Mathilda1 reist
Mathilda ist unterwegs mit ihrem nichtdeutschen, sondern internationalen Auslaut "a". Mathilda ist nicht deutsch, hat aber vielleicht deutsche Vorfahren. Mathilda ist nicht schweizerisch, hat aber vielleicht schweizerische Vorfahren und bestimmt hat sie böhmische, ungarische, polnische Vorfahren, vielleicht auch noch andere. Sie braucht also ein "a" am Ende. Ein "e" wäre ganz falsch. Da, wo sie herkommt, ist es typisch, dass die Ahnen international sind.2
Mathilda hat einen Eisernen Vorhang3 im Kopf. Nach der Wende, als viele Menschen von "drüben" "her" kamen, blieb dies ein Einbahnverkehr. Umgekehrt schien es niemanden zu interessieren, wie es "drüben" aussah; die vorherrschende Meinung war, dass es dort "nichts gab", das heißt, nichts von Interesse. Auch bei Mathilda war das lange so geblieben.4 Die Namen der neu entstehenden Staaten5 konnte sich im Westen kein Mensch merken, weil es keine dazu passenden Erfahrungen gab. Mathilda will nun alles erfahren.6 So reist sie immer weiter weg von diesem Vorhang7, bis sie nicht nur die Sprache, sondern auch die Schrift nicht mehr versteht.8
Mathilda reist9 allein.
Mathilda denkt, in den Ländern, die sie jetzt bereist, sollte sie wenigstens verheiratet sein, wenn sie schon allein reisen muss. So trägt sie den Ring ihrer Erbtante mit dem Stein nach innen. Sie ist unsicher, ob Eheringe links oder rechts getragen werden und ob das von der Religionszugehörigkeit abhängt. Sie wechselt die Seite, wenn sie in ein neues Land kommt.
Mathilda denkt sich Geschichten aus über ihren Mann, den sie auf einer geschäftlichen Reise begleitet und der leider so wenig Zeit für sie hat. Manchmal ist er gerade um die Ecke und parkt das Auto, manchmal bei einer Besprechung im Hotel und manchmal hat er sie kilometerweit weggeschickt, damit sie etwas anderes sieht vom Land, in dem sie sich befindet, als die Konferenzräume, deren Wände er täglich anstarrt. Sie gibt ihrem Mann einen Namen und einen Beruf, z. B. in der Stahlindustrie. Sie kleidet ihn ein und manchmal ist sie so sehr in dieser Zweisamkeit, dass sie ihm beinahe etwas kauft – ein X-large10 T-Shirt11 oder ein Feuerzeug. Mathilda raucht nicht. Sie reist weiter und stellt sich ein Zuhause vor:
Während Mathilda am Esstisch12 sitzend die metallurgisch sinnvollen Zeichenverbindungen ihres Mannes in ihre Remington Travel – Riter Deluxe13 tippt und die Grießnockerl14 leise am Küchenherd köcheln, fragt sich Mathilda, wohin sie in ihrem Leben reisen könnte, ohne ihren Mann, stattdessen mit der Reiseschreibmaschine, mit der sie an den exotischsten15 Orten der Welt ein Doppelzimmer belegen würde. Abends flanierten sie gemeinsam durch die lauen Straßen und kehrten unterwegs noch einmal ein, um sich bei Kerzenschein die Spezialität des jeweiligen Ortes auf der Zunge zergehen zu lassen.16 Die Reiseschreibmaschine befände all ihre Sätze für schreib- anstatt für kritikwürdig. Sie sagte auch nicht ständig zu Mathilda: Patz dich nicht an! Die Reiseschreibmaschine trüge eine Serviette über ihrer Tastatur17, unter der am laufenden Band leise Liebeserklärungen an Mathilda tönten. Mathilda tippt schneller und schneller. Aus der Küche dringt immer stärker der Geruch von Rindsuppe.18 Mathilda denkt nicht daran, in die Küche zu gehen. Während sie rechtschreibtechnisch einwandfreie metallurgische Verbindungen mit ihren zehn Fingern zu Papier bringt und sich dabei einer ihr längst zu einem Stein gewordenes Herz schmelzenden Verbindung mit ihrer Reiseschreibmaschine hingibt, greift der Zeigefinger ihres Mannes nach der Klingel, um Mathilda sein Kommen anzukündigen, damit die Grießnockerlsuppe jetzt vom Herd genommen und in seinen Suppenteller gefüllt werde und somit nach dem Schuhe- und Krawatteablegen sowie erfolgtem19 Klogang die richtige Temperatur hat.
Mathilda vergisst über ihrer Reiseschreibmaschine, unter der zu liegen sie sich plötzlich sehnlichster als alles anderes auf der Welt wünscht, darauf, dass heute verhütungstechnisch20 ein besonders günstiger Tag für die Zeugung eines XX21 oder XY mit dem Mann wäre, der von der Verhüttung nachhause kommen und zuerst ihre Grießnockerltechnik testen wird, bevor er ihr seine Liebestechnik großzügig oder geizig zuteil werden lässt.
Während es läutet, stimmt in Mathilda die Fremde, die sich nicht auf eine Formel bringen lässt, ihr Lied an, das alles Läuten übertönt.
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Wobei die Frage bleibt:
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Mathilda reist allein. Sie befindet sich in einem Land, das bald dazugehören wird24 und darauf hofft, bald dazuzugehören. Mathilda kostet die Spezialitäten des Landes, die aus Fleisch- und Mehlspeisen bestehen.25 Sie erinnern sehr an die Gerichte des Landes, dass sie davor durchfahren hatte, heißen aber ganz anders. Das erste, was ihr auffiel, als sie die Grenze passiert hatte, waren Lärm und Chaos. Das zweite, dass sie die Bedeutung von Aufschriften erahnen konnte, was ihr in dem zuvor bereisten, stillen Land ganz unmöglich gewesen war. Nichts war dort wie in ihrer Muttersprache oder wie in einer Sprache, die sie sonst noch kannte. Sie liebte dieses stille, weite Land26 und die freundliche Melancholie der Menschen, auf die sie dort getroffen war und auf die sie bei ihrer Rückreise wieder treffen würde.27 Dabei gab es in ihrer Operettenheimat das Vorurteil, die so ganz und gar anders Sprechenden seien sehr temperamentvoll. In der Operettenheimat wurden sie als "Zigeuner" betrachtet und Mathildas kindlicher Berufswunsch war es, "Zigeuner" zu werden mit weitem, weißem Hemd und enger, schwarzer Hose, mit breiter, roter Bauchbinde und feurigen, schwarzen Augen und allen etwas Flottes vorfiedelnd, so wie die "Zigeuner", die manchmal in die Kleinstadt, in der sie aufwuchs, kamen, sich in den Feldern am Rande der Stadt niederließen und im Stiegenhaus des letzten Wohnhauses an diesem Rand Geige spielten und Geld sammelten oder Messer und Scheren schliffen und Geld sammelten, nachdem die Hausfrauen, als sie hörten, "die Zigeuner kommen!" in die Höfe und Gärten gerannt waren, um die Wäsche von den Leinen und die Kinder in die Häuser zu holen, bevor sie – die Kinder und die Wäsche – von den "Zigeunern" geholt werden konnten. Diese "Zigeuner" aber trugen, anders als die Operettenzigeuner im Stadttheater, keine weiten, weißen Hemden oder engen, schwarzen Hosen. Trotzdem wollte Mathilda lieber wie diese, die ihr auch ohne weiße Hemden und schwarze Hosen verwegen genug erschienen, in den Steigenhäusern fiedeln, als, wie die Frauen, Kinder und Wäsche aus den Gärten und Höfen in die Häuser und Wohnungen holen. Geigespielen hatte sie aber nicht gelernt28, blieb weiblich (XX) und schenkte der Welt ein paar Kinder (XY und oder XX)29, die sie gelegentlich aus Höfen und Gärten heimholte, weil es Zeit zum Abendessen geworden war.
Lärm und Chaos nach der Grenze hielten nicht lange an, auch dieses Land wurde weit, still und melancholisch30 und hatte ganz selbstverständlich zwei- oder gar dreisprachige Ortsschilder31, was in Mathildas Heimat seit über einem halben Jahrhundert nicht möglich geworden war, obwohl zumindest zweisprachige laut Staatsvertrag Pflicht wären.32
Kann es eine Liebe über Sprachgrenzen hinweg geben? Mathilda stellt sich vor, eine dunkle Frau mit gar nicht dazu passenden hellen Augen trifft zufällig auf der Reise durch ein stilles Land einen hellen Mann mit nicht dazupassenden dunklen Augen und eine Sprache sprechend, von der sie kein Wort versteht, und er kein Wort von ihrer. Beide fühlen sich von der Widersprüchlichkeit des Gegenübers angezogen, in der sie finden, wonach sie sich gesehnt haben. Er will die Frau lieben, wie es ihr gefällt, und sie will den Mann lieben, wie es ihm gefällt, sie und er unter sprachloser33 Hintanstellung ihrer subjektiven Bedürfnisse.
Mathildas Mann steht im Zimmer. Mathilda, tippend und wippend, hört ihn nicht. Der Mann hat heute den Klogang dem Schuhe- und Krawatteablegen vorgezogen. Samt seinen asphaltgrauen Schuhen steht er auf dem Teppich, den Mathilda nicht aus dem Orient34 kommen ließ, sondern selber in vielen mühevollen Stunden geknüpft hatte. Das Wurzelwerk35 ist verkocht, Mathilda, was machst du da! Die Grießnockerl sind auseinandergefallen! Sie treiben als elende36 Häufchen in der Suppe!
Sie ist so sehr bei dem Abwesenden, der in ihrer Fantasie existiert, dass sie jene, die im Hier und Jetzt leben, kaum wahrnimmt. Und so fragt sie auch niemand nach ihrer Geschichte, geschweige denn, nach der ihres Mannes. Bald verliert sie die Lust an ihm und lässt sich scheiden37: Mathilda reist allein.