Basistunnel eröffnet – Zufahrtslinien vergessen

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Basistunnel eröffnet – Zufahrtslinien vergessen

Von Beat Allenbach, 10.12.2016

Die Züge flitzen durch den Gotthard, ab 2020 auch durch den Ceneri. Auf der 140-jährigen Strecke nach Chiasso schleichen sie weiterhin bis 2054. Dagegen protestieren Tessiner mit einer Petition.

Das Feiern nimmt kein Ende: Im Sommer wurde der Gotthard-Basistunnel eingeweiht, im Oktober der erneuerte Bahnhof Bellinzona, am Sonntag, 11. Dezember, der umgebaute Bahnhof Lugano mit der neuen, führerlosen, aber teureren Drahtseilbahn ins Stadtzentrum. Und gleichzeitig beginnt der fahrplanmässige Verkehr durch den Basistunnel für den Passagier- und Güterverkehr.

Nicht alle sind in Feststimmung, denn im Süden fehlt der Anschluss an das italienische Bahnnetz. Die Aussichten sind trüb, denn es fehlt an einem Plan und vor allem am politischen Willen der eidgenössischen Behörden: Alles ist zurückgestellt, die kurze Strecke zwischen dem Gotthard- und dem Monte-Ceneri-Tunnel aufs Jahr 2040, die Strecke südlich von Lugano bis Chiasso aufs Jahr 2054. Das ist für den Verkehrsspezialisten und alt Nationalrat Remigio Ratti unverständlich, denn dem Herzstück der neuen Flachbahn fehlten die Arterien. Deshalb haben der ehemalige Tessiner Regierungsrat Renzo Respini und er eine Petition an die eidgenössischen und kantonalen Behörden lanciert: Sie verlangt, dass die zwei neuen Bahnstrecken bis 2030/35 betriebsbereit seien und die Vorarbeiten an die Hand genommen werden.

Für den Güterverkehr sind neue Zufahrtslinien notwendig

Um den Güterverkehr von der Strasse auf die Schiene verlagern zu können, sind ausgebaute Anschlüsse im Norden und Süden notwenig. Es sei unerklärlich, dass über 22 Milliarden Franken in die Basistunnels investiert wurden, aber keine leistungsfähigen Anschlüsse bereitgestellt würden, sagte Remigio Ratti. Innert kurzer Zeit haben über 3000 Personen die Petition unterschrieben, und am Wochenende – anlässlich der Einweihung des umgebauten Bahnhofs Lugano – werden weitere Unterschriften gesammelt. Zu den Erstunterzeichnern der Petition gehören überdies die ehemaligen eidgenössischen Tessiner Parlamentarier Dick Marty, Fabio Pedrina, Fulvio Pelli, Laura Sadis, Chiara Simoneschi-Cortesi und weitere Personen auch aus der Wirtschaft.

Vor allem Italien finanzierte ersten Gotthardtunnel

Der Verkehrsfachmann und Professor für Wirtschaft Remigio Ratti hat auf die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels Geschichte und Gegenwart der Gotthardbahn in einem lesenswerten Buch* zusammengefasst. Darin wird erinnert, wie der 1882 eröffnete Gotthardtunnel als Gemeinschaftswerk der Schweiz, Italien und Deutschland entstanden ist. Das geeinte Italien hatte ein starkes Interesse, den Hafen Genua und den norditalienischen Wirtschaftsraum mit den am Rhein gelegenen deutschen Industriezentren und den Nordseehäfen zu verbinden. Der Bahntunnel, von der privaten Gotthardbahn in Auftrag gegeben, wurde je zur Hälfte von Privaten und der öffentlichen Hand finanziert, wobei Italien annähernd die Hälfte der Kosten übernommen hat, die Schweiz und Deutschland je rund einen Viertel. Fürs Tessin bedeutete die Bahn einen riesigen Aufschwung des Tourismus mit Besuchern aus dem Norden wie aus dem Süden sowie die Gelegenheit, den reichlich vorhanden Granit in der deutschen Schweiz zu verkaufen.

Nachdem die Bahnen Anfang des 20. Jahrhunderts in Staatsbesitz überführt worden waren,  setzte bald auch auf der Gotthardstrecke die Elektrifizierung ein. Dadurch erwarb sich die Schweiz einen Wettbewerbsvorteil gegenüber dem Brenner- und dem Mont-Cenis-Tunnel.  Zudem hatten sich in Chiasso (wie in Basel) die Spediteure auf Verzollung und Abfertigung von Gütern aller Art spezialisiert, was die Gotthardstrecke zusätzlich aufgewertet hat. Im Güter-Transitverkehr durch die Alpen – Gotthard und Simplon-Lötschberglinie – erreichte die Schweiz eine klare Vormachtstellung. Im Unterschied zu den Bahnen der Nachbarstaaten wiesen die SBB bis in die 70er Jahre ausgeglichene Rechnungen aus, denn der rentable Güter-Transitverkehr vermochte die Defizite des Passagier- und Güterverkehrs im Inland zu decken, wie Ratti berechnet hat.

Tessin weckte die Schweiz aus dem „Bahnschlaf“

Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchsen die Strassentransporte – von Personen wie Waren – rasant an. Der Buchautor erinnert daran, dass damals der Glaube an die Bahn dahinschwand. Zwar hat im Jahr 1971 ein offizieller Bericht den raschen Bau eines Gotthard-Basistunnels empfohlen, doch aus Furcht vor hohen Kosten und infolge des erneuten Streits um die Linienführung bewegte sich lange nichts. Inzwischen schritt der Autobahnbau voran, 1980 wurde der zweispurige Gotthard-Strassentunnel eröffnet. Erst nach einer Motion des Tessiner Ständerats Sergio Salvioni im Jahr 1984, begannen die Vorarbeiten für einen neuen Bahntunnel. Bundesrat und Parlament bevorzugten eine Netzlösung: Der Lötschberg-Basistunnel wurde 2006 eröffnet, der Gotthard-Basistunnel 2016, der Monte-Ceneri-Basistunnel sollte 2020 in Betrieb genommen werden. Doch inzwischen haben Bundesrat, Parlament und das Volk am Gotthard eine zweite Strassen-Tunnelröhre gutgeheissen. Er wird zur unliebsamen und kontraproduktiven Konkurrenz und stellt das mehrfach vom Volk bekräftigte Ziel der Verlagerung der Güter auf die Schiene in Frage.

Zweiter Suezkanal erfordert neue Zufahrtslinien im Süden

Nach der Eröffnung des Suezkanals im Jahr 1869 brachten viele Schiffe Güter in die Mittelmeerhäfen und besonders nach Genua: Das war damals ein zusätzliches Argument für den Bau des ersten Gotthardtunnels. Inzwischen wurde 2015 ein zweiter, viel breiterer und tieferer Kanal eröffnet, so dass die riesigen Containerschiffe dort durchfahren können und nicht mehr die Nordseehäfen anpeilen müssen, sonder mit spürbarem Zeitgewinn ihre Ladung in den Mittelmeerhäfen, z. B. in Genua, Savona und La Spezia, löschen können, wie Ratti schreibt. Das bedeutet, dass die zusätzlichen Güter die Gotthardautobahn überlasten würden, sofern nicht die Zufahrtslinien für die Bahn ausgebaut werden. In Italien ist ein neuer Tunnel aus dem Raum Genua Richtung Poebene in  Arbeit. Es liegt deshalb im Interesse der Schweiz aus dem Tiefschlaf aufzuwachen und die Projektierung und den Bau der neuen Bahnstrecken von der Grenze nach Lugano und zwischen den Basistunneln Gotthard und Monte Ceneri entschlossen an die Hand zu nehmen.    

* Remigio Ratti: L’asse ferroviario del San Gottardo. Armando Dadò Editore, 240 Seiten, CHF 20.--.

Ist doch schön, dass die grossen Namen im Tessin die Petition lancieren und unterschreiben. Aber das wusste man doch schon vor dem Bau des Tunnels. Warum taten diese Weisen nicht damals schon was? Fürchtete man, dass das Volk nein sagen könnte tum Tunnel? Dann wären einmal mehr verkohlt worden. Wundert es? Und was ist aus dem Milionengeschenk der heute so umjubelten Bundespräsidentin an Italien geworden? Hat jwmand was gemerkt, dass die Strecke über Luino ausgebaut würde?

Vor vierzig Jahren bin ich mit dem Nachtzug von Rom in die Schweiz gefahren, mit mir im Abteil ein Sizilainer, der erstmals in den Norden fuhr, um dort eine Arbeit anzunehmen. In der Morgenfrühe, kurz nach Melide, stand er am Fenster und rief, mir unvergesslich: "È fantastica, la Svizzera!" Das wird bald niemand mehr rufen, denn mehr als Tunnelwände gibt es dann nicht mehr zu sehen - und das nur, um etwas schneller am Ziel zu sein. "Der Weg ist das Ziel" war gestern. Die Tessiner könnten sich dabei den falschen Finger verbunden haben, denn wieso soll jemand im teuren Tessin (das er vom Zug aus nicht mehr zu Gesicht bekommen wird) aussteigen, wenn er ebenso gut bis Italien sitzen bleiben kann. - Ich bin jahrelang fast jede Woche ins Tessin gefahren und habe mich jedesmal und fast bei jedem Wetter über die wunderbare Fahrt durch die Leventina und das Urnertal gefreut. Die halbe Stunde, die nun eingespart wird, hat mich nie gereut. Und wenn nun die alte Gotthardstrecke tatsächlich zur Turismusstrecke wird, so heisst das wohl, dass man wie im Glacier-Express ständig vom 'Reiseführer', d.h. von einem Tonband belabert werden wird. Das wird sich kaum jemand ein zweites Mal zumuten wollen.

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