzvertäfelungen – dunkles Rosenholz – unterteilt – und
das Eßzimmer – dunkles Rosenholz – und die Küche –
dunkles Rosenholz natürlich auch in der Küche, dunkles
Rosenholz zieht sich leitmotivisch durch die Away – und nach vorn
der Steuerstand – das kunstvoll gestaltete Steuerrad aus Bronze
– mit benachbartem Sitzarrangement – die hydraulisch versenkbare
TV- und Videoanlage – gehen fließend ineinander über,
sind großzügig konzipiert und schaffen
abwechslungsreiche, niemals langweilige Sichtachsen.
Jedesmal nach dem Aufstehn geht sie als erstes an Deck – die Away
bietet jede Menge Open-Air-Platz: die große Badeplattform
mit darüberliegender Boots-Garage – das Beiboot ist so
untergebracht, dass es die freie Sicht und die harmonische,
schlanke Linienführung nicht stört: ganz oben die
Flybridge zum Entspannen – der kreisrunde Pool – und zum
Sonnenbaden – die Sonnenliegen: dazwischen das offene Achterdeck
mit Eßplatz und einer Sitzlandschaft, um sich darin zu
verlieren – und schaut aufs Meer.
Die schönste Zeit des Tages verbringt sie damit, aufs Meer zu
schauen – vom Bett aus, wenn sie erwacht – sie schaltet den
Fernseher ein – die Weltnachrichten, die Großwetterlage –
von der Küche aus – die Espressomaschine – und vom Bad aus
– und läßt den Whirlpool, der auf einem Podest liegt,
mit dem Blick nach außen, ein.
Nach dem Frühstück, das sie auf Achterdeck mit der Crew
– auf ihre Männer kann sie sich verlassen – einnimmt, hat
sie keine Zeit mehr, die Aussicht zu genießen: Reinschiff
machen – einmal täglich, die Maschinen warten –
regelmäßig, am Steuer stehen – ständig – und
über das Satelliten-Navigations-System GPS die Daten
vergleichen.
Nach dem Abendessen – zu Mittag genügt ein Sandwich und eine
Flasche Mineral – auf dem Steuerstand, während sie das
Abendessen im Eßzimmer einnimmt – am Sonntag gemeinsam mit
der Crew – der Tisch ist jedesmal festlich gedeckt – kommt sie
endlich zur Ruhe – hin und wieder eine gemeinsame Partie Domino
– eine glückliche, motivierte Crew ist notwendig, wenn sie
ihr Leben auf See verbringen will – im Salon – an der Bar und am
Piano – sie spielt jedesmal, wenn die See ruhig ist – bei hoher
See läßt sie die Sitzgarnitur verschwinden und schaltet
die Lichtanlage ein – und im Bett – vor dem Schlafengehn
trägt sie den Tag ins Logbuch ein
Montag: Das Meer. Funkgespräche. Der Himmel ist
wolkenlos.
Dienstag: Das Meer. Funkgespräche. Das Wetter hält.
Mittwoch: Das Meer. Meine Freiheit heißt Abhängigkeit:
Vom Wetter.
Donnerstag: Der Himmel. Das Meer.
Freitag, Samstag, Sonntag: Himmel und Meer sind nahtlos
zusammengeschweißt.
Sie löscht, nachdem sie den Fernseher am Fußende ihres
Betts – In jedem Fall blieb eine Senke zurück, die sich nach
und nach mit Wasser füllte, das riesige abgerundete Becken.
Die Ränder sind von Inselketten umsäumt, die parallel zu
den Küsten der Kontinente verlaufen. Die Bögen der
Inseln, der Gräben auf seinem Grund. Die Wölbungen sind
nach dem Zentrum gerichtet. Der Feuerring, der es umspannt. Beben,
Vulkanausbrüche. Der mächtige Rücken, der alles
teilt. Zwei ungleiche Teile, durch Rücken, Schwellen und
Hügel kreuz und quer zergliedert. Die Kegel sind über
den ganzen Boden verstreut. Hügelgruppen. Der Grund ist mit
Sedimenten gefüllt. Wellige bis völlig ebene Ebenen.
Hügel. Berge. – mit Knopfdruck versenkt hat, das Licht.
3
Sonne fällt plötzlich
ein. Staub und Sonne. Sie weiß nicht, wohin sie fährt,
immer geradeaus.
Vollgas.
Bis sie erwacht. Das Zimmer ist leer.
Bis auf den Schrank gleich neben der Tür, der Fernseher steht
auf dem Tisch, zwei Sessel, zwei Nachtkästchen, und das
Telefon auf der Seite des Betts, wo sie liegt und
schläft.
Wenn sie schlafen will, legt sie sich auf die rechte Seite, die
linke Hand auf den linken Oberschenkel, die rechte Hand unter das
Kinn und verschließt das rechte Nasenloch.
Die Beine sind ausgestreckt. Wenn sie schläft, hat sie keine
Hände.
Wenn sie erwacht, ist hellster Tag. Sie dreht den Fernseher auf
und geht ins Bad.
Bevor sie schlafen geht, macht sie die Vorhänge auf. Damit
sie die Sterne sehen kann, wenn sie schläft.
Traumlos.
Das Bett steht, wo es steht, mit dem Kopfende gegen die Wand, am
Fußende steht der Tisch und die beiden Sessel, der Schrank
steht gleich neben der Tür, gegenüber vom Fenster, wo
sie steht und schaut, in den Himmel geknüpfte Knoten.
Sie kann sich an alles erinnern, was sie erlebt hat während
der Nacht, keine Träume.
Das Licht.
Sie erwacht, und der Fernseher läuft. Der Mann steht am Ufer
und wirft einen Kiesel ins Wasser, sie sieht, wie der Kiesel immer
tiefer im Wasser versinkt.
Bis sie schläft.
Sie schläft.
Als sie erwacht, ist das Zimmer in hellstes Licht getaucht. Sie
beschließt, auf dem Zimmer zu frühstücken, ganz
allein und im Bett.
Wie das Messer durch die Butter gleitet.
Bevor sie sich schlafen legt, säubert sie ihre Tasse und
stellt sie umgekehrt auf das Nachtkästchen, neben das
Telefon.
Als sie erwacht, liegt ein breitkrempiger roter Hut mit Blumen-
und Federschmuck zu ihren Füßen. Die Schranktür
steht offen, so dass sie ihn im Spiegel sehen kann.
Der nachtblaue Blazer, das weiße Hemd, und der Mann
verschwindet im Bad. Sie dreht den Fernseher ab.
Sie erwacht, weil Wasser von der Decke tropft, auf das Bett, auf
den Boden, der Vorhang ist naß.
Sie reißt das Fenster auf. Ein sonniger Tag.
Kein Regenbogen.
Über dem Bett hängt das Bild eines Haarsterns oder
Kometen, eine Schwarzweißaufnahme.
Ein Sturm sprengt die Tür auf, das Fenster ist geschlossen,
und zieht sie hinaus auf den Gang, der dunkel ist.
Und am Ende des Gangs ein winziges Licht.
Sie treibt mit extremer Geschwindigkeit darauf zu, und das Licht
wird langsam größer.
Der Aufzug.
Sie erwacht, weil sie den Aufzug hört. Gleich klopft es an
ihrer Tür.
Sie erwacht. Das Klopfen an ihrer Tür. Sie schreit: Ja!
Sofort! Einen Augenblick!, während sie sich den Schlafmantel
überwirft.
Als sie öffnet, ist niemand zu sehen.
Der Aufzug ist unterwegs, nach oben.
Eine Tür geht auf, und ein Mann in einem losen weißen
Gewand eilt an ihr vorbei den Gang hinunter.
Die offene Tür.
Der Mann im Blazer hält ihr die Tür auf, so dass
sie die Frau sehen kann, ein roter Kimono und darunter das
Nachthemd, sie muß sehen, wie sie es hochhebt, langsam.
Sie läuft den Gang hinunter, zurück in ihr Zimmer.
Die Teekanne, Tassen in Scherben und Dominosteine am Boden.
Das ist nicht ihr Zimmer, sie will in ihr Zimmer zurück.
Der Colt, die Nachtkästchen und die Lampen. Der Schrank ist
voll mit fremden Kleidern: Pailletten, Silberglitzer, Steine. Der
Fernseher läuft, und sie kommt aus dem Bad. Ihr Haar ist
schwarz, und auf ihrem Kleid tanzen tausend fluoreszierende
Lichter.
Sie dreht sich herum und drückt den kleinen Knopf auf ihrem
Rücken, und der Kragen des Kleids leuchtet auf. Sie dreht an
ihrer Gürtelschnalle, und der Kragen wechselt die Farbe, von
Weiß zu Rot zu Blau.
Wenn sie nicht weiter weiß, schlägt sie in dem Buch
nach, das auf dem Nachtkästchen liegt, neben dem Telefon.
Seite 167ff.*
Wenn sie zurückkehrt, wird alles so sein, wie es ist. Das
Bett, die Nachtkästchen und die Lampen, das Fenster,
gegenüber der Schrank, der Fernseher steht auf dem Tisch,
zwei Sessel, zwei Türen: eine führt ins Bad, die andere
auf den Gang, der Tag und Nacht hell erleuchtet ist.
Der Teppich. Die Teppiche auf beiden Seiten des Betts, die
verschiedenen Muster. Der Vorhang. Die Tapete. Die Kacheln. Der
Duschvorhang. Die Badetücher und Handtücher. Die
Überzüge.
* Die Seitenangabe bezieht
sich auf Ihr Wunsch. Gesellschaftsroman von Lucas Cejpek,
erschienen im Sonderzahl Verlag, Wien 1996, dem die drei
Wunschbeschreibungen entnommen sind.
Lucas Cejpek, geb. 1956
in Wien, Studium der Germanistik in Graz, Dissertation über
Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" als Kulturtheorie,
Lehrbeauftragter, Rundfunkjournalist, lebt seit 1990 als freier
Schriftsteller, Hörspiel- und Theaterregisseur in Wien.
"Diebsgut", Essays, 1988; "Nach Leningrad. Ein Stück", 1989;
"Ludwig", Roman, 1989; "Und Sie. Jelinek in 'Lust'", 1991; "Vera
Vera", Roman, 1992; Paul Wühr: "Wenn man mich so reden
hört. Ein Selbstgespräch", aufgezeichnet v. L.C., 1993;
"Ihr Wunsch. Gesellschaftsroman", 1996.