Während unter
Literarhistorikern die These umstritten ist, dass die
australische Lyrik bis in die Mitte des 20.Jh. hinein – von
Ausnahmen abgesehen – eine lokalkolorierte Nachahmung englisch
viktorianischer Dichtkunst gewesen sei, so herrscht doch
weitgehend Einigkeit darüber, dass sie in den 60er
Jahren unseres Jahrhunderts ihre Qualität von Grund auf
veränderte. Als häufig genanntes literarisches Zeugnis
dieses Wandels gilt die Anthologie von Rodney Hall und Thomas
Shapcott New Impulses in Australian Poetry die 1968
erschien. Was war geschehen? Um es auf ein Kürzel zu bringen:
Australien war in den Jahrzehnten nach dem Krieg international
hellhöriger geworden und hatte sich vor allem den Vereinigten
Staaten gegenüber weit geöffnet. Für die Lyrik
bedeutete das die Abkehr von W.B. Yeats und W.H. Auden und die
Rezeption von T.S. Eliot, William Carlos Williams, E.E. Cummings,
Ezra Pound oder Robert Frost. Eine junge Generation australischer
Lyriker wie Bruce Dawe, Andrew Taylor, John Forbes, Les Murray
oder John Tranter warfen voller Begeisterung die als langweilig
empfundene traditionelle Syntax, den traditionell streng
gebundenen Rhythmus der vorausgegangen Generation eines A.D. Hope,
eines James McAuley oder einer Judith Wright über Bord und
wandten sich einem einfachen, an der Umgangssprache ausgerichteten
Stil zu, der ihrem neuen städtischen Lebensgefühl eher
entsprach.
Dieser frische Wind der späten 60er Jahre lüftete auch
ganz entscheidend die literarischen Produktionsbedingungen dieser
jungen australischen Dichtergeneration. Statt sich weiterhin an
die gängigen Literaturvermittler wie das Literaturmagazin Bulletin oder an Tageszeitungen wie das AGE zu verkaufen,
entschlossen sich viele Autoren, ihre Gedichte selbst zu verlegen
oder sich mit KollegInnen zusammenzuschließen und selbst
eigene Literaturmagazine herauszubringen. In kurzer Zeit
explodierte der literarische Markt. Dichterlesungen gewannen an
Popularität. Das Taschenbuch trat seinen Siegeszug über
den traditionellen Leinenband an. Selbst etablierte Verlage
widmeten sich plötzlich der neuen Lyrik und verschafften ihr
damit auch in etablierten Kreisen die entsprechende
Anerkennung.
Während der siebziger Jahre zeigen sich erste
Zerfallserscheinungen in der 68er Bewegung. Spaltungen,
Zerwürfnisse und Parteiungen innerhalb der neueren
australischen Dichtergemeinde sind keine Seltenheit. Dabei
manifestieren sich die Unterschiede ebenso geographisch – z.B.
zwischen Melbourne und Sydney (wo sich dann wieder Unterfraktionen
in konkurrierenden Magazinen bekämpfen – z.B. New
Poetry mit Robert Adamson steht Poetry Australia mit Grace Perry und Bruce Beaver gegenüber) – wie auch
künstlerisch, indem z.B. Autoren wie Robert Gray oder Les
Murray die Einstellung vertraten, Dichtung müsse sich auf
Greifbares, Objektivierbares beziehen und dabei an das Beschreiben
von Geschehnissen, Charakteren oder Landschaften dachten, ohne
jedoch das Gedicht in seiner eigenen Realität unterschatzen
zu wollen; Dem widersetzten sich Autoten wie John Tranter oder
John Forbes, die sich ganz auf die spielerische Qualität von
Sprache verlegten, und sich den Zufälligkeiten eines
phantasievollen Umgangs mit Sprache überlassen wollten.
Auffällig ist, dass sich in den 70er Jahren auch
Lyrikerinnen an die Spitze der Avantgarde setzen. Kate Llewelyn
und Susan Hampton zeigen mit ihrer Anthologie The Penguin Book
of Australian Women Poets, dass Frauen wie Judith
Rodriguez und Jennifer Maiden sehr wohl in der Szene präsent
waren. – Gisela Triesch wird sich im Nachwort dieses Bandes
eingehender mit der Situation der australischen Autorinnen
auseinandersetzen.
Die achtziger Jahre erweitern das Spektrum der
australischen Lyrik um zwei wichtige Strömungen: Die schwarze
Lyrik einerseits und die ethnische Dichtung andererseits.
Schwarze Autoren wie Oodgeroo Noonuccle (Kath Walker) Jack Davis
oder Mudrooroo Narogin (Colin Johnson) stehen mit ihrer
künstlerischen Arbeit im Rahmen einer politischen Bewegung,
die sich offensiv gegen das weiße Australien zur Wehr setzt
(z.B. der Kampf um Landrechte). Sie schildern die Erfahrungen
ihrer bedrohten oder sterbenden Kultur, wobei sie oft zum
traditionellen Duktus ihrer mündlich überlieferten
Geschichten greifen. Außenseiter in dieser Gruppe ist ein
weißer Autor, Banumbir Wongar, der mit einer Aboriginefrau
verheiratet ist; er schlüpft in eine schwarze Haut und
schreibt Gedichte wie wie ein Aborigine. Als weißer Autor
unter Schwarzen gehört Banumbir Wongar damit auf seine Weise
zu den ethnischen Autoten, die den anderen wichtigen Strang im
Lyrikspektrum der achtziger Jahre darstellt.
Natürlich kündigte sich die ethnische Literatur schon
erheblich früher an. Einer ihrer ersten Förderer war
Robert Adamson, der mit seinem bereits erwähnten Magazin New Poetry, (bzw. Poetry Magazine, das war der
Vorgänger) viele der heute bekannteren ethnischen
Schriftsteller entdeckte und erstmals publizierte. Ethnische
Schriftsteller sind die in der ersten oder zweiten Generation
eingewanderten Australier wie z.B Walter Billeter, Peter
Skrzynecki, Vicki Viidikas, David Malouf, Antigone Kefala, Manfred
Jurgensen und Rudi Krausmann, um nur einige zu nennen. Der Begriff
ethnisch oder multikulturell bürgerte sich als neutrale
Bezeichnung für ein Schrifttum ein, das zuvor als marginal
abgewertet worden war und erst im Zuge einer gesellschaftlichen
Anerkennung der landesspezifischen Minoritäten-Kulturen sich einen Platz im 'Mainstream' verschaffte.
Das wohl bedeutendste Forum der ethnischen Schriftsteller in den
achtziger und neunziger Jahren ist das Literaturmagazin
Outrider. Mit finanzieller Unterstützung des Literature
Board of Australia (heute: Literary Arts Board of the Australian
Council) wurde Outrider 1984 von Manfred Jurgensen
gegründet. Es war von Anfang an die erklärte
Editionspolitik dieses Magazins, der Literatur
australiengebürtiger Autoten die Literatur der
Einwandererschriftsteller – auch in ihrer eigenen Sprache – zur
Seite zu stellen und damit den staatlich-ideologisierten
Multikulturalismus im literarischen Bereich Wirklichkeit werden zu
lassen. Ganz offensichtlich beschäftigt sich diese Dichtung
in besonderer Weise mit dem Thema der Identitäten: der
eigenen, mitgebrachten oder von den Eltern und der Gemeinschaft
vorgelebten Identität, die sich zu entfremden droht und der
ansozialisierten 'fremden' australischen Identität, die sich
zusehends mit der eigenen Identität vermischt und zu
dominieren beginnt.
Zum Schluß noch ein Wort zum Umfang der Lyrik im kulturellen
Leben Australiens. Obwohl die Lyrik überall schon seit jeher
eine relativ unbedeutende Gattungsform ist, genießt sie in
Australien ein beachtliches Ansehen – was nicht zuletzt dem
Literary Arts Board und dessen konsequenter Forderungspolitik zu
verdanken ist. Die Auflagenhöhe durchschnittlicher
Lyrikpublikationen in den Vereinigten Staaten und in
Großbritannien ist im Vergleich nur zwei oder dreimal so
hoch wie die australische, obwohl beide Länder Australien
bevölkerungsmäßig um ein Vielfaches
übertreffen.