Back in Blues

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Back in Blues

Von Michael Lang, 12.12.2016

Endlich. Ein neues Album der Rolling Stones. „Blue & Lonesome“. Ein Dutzend Song-Perlen aus dem US-Blues-Fundus der 1950er- bis 1970er-Jahre. Erdig, präzis, vibrierend.

Als altgedienter Rolling-Stones-Aficionado, der man ist, wartete man etwa drei Jahrzehnte auf ein wirklich kreatives Zeichen der glorreichen Vier. Also auf eine Studio-Produktion – die erste seit „A Bigger Bang“ (2005), immerhin etwas vom Einfallsreicheren. Natürlich stand schon lange die bange Frage im Raum: Können die Rollenden das noch, bleibt ihnen überhaupt Zeit dafür? Zwar sind die Herrschaften noch nicht steinalt. Aber eben doch 70 plus.

Die Studio-Platte ist da, wenngleich ohne eine einzige Eigenkomposition. Enttäuscht sein muss aber niemand. Denn spielt man „Blue & Lonesome“ an, springen einem die Rolling Stones ins Ohr. Schnörkellos, schnittig, frisch. Ganz anders als auf den etlichen sauber, aber etwas seelenlos produzierten Live-Mitschnitten der letzten Jahre von gigantischen Konzertevents.

Haie im Kaulquappenteich

Wobei das auf hohem Niveau gejammert ist: Im gnadenlos umkämpften Rock-Business sind die Stones dank ihrer artistischen Professionalität, dem technischen Perfektionismus, dem Gespür für Marketing und Business das Mass aller Dinge. In ihrer Liga gibt es keinen adäquaten Nachwuchs. Und so kreuzen die Ruhestands-Verweigerer in den Gewässern der Populärkultur so ungestört wie die Haie in einem Teich voller Kaulquappen.

Stones-Live-Gigs sind eine Mixtur aus Superhits und einer Handvoll seltener gespielter Stücke aus der kolossalen Backlist. Dazu kommen originäre Bühnenarchitekturen und multimediale Präsentationen auf höchstem Niveau. Live On Stage läuft ein perfektes Rollenspiel ab: Der unerschütterlich präzise Drummer Charlie Watts (75), der noch immer etwas verschupft herumstehend Gitarrist Ronnie Wood (69). Und das Duo infernale: Keith Richards (73) an der Leadgitarre und der irrwischende Vokalist Mick Jagger (73). Allesamt sind sie peter-pan-hafte Schlawiner, die den Planeten rocken und rollen, als gäbe es kein Morgen, keine Endlichkeit.

Beste Coverband ihrer selbst

Mittlerweile hüpft im Publikum die Enkelgeneration mit, weil die rastlosen Stones ein todsicheres Gespür dafür haben, was auch bei einer jungen Generation angesagt ist. Sie kennen sich eben aus: Urgrossvater Mick Jagger ist im Dezember 2016 noch einmal Papa geworden. Und Ronnie Wood im Mai 2016 Vater von Zwillingstöchtern.

Und es ist auch noch genug Pepp da, um an der Zeitgeschichte mitzuschreiben. Im März 2016 traten die Steine erstmals in Havanna auf Kuba auf. Eine Sensation, denn seit der Machtübernahme des unlängst dahingeschiedenen sozialistischen Revolutionärs Fidel Castro 1959 waren Massenveranstaltungen mit Stars aus dem kapitalistischen Westen tabu. Geschätzte 450‘000 verzückte Zuschauer strömten zum Free Concert. Ein Zückerchen für eine Combo, die da und dort hämisch nur noch als bestmögliche Coverband ihrer selbst betrachtet wird.

Ätsch, wir sind immer noch da, aber wo seid ihr?

Eine Formation mit dem Ehrentitel „The Greatest Rock Rock 'n' Roll Band in the World“ muss natürlich vorwärts schauen. Und das ikonische Logo der Band, die herausgestreckte Zunge – vom englischen Grafiker John Pasche 1970 kreiert und angeblich für läppische 50 Pfund an die Band verkauft – verpflichtet. Auch heute noch, wo es ausdrückt: „Ätsch, wir sind immer noch da, aber wo seid ihr?“ Und damit das so bleibt, muss immer wieder etwas Unerwartetes kommen.

Wie jetzt das Album „Blue & Lonesome“. Entstanden ist es aus einer Wohlfühl-Laune heraus im Dezember 2015. Nach Tour-Stress fanden die Stones wieder mal Zeit für eine Jamsession: In den British Grove Studios in London – sie gehören dem Berufskollegen Mark Knopfler (Dire Straits) – wollte man sich über neue Songideen austauschen.

Kreativer Schnellschuss

Wie üblich startete man mit einer Aufwärmrunde mit etwas Blues. Das liess sich so gut an, dass die Neben- zur Hauptsache wurde. Basisdemokratisch, ein Begriff der im Rolling-Stones-Konzern-Vokabular ansonsten nicht existiert – wählte man Songs und trennte dann die Spreu vom Weizen. Nach einem Tag waren fünf Tracks im Kasten, nach drei das Dutzend, das auf „Blue & Lonesome“ zu hören ist.

Schnellschüsse kennt man von forschen juvenilen Garagen-Bands, von den Rolling Stones eher nicht. Zumal Rudelführer Mick Jagger im Ruf steht, an fast allem herumzumäkeln. Was er dieses Mal offensichtlich nicht tat. Also wurde „Blue & Lonesome“ von den Glimmer Twins (seit den 1970er-Jahren eines der Pseudonyme für das Gespann Jagger/Richards) und Don Was (64) produziert. Der Amerikaner gehört seit 1994 zum engeren Mitarbeiterstab der Band, war an Studio- und Live-Alben ebenso beteiligt wie an der Restaurierung des Meisterwerks „Exile on Main Street“ von 1972.

Mit den Stones im Studio war auch der farbige Amerikaner Daryl Jones am Bass, der seit 1993 fast überall dabei ist. Dazu gesellten sich die Keyboarder Chuck Leavell und Matt Clifford. Und als Gäste der legendäre Perkussionist Jim Keltner und der „Gottvater“ des weissen Blues, Eric „Slowhand“ Clapton (71).

Fremdes Territorium

Eine Bluesband waren die Rolling Stones nie – sie sind im kantigeren Rhythm and Blues, im Rock und sogar Pop-Bereich daheim. So stellt sich die Frage: Warum jetzt astreiner US-Blues, warum Cover-Versionen? Aus kommerziellen Überlegungen sicher nicht. Denn dann hätte man eine Ohrwurm-Kollektion mit Genre-Standards eingespielt. Dem ist aber nicht so. Es handelt sich fast ausnahmslos um weniger populäres Material, allerdings von renommierten Komponisten.

Etwas Ähnliches hat auch der diesjährige Literatur-Nobelpreisträger Bob Dylan getan: 2015 bestückte er sein bezauberndes Album „Shadow in the Night“ mit Raritäten aus der Great-American-Songbook- und Crooner-Schatulle der 1940er- bis 1960er-Jahre. Alles Titel, die Frank Sinatra in seinem Repertoire hatte. Dylan erweist so der zeitlos anmutigen Song-Lyrik Reverenz. Und dem unerreichten Interpreten Sinatra, den er verehrt.

Blick zurück nach vorn

Auch die Rolling Stones blicken zurück – in die späten 1950er- und die 1960er-Jahre. Als Teenager und junge Männer faszinierte sie die schlichte, anarchische Erzähl-Magie der älteren, reiferen US-Blues-Pioniere. Etwa von Muddy Waters (1913-1983), dessen Song „Rollin’ Stone“ der Anstoss zum Bandnamen The Rolling Stones war.

Das musikalische Fundament des rotzfrechen, anarchischen, elektrisierenden Rolling-Stones-Stils wurzelt also auf dem Schaffen einer Generation von  afroamerikanischen Blues-Virtuosen, die in ihrer Heimat aus rassistischen Gründen bis in die 1970er-Jahre hinein diskriminiert, ausgegrenzt und vom allmächtigen weissen Musik-Establishment oft ausgebeutet wurde.

Schon auf dem Debütalbum „The Rolling Stones“ (1964) finden sich Kompositionen von Chuck Berry, Rufus Thomas, Willie Dixon oder Jimmy Reed. Allerdings transponierten die vifen Zauberlehrlinge aus Britannien die oft schwerblütigen, akustisch gespielten Lieder in den elektrisierenden Sound, der sie berühmt gemacht hat. Und der sich vom hippen Londoner Kultur-Schmelztiegel aus flächenbrandartig ausbreitete und so die Populärmusik-Szene neu definierte.

Unstrittig, dass das zu einer interessanten Entwicklung führte: Die Rolling Stones und andere Rock- und Pop-Grössen machten den US-Blues in Europa bekannt, verschafften ihren Exponenten Auftrittsmöglichkeiten und damit die Anerkennung, die sie verdienten. Mag sein, dass dieser Aspekt mit ein Grund ist, warum sich die Stones auf „Blue & Lonesome“ auf das Feld des Hard-Core-Blues wagen.

Lebens- und Überlebens-Droge

Sie huldigen der „Droge Blues“ als Lebens- und Überlebenselixier, dem Werk von Komponisten wie Little Walter, Jimmie Reed, Willie Dixon, Eddie Taylor, Memphis Slim oder Howlin' Wolf (von denen keiner mehr am Leben ist). Doch dabei geht es nicht um Nostalgie. Eher um die distanzierte Rückbesinnung auf die eigene Aufbruchsstimmung fern vom Gigantismus des Starkults – ausgelöst von einer Volksmusik, deren zeitlos-sinnliche Ausstrahlung unbestritten ist. Wer sonst als die Stones wäre berufen, sich diesem Phänomen augenzwinkernd, mit selbstironischer, altspitzbübischer Verspieltheit zu widmen?

„Blue & Lonesome“ ist ein Album mit überwiegend kurzen Tracks, wie früher – aus Platzgründen – auf Single-Schallplatten. Da ist kein Raum für episches Gedudel, Firlefanz und Schubidu. Es geht subito voll zur Sache. Die Gitarrensoli von Ronnie Wood und Keith Richards sind kurz, messerscharf. Die Rhythmus-Sektion mit Darryl Jones am Bass und dem unverzichtbaren Drummer Charlie Watts sorgt für die Konturen. Und ein paar Keyboard-Vignetten setzen gediegene Klangtupfer.

Mick Jagger, ganz anders

Und was macht Mick Jagger, die Rampensau? Er nimmt sich Freiheiten, denn wer wollte sie ihm verbieten. Doch im akustisch spürbaren Studio-Klub-Ambiente ist Herumkaspern nicht angesagt. Dafür zeigt der Frontmann, was er alles kann. Bestens bei Stimme stürzt er sich lustvoll auf die Blues-Poesie. Und weil er nicht zum x-tausendsten Mal seinen Goldesel-Hits wie „(I Can't Get No) Satisfaction“ die letzten Tropfen Plausibilität entreissen muss, interpretiert er hier die Songs intuitiv spontan. Er  gurrt, schnurrt, jauchzt, jault, gospelt, predigt, spricht schier in Zungen. So hat man ihn selten gehört – oder überhaupt noch nie.

Das ist randvoll  mit herbem Charme, denn der lebensgestählte Jagger weiss, wovon er singt. Schliesslich geht es um Versagensängste, Liebestorturen, sexuelle Frustrationen. In knappen Versen verpackt, immer eindeutig zweideutig. Das ist des Pudels Kern des Blues: Es muss porentief menschelen, gerne unter der Gürtellinie.

Erstmals greift Jagger nicht zur Gitarre. Dafür spielt er mit fast überbordendem Enthusiasmus Mundharmonika; so entfesselt, wie er es im dramaturgischen Live-Ablaufkonzept nicht kann. Den Album-Schlusspunkt setzt übrigens die aphrodisierende Willie-Dixon-Komposition „I Can’t Quit You Baby“, die Led Zeppelin zu einem rockigen Millionenhit gecovert haben. Die Rolling Stones schalten ein paar Gänge zurück und orientieren sich – wie bei allen Nummern – an der Originalversion. Das hat mit Respekt zu tun, wie die Tatsache, dass der kongeniale Keith Richards den Lead-Gitarrenpart dem Kollegen Eric Clapton überlässt. Ehre wem Ehre gebührt.

Schwanengesang oder Aufbruch?

Wer befürchtet hatte, die Stones‘sche Hommage an den Blues sei der Schwanengesang einer verrunzelten Mammut-Band, erkennt: Das war‘s noch nicht. Zumal Jagger wie Richards bestätigen, dass die „Mission Studioalbum“ mit eigenen Titeln weitergeht. Und weil Klappern zum Show-Business gehört, darf man unterstellen, dass das Projekt schon weit gediehen ist.

Auch der Aktionismus der Gruppe in letzter Zeit beweist, dass das Feuer noch lodert. Also: Mindestens eine Welt-Tour muss doch noch drin liegen, denn das 55-Jahr-Bandjubiläum rückt näher; eine gute Gelegenheit, es nochmals allen zu zeigen. Mit ein paar neuen Stones-Hammersongs auf der Set-List.

Mit Gottes Segen, Sympathie für den Teufel, etwas Voodoo-Würze müsste das klappen. Bis dahin gilt weiterhin das Motto „It's Only Rock 'n‘ Roll (But I Like It)“. Besonders weil jetzt klar ist, dass die Stones auch wahren Blues können: „Blue & Lonesome“.

Super Kritik! Danke. Man kann es nicht genug betonten: Im Unterschied zu anderen weissen Profiteuren (von Elvis Presley bis zu den Beatles) der jahrzehntelangen üblen US-Diskriminierung und Boykottierung früher schwarzer Blues-Grössen ("No Nigger-music from this white radio-station!"), haben die Stones stets genau gewusst, woher die Musik wirklich kommt, die sie für uns so meisterhaft aufgearbeitet und weiterentwickelt haben: Sie haben geniale schwarze Komponisten, wie gerade Chuck Berry verehrt (Film: "Hail! Hail! Rock 'n Roll"). Und standen stets in gutem Kontakt zu ihnen: "We want to see Muddy Waters", antwortete Richards einem TV-Reporter in den USA mal auf die Frage, was sie denn in den USA während ihrer Tournee sehen möchten. Worauf der Dummkopf nachfragte: "Where 's that?" Gerade darum jedoch wäre es nun längst an der Zeit, dass die vier Stones ihren (seit Jahren) "neuen" Bassisten, den schwarzen Darryl Jones (der bei ihren Konzerten über alles gesehen wohl der beste Musiker auf der Bühne ist...) endlich in ihre verschworene Gruppe voll als fünften Rolling Stone aufnehmen und integrieren würden. Und auch gleich die wunderbare Lisa Fischer (Gimme Shelter!!!). Das wäre "the real and sencere tribute to their black artistic ancesters". A propos (by the way): Wer von "ewig gleichen 12 Takt Schema" daher schnödet, beweist nicht nur, dass er von der Sache wenig versteht: Sympathy for the Devil etwa (einer der besten Stones-Songs) ist Samba(vergl. Film von J.L. Godard!). Nein, solche Nörgler sollte schon nur mal versuchen, diese "ewig gleichen Schema" einigermassen hörbar nachzuspielen. Da kommen die ach so kritischen Musik-Konsumenten dann sehr rasch auf die Welt. Niklaus Ramseyer, BERN

Sie kennen mich nicht und ich bitte Sie, solche Beleidigungen zu unterlassen und zu versuchen, die Ironie in meinem ewig gleichen 12 Takte Schema zu verstehen. Blues war die erste Musik, die ich als Kind schon mochte.

Bitte um Entschuldigung, Herr Kälin. Wundere mich aber auch etwas, dass ein politisch unerschrockener Rocker erst locker mit "Faschistenschweinen" oder "Kapitalistengrinden" einfährt – und dann sofort auf dünnhäutige Leberwurst schaltet, wenn seine Nörgeleien (keineswegs beleidigend) kritisiert werden. Keep on rockin'!

scho guet werter Herr Ramseyer, ich bin exportiert und "ruhiggestellt" und bekomme dafür noch IV.

"weil jetzt klar ist, dass die Stones auch wahren Blues können:"
hatten nun auch genügend Zeit, es zu lernen. Und mit dieser Erfahrung, Studiotechnik, Ressourcen und Supervision mal noch ein Album im ewig gleichen 12 Takte Schema hinzuchlöpfen, ist doch eigentlich Ehrensache.
"Ätsch, wir sind immer noch da, aber wo seid ihr?"
Genau! Wir hätten auf Mick Jaggers Rat für langen Erfolg hören sollen: "No politics!" und nicht Lieder gegen Faschistenschweine, Fichenstaat und Kapitalistengrinden gerockt. Dann wären wir vielleicht heute auch immer noch da. Aber wartet bloss, wenn wir dann mal 70 sind!

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