Vor mehr als zehn Jahren griff
eine heimtückische, todbringende Krankheit nach meinen
Organen. Schlich sich in meinen Körper, um ihn auszubrennen.
Um eine Brandkatastrophe zu entfachen, die zwangsläufig mit
dem Tod zu enden hat.
Der Arzt sagte zuerst gar nichts,
denn wir sind befreundet und die Diagnose, die er an mir erstellen
mußte, ging ihm nahe. Das sah ich ihm an.
Ich verließ die Praxis und lief. Das war eine Eigenheit von
mir. Dachte ich an den Tod, an seine Endgültigkeit, an diese
nie mehr endende Dunkelheit, knallte in meinen Ohren ein
Startschuß und ich lief los wie ein in Panik geratener Hund.
Schon die Stiegen der Arztpraxis hetzte ich hinunter. Den Bach
entlang, durch den Ort und ich hätte niemals aufgehört
zu laufen, wäre mein von der Krankheit geschwächter
Körper nicht zusammengebrochen. Hätte dieser Körper
sich nicht über eine Mauer gelehnt und auf das
Friedhofsgelände hinein übergeben.
Die drei mir laut ärztlicher Diagnose noch zustehenden Wochen
überschritt ich. Mir war die Krankheit von außen
deutlich anzusehen, der Schädelknochen mußte
geschrumpft sein, die Gesichtskonturen, ehemals scharfe Züge,
hingen herab. Mein Hut rutschte mir über die Augen. Meinen
Bekannten kam diesbezüglich selbstverständlich kein Wort
über die Lippen, Fremde jedoch, Menschen auf der
Straße, in Geschäften und im Wartezimmer des Arztes,
wunderten sich immer häufiger darüber, dass jemand
so sehr von einer Krankheit gezeichnet sein kann und trotzdem noch
am Leben ist.
Ich hatte gelernt, mit der Krankheit, den Schmerzen und der an mir
festgemachten Häßlichkeit am Leben zu sein. Trotzdem,
ich hatte meine Drei-Wochen-Frist bereits um weitere drei Wochen
überzogen und machte mir immer häufiger Gedanken
über die Sinnhaftigkeit dieses Weiterexistierens unter
zwangsläufigem Verzicht auf alle Annehmlichkeiten des Lebens,
die natürlich nur mittels eines funktionstüchtigen
Körpers erreichbar und durchführbar sind.
Meinem Arzt blieb, trotz meiner heftigen Einwände gegen mein
Weiterleben, nichts, als mir zu bestätigen, dass ich
ohnehin bald tot sein müsse, dass die Tatsache,
dass ich in meinem Zustand noch immer am Leben bin, ein
medizinisches Wunder bedeutete, wenn nicht sogar eine
Unmöglichkeit. Das ist unmöglich, sagte er in jener Zeit
oft, wenn ich morgens die Tür in seine Praxis
aufstieß.
Um die Qual meines Lebens zu verkürzen, hatte ich
selbstverständlich aufgehört, irgendwelche mir
verschriebenen Medikamente einzunehmen. Allein schmerzstillende
Mittel nahm ich, in immer höheren Dosen versteht sich,
einerseits um die zwangsläufig und selbstverständlich
häufiger und dazu stärker auftretenden Schmerzen in
allen möglichen Regionen meines Körpers so weit wie
möglich zu dämpfen, denn zum Stillstand konnte ich sie
ohnehin nicht mehr bringen, und andererseits, weil ich mir von
eben diesen immer höheren Dosen schmerzstillender Mittel auch
eine Wirkung gegen die mir zugemutet verbleibende Lebenszeit
erhoffte. Natürlich vergeblich. Je weniger die Medikamente
gegen die mich inzwischen Tag und Nacht quälenden Schmerzen
halfen, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass sie meinen
Körper immun machten gegen den Tod.
Mein Aussehen war zwangsläufig jedem mir unvorbereitet
begegnenden Menschen bald nicht mehr zumutbar, dementsprechend
verhüllte ich mich, wenn ich das Haus verließ, beinahe
täglich, um beim Arzt meine Beschwerde gegen dieses
unerträgliche Weiterleben einzubringen.
Viele Menschen, die ich aus dem Wartezimmer des Arztes kannte, die
geradezu gesund, verglichen mit mir sogar kerngesund aussahen,
verstarben. Ich ging hinter dem Sarg jedes einzelnen her, schaute
sehnsüchtig hinunter in das frisch ausgehobene Loch. Zu
welchem mir ein unergründliches Schicksal den Zugang zu
verwehren schien.
Irgendwann ahnte ich, dass es für mich keinen
natürlichen Weg aus diesem Leben gibt. Daß die
Krankheit, die alle relevanten Organe in meinem Körper nicht
nur befallen, sondern regelrecht gebraten und aufgefressen hatte,
nicht imstande sein würde, diesen Körper auch
endgültig zum Stillstand und demzufolge unter die Erde zu
bringen. Deshalb ging ich daran, Maßnahmen vorzubereiten, um
das, was die Krankheit in mir begonnen hatte, zu Ende zu
führen. Auch meinem Arzt gegenüber äußerte
ich die Vermutung, dass ein bislang unbekannter genetischer
Defekt verhindert, dass jene Vielzahl von Krankheiten, die
sich in meinem Körper eingenistet hatten, irgendwann und
zwangsläufig auch meinen Tod herbeiführen. Da zu diesem
Zeitpunkt die Diagnose, welche mir eine verbleibende Lebenszeit
von höchstens drei Wochen eingeräumt hatte, bereits mehr
als drei Jahre zurücklag, äußerte mein Arzt sich
nicht, diese Vermutung betreffend, verfiel er doch in einen
Zustand bleicher Sprachlosigkeit, der ihn darüber hinaus
vollkommen unfähig für jede Bewegung machte, sobald ich
sein Behandlungszimmer betrat. Auch damals beinahe täglich.
Um meinen erbärmlichen, ausgehöhlten Körper
vorwurfsvoll vor ihm aufzustellen.
Trotzdem die hohen Dosen schmerzstillender Mittel, die ich oft
regelrecht in mich hinein schüttete, meinen Körper in
keiner Weise zusätzlich zu schädigen schienen, wollte
ich als erste zwingende Maßnahme gegen dieses
unerträgliche Weiterleben eine höchstgradige Vergiftung
probieren. Die Skepsis allerdings, die ich von Anfang an in bezug
auf dieses Unterfangen hatte, erfüllte sich auf
beeindruckende Weise: Ein Cocktail aus Blumendünger und allen
im Haus auffindbaren Medikamenten, deren Beipacktexte im Falle
einer Überdosierung eine Vielzahl lebensauslöschender
Zustände in Aussicht stellten, durchquerte meinen
Körper, ohne dieses in katastrophaler Verfassung befindliche
Vehikel endgültig zum Stillstand zu bringen. Vielmehr
mußte ich mir eingestehen, dass ich mich durch das
Gebräu nicht wirklich beeinträchtigt fühlte.
Daß zu den Schmerzen, die meine befallenen Organe
ständig in hohem Maße signalisierten, nur ein kurzer
Anfall zusätzlicher Magenschmerzen durch die von mir gegen
mich ausgeführte Attacke hinzukam.
Dieser Umstand jedoch forderte mich geradezu heraus. Ich sagte
meinem Körper einen gnadenlosen Kampf an, wollte es zuerst
nocheinmal mit Vergiften probieren, wollte meinen Körper in
eine Giftkatastrophe ohnegleichen hineinstürzen, die er
meinen Vorstellungen nach unmöglich überleben konnte,
durchstöberte demnach den Dachboden nach allen möglichen
Flüssigkeiten und Chemikalien, fand Schwefelsäure,
Ammoniaklösung, Ethylendiamin, Dimethylformamid,
Kaliumdichromat und Kaliumhydroxyd, mischte alles zusammen und
trank trotz des erwartungsgemäß widerlichen Geschmacks
geradezu gierig, lehnte mich zurück und dachte an meine
Vorsicht im Umgang mit diesen Chemikalien, als ich sie vor
ungefähr zwei Jahrzehnten für meine Fotoarbeit verwendet
hatte, Handschuhe getragen hatte, eine spezielle Brille. Das
Chemikaliengemisch zog eine Furche durch meinen Körper, ich
mußte mich übergeben und ein Teil meiner in
Auflösung befindlichen Organe klatschte vor mir auf den
Boden, in meinem Kopf fiel der Strom aus und ich versank in diesem
Sumpf.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort gelegen war, auf einem
Auge war es dunkel, als ich den Kopf aus der Brühe hob, die
Hälfte meines Gesichts war verbrannt. So nah hatte diese
Krankheit mich ans Grab gebracht, mich hineinzustoßen war
sie jedoch nicht in der Lage. Ich konnte aufstehen. Reinigte
dementsprechend den Boden. Wenn ich gewußt hätte,
dass ich auch diesen gegen meinen Körper
ausgeführten Anschlag überstehen würde, hätte
ich mir damals die Vorsicht im Umgang mit den Fotochemikalien
sparen können, dachte ich.
Ich verstand, dass es auch für mich nicht leicht sein
würde, diesen ausgeschlachteten Körper über jene
schmale Grenzlinie zu bringen, die mein Leben noch vom Tod
trennte, denn die Hoffnung, mich in die Grube hinein zu vergiften
mußte ich schon begraben.
Ansonsten gehe ich nicht in die Kirche, einmal jedoch folgte ich
dem Pfarrer, als er auf der Straße an mir vorbeiging. Ich
erreichte ihn erst, als er die Kirche bereits betreten hatte und
dementsprechend seine Geschwindigkeit mäßigte. An mir
vollzieht sich ihr Glaube an ein ewiges Leben in zynischer und
schrecklicher Weise. Ich bin ein Mahnmal und ein
immerwährender Kalender. Sagte ich zu ihm. Dann hatte ich das
Bedürfnis, vor ihm zu fliehen. Ich ging, so schnell ich
konnte, dem Ausgang zu, hatte das schwere Tor schon einen Spalt
geöffnet, als er mich einholte, seine Hand auf meine Schulter
legte, um mich zurückzuhalten. Ich habe die Fähigkeit,
meine Ohren zu verschließen. Will ich nichts hören,
schließe ich meine Ohren, wie ich meine Augen
schließe, wenn ich nichts sehen will. Ich sah, wie der
Pfarrer etwas zu mir sagte, jedoch hatte ich meine Ohren
verschlossen und wartete, bis sein Gesichtsausdruck mir
vermittelte, dass ich gehen kann, ohne ihn zu verstören.
Ich drehte mich um und das Kirchentor fiel hinter mir ins Schloss,
das hörte ich wieder.
Zuhause legte ich mich aufs Bett und schnitt mit dem besten
Messer, mit dem ich früher die Schalotten feinst gehackt
hatte, die Pulsadern an meinen beiden Armen auf. Aus tiefen,
sauberen Schnitten begann es zu fließen. Glänzend
sammelte das Blut sich auf dem Leintuch, versickerte allerdings
bald und hinterließ einen dunkelroten matten Fleck. Ich
hatte erwartet, dass mir kalt wird und schwindlig, dass
ich irgendwann zurücksinke und vergehe. Jedoch sah ich auch
noch den allerletzten Tropfen Blut aus den Wunden in das
mittlerweile vollgesogene Leintuch und demzufolge in die Matratze
hineinrinnen, ohne irgendeine Veränderung in meinem Zustand
festzustellen. Ich stieg aus dem Bett und bereute, dass ich
mir die Adern nicht in der Badewanne aufgeschnitten hatte, denn
ich mußte die blutgetränkte Matratze durch eine
dünne, demnach unbequeme Gästematratze, die darüber
hinaus seit Jahren am Dachboden gelegen war und dementsprechend
roch, austauschen und das Bett vollkommen neu beziehen. Dadurch,
dass ich die Giftanschläge überlebt hatte,
hätte ich gewarnt sein müssen. Blaß war ich
geworden, das bemerkte ich, als ich im Badezimmer meine
verschmierten Hände wusch und in den Spiegel schaute. Ich
dachte, als ich diesen zerstörten Rest von mir im Spiegel
betrachtete, dass ich wahrscheinlich unsterblich bin.
Zumindest jedoch herkömmlichen Todesursachen, sowie auch
ihren verschiedenen Spielarten gegenüber vollkommen immun. Du
bist, sagte ich zu jenem Wesen im Spiegel, das einmal ich gewesen
war, du bist, sagte ich zu jenem Gesicht, dessen eine Hälfte
verbrannt und in der immer Nacht war, du bist also, sagte ich,
vollkommen immun gegen den Tod.
War zu Beginn meiner Krankheit der vom Arzt in Aussicht gestellte
nahe Tod, also meine kurz bevorstehende vollkommene
Auslöschung eine Aussicht, welcher ich gerne entgangen
wäre, die Vorstellung daran mich in atemloses Laufen
versetzte, so war, als die Giftanschläge und das
Messerattentat fehlgeschlagen waren, jener Tod, jene
Auslöschung, jenes Fliehen aus diesem erbärmlichen
Körperrest ein in weite Ferne gerücktes Ziel geworden,
welches zu erreichen zwangsläufig meine einzige verbleibende
Lebensaufgabe werden mußte.
Ich trank einige Gläser Wein, hatte jene letzte in meinem
Besitz befindliche Flasche Pichon Longueville Comtesse de Lalande
1982 aus dem Keller geholt, und fuhr mit dem Wagen auf die
Autobahn. An einer geeigneten Stelle, knapp vor einer
Tunneleinfahrt, verriß ich den Wagen nach rechts,
katapultierte ihn über die Leitplanken und in rasantem
Schrägflug ins Gestein. Alles in mir war gebrochen. Der Arzt
schüttelte den Kopf, nachdem die Feuerwehr mich aus dem
zertrümmerten Blech geschnitten hatte. Vielleicht
darüber, dass kein Tropfen Blut aus meinem Körper
rann, obwohl dieser wild verrenkt und an vielen Stellen
aufgebrochen vor ihm lag, oder aber, um den Umstehenden, also dem
Fahrer des Rettungswagens und den Leuten aus dem Feuerwehr- und
dem Polizeiwagen zu bedeuten, dass nichts mehr zu machen sei.
Ich tippte sofort auf die zweite Möglichkeit, denn er machte
keinerlei Anstalten, den genauen Zustand meines Körpers
herausfinden zu wollen. Ich wurde auf eine Trage gelegt und in den
Rettungswagen verfrachtet. Während der Fahrt, bei der mir
sofort auffiel, dass der Fahrer sich dem zäh
fließenden Verkehr einfach unterordnete, wurde auch auf das
Folgetonhorn verzichtet, deutliche Zeichen also dafür,
dass man mich bereits abgeschrieben hatte.
Umso verwunderter war der Arzt, als ich ihn, nachdem man mich ins
Innere des Krankenhauses gebracht hatte, ansprach, mich nach
meinem Befinden erkundigte. Dadurch kam Bewegung nicht nur in den
Arzt, sondern in die ganze Station. Der Narkosearzt sollte mich in
einen Tiefschlaf versetzen. Die in mich einsickernden Mittel
griffen selbstverständlich nicht, ich stellte mich jedoch
schlafend, um die Angelegenheit für alle Beteiligten so
unkompliziert wie möglich zu halten. Die operierenden
Ärzte wunderten sich, als sie an vielen Stellen in mein
Fleisch schnitten, dass kein Blut aus den Wunden kam, das
Ausmaß der Verwunderung konnte jedoch nicht wirklich
ausufern, denn viel größer war die Verwunderung
darüber, dass sie in meinem Körper nicht wirklich
alle Organe, die einen Körper am Leben erhalten, finden
konnten und dementsprechend, dass dieser vollkommen
zertrümmerte und ausgehöhlte Körper überhaupt
noch am Leben sein konnte. Als man es von mir erwartete, schlug
ich die Augen, die ich während der lange dauernden Operation
geschlossen gehalten hatte, wieder auf. Die Ärzte
wußten natürlich nicht, dass ich ihr Erstaunen,
ihre Ungläubigkeit hinsichtlich meines körperlichen
Zustands mitangehört hatte, und es war offensichtlich,
dass sie mir gegenüber in der Folge sehr unsicher
auftraten. So waren sie vorsichtig und dementsprechend ungenau,
als sie mir mitteilten, womit sie mich weder überraschen noch
schockieren konnten, dass sie während der Operation
nämlich auf merkwürdige Veränderungen in meinem
Körper gestoßen sind und dass eine Reihe weiterer
Untersuchungen durchzuführen seien. Ich ließ die
Untersuchungen zu, die Ärzte waren verstört über
die Ergebnisse. Demzufolge mieden sie, wenn es nur irgendwie
möglich war, während der Visiten mein Zimmer.
Während der Operation hatte man meinen Körper mit neuem
Blut aufgefüllt. Das war mir egal, die Pulsadern würde
ich mir ohnehin nicht wieder aufschneiden, da ich mir davon
keinerlei Nutzen versprechen konnte. Und dass meine Haut
wieder weniger blaß war, störte mich nicht
wirklich.
Aufgrund der Vielzahl von Bruchstellen in meinem Körper
dauerte es mehrere Monate, bis ich das Krankenhaus verlassen
konnte. Ich schleppte mich, auf Krücken gestützt auf die
Straße hinaus, nahm ein Taxi, das mich zu meinem Haus
brachte.
Keine Sekunde war ich ohne grenzenlose Schmerzen, deshalb tat ich
bald darauf etwas, was im Nachhinein betrachtet wohl als der
größte Fehler meines unsterblichen Lebens bezeichnet
werden muß: Ich legte mich auf ein Bahngleis, damit die
heißen Räder jenen schmerzenden Rumpf abtrennen und
fortwerfen. Der Kopf hüpfte zuerst, rollte den Bahndamm
hinunter und blieb im Gras liegen. Der Zugführer hatte eine
Notbremsung versucht, selbstverständlich vergeblich. Als man
meinen Kopf aus dem Gras aufhob, war ich bereits wieder
ansprechbar. Noch als ich die entsetzten Gesichter vor mir sah,
dachte ich, ich hätte mir eine Handgranate in den Mund
stecken sollen, die hätte meine Gedanken weit in die
Landschaft hinaus verstreut und diese quälenden
Zusammenhänge zerrissen. Dafür war es natürlich
endgültig zu spät.
Seit Jahren schaue ich deshalb durch das Glas hinaus in einen
kahlen Raum und habe den Blicken jener, die mich anstarren, nichts
entgegenzusetzen. Und auch gegen mich selbst kann ich nun nichts
mehr tun.
(Nyssen
& Bansemer, Köln)