Der Trick mit dem Volk

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Der Trick mit dem Volk

Von Urs Meier, 05.08.2015

Populistisch zu politisieren, ist heute ein Allerweltsvorwurf. Das nützt nur den wirklichen Populisten. Diese genau unter die Lupe zu nehmen, dient hingegen der Demokratie.

Populisten sind immer die anderen. Im Unterschied zu den übrigen politischen «Ismen» ist Populismus heute nichts, wozu sich jemand bekennt. Es gibt keine Partei, die sich selbst als populistisch bezeichnet; wird sie so genannt, handelt es sich um eine gewollt disqualifizierende Zuschreibung.

Das war nicht immer so. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es politische Bewegungen, die sich selbst populistisch nannten, so insbesondere in den USA und in Russland. Ein kurzer Rückblick auf den wichtigsten der historischen Populismen kann dazu beitragen, zu den heutigen populistischen Phänomenen auf Beobachtungsdistanz zu gehen.

Blick zurück: amerikanischer Populismus

Nach dem Sezessionskrieg (1861-1865) entstand im Mittelwesten und im Süden der USA eine Protestbewegung von Farmern. Sie sahen sich in ihrer Existenz bedroht durch Ausweitung des Eisenbahnnetzes, hohe Frachtgebühren, anwachsenden Zwischenhandel, Ausdehnung der Grossstädte und andere wirtschaftliche Entwicklungen. Vor allem die Macht der Eisenbahngesellschaften schnürte die Farmer ein. Immer mehr gutes Land wurde von den Companies aufgekauft, sodass die freie Besiedlung – einer der Urmythen der Vereinigten Staaten – zunehmend eingeschränkt war. In dieser Problemlage orientierte sich die populistische Bewegung an einem nostalgischen Bild der frühen Siedlerzeit. Ihre Exponenten warnten vor der Zerstörung der Grundlagen, auf denen Demokratie und Nation Amerikas beruhten. Sie forderten stattdessen die Wiederherstellung der Gemeindedemokratie und die politische Partizipation der selbständigen Farmer – und übrigens auch der Farmerinnen; der amerikanische Populismus schrieb das allgemeine Stimm- und Wahlrecht auf seine Fahne.

Als eine Allianz der Farmerbewegung mit den Arbeiterorganisationen zustande kam, erweiterte sich der Forderungskatalog der Populisten um eine progressive Einkommenssteuer, Verstaatlichung der Eisenbahngesellschaften sowie allgemeine Bildung durch öffentliche Schulen. Die populistische Bewegung mündete 1889/90 in die Gründung der People’s Party, von der die Demokratische Partei später etliche Forderungen übernahm. Im New Deal, der politischen Agenda, mit der Präsident Franklin D. Roosevelt erfolgreich auf die Wirtschaftskrise reagierte, fanden sich zahlreiche Ideen aus der Programmatik der einstigen Populisten wieder.

Suche nach gemeinsamen populistischen Merkmalen

Auch wenn die gesellschaftspolitischen Visionen der amerikanischen Vorläufer bei heutigen populistischen Parteien kaum mehr anklingen, so ähneln sich doch die Verhaltensmuster recht stark: Populisten damals und heute ziehen ihre Energie aus dem Protest, agieren im Modus der Auflehnung und berufen sich auf eine gute Tradition, die es gegen expansive Mächte und einen mutwillig herbeigeführten Wertezerfall zu bewahren gelte.

Könnte man vielleicht aus der historischen Parallele die Kriterien für eine zweifelsfreie Identifikation heutiger populistischer Kräfte gewinnen? Das wird kaum gelingen. Die konservativen Gene haben Populisten mit anderen politischen Couleurs gemeinsam. Im weiteren gibt es zu viele und politisch allzu divergierende Protestbewegungen, als dass Auflehnung an sich als Identifikationsmerkmal von Populismus taugen könnte. Soll jedoch «Populismus» im heutigen Politbetrieb mehr sein als ein beliebig je nach eigenem Standpunkt verwendbares Schimpfwort, so müsste man dem Begriff überprüfbare politische Merkmale eindeutig zuordnen können.

Der in Princeton lehrende deutsche Politologe Jan-Werner Müller (sein Buch «Was ist Populismus?» erscheint im Oktober 2015) legt in einem Aufsatz in der Zeitschrift «Merkur» den Versuch einer politischen Verortung des Phänomens vor. Seine Analyse trägt dazu bei, den Populismusbegriff aus dem wolkigen Bereich der Verbalinjurien herauszubekommen und zu einer aktuell brauchbaren, politisch trennscharfen Bezeichnung zu machen.

Alleinvertretung einer homogenen Volksgemeinschaft

Erstes populistisches Merkmal ist nach Müller die strikte Entgegensetzung von homogenem Volk und parasitärer Elite (bei der SVP vorzugsweise «Classe politique» oder «Eurokraten» geheissen), die eigentlich nicht richtig zum Volk gehört. Dieser Elite wird unterstellt, sie schliesse unheilige Allianzen mit parasitären Unterschichten (Sozialhilfebezüger, Einwanderer, Asylsuchende), die im populistischen Weltbild ebenfalls nicht zum wahren Volk gehören.

Hinzu kommt als zweites Merkmal der moralische Anspruch, dass einzig die Populisten die Interessen des Volks verträten. Populismus, so Müller, ist also nicht nur antielitär, sondern auch antipluralistisch. Nach seiner Analyse ist es vor allem dieser moralische Alleinvertretungsanspruch, der das Wirken der Populisten in der Demokratie problematisch macht. In deren Sicht sind politische Konkurrenten im Grunde stets Volksverräter.

Populisten beanspruchen den wahren Volkswillen zu kennen und zu repräsentieren. Sie betrachten diesen als eindeutiges imperatives Mandat und die gewählten Volksvertreter als Sprachrohre der Bürger. Der parlamentarische Prozess des Aushandelns, Konkretisierens und Umsetzens wird negiert. Müller weist darauf hin, es sei diese populistische Vorstellung vom imperativen Mandat, die beispielsweise die SVP dazu veranlasse, «Verträge mit dem Volk» abzuschliessen und Politik dann als schlichte Vertragserfüllung darzustellen. Auch die von der SVP kreierten «Durchsetzungsinitiativen», mit denen sie die parlamentarische Arbeit nach Volksentscheiden auszuhebeln versucht, entstammen diesem Denken.

Schwierigkeiten mit Wahlergebnissen und Exekutivämtern

Alleinvertretungsansprüche vertragen sich nicht mit offenen politischen Systemen. Müller konstatiert, dass populistische Parteien, selbst wenn sie relativ erfolgreich sind, Wahlergebnisse oft nicht recht akzeptieren können, weil die erreichten Anteile ja nie deckungsgleich sind mit dem totalen moralischen Anspruch, mit dem die Partei angetreten ist. Nicht selten verstricken sich Populisten dann in rhetorische Konstrukte, in denen sie den «eigentlichen» Willen des «wahren» Volks gegen Wahl- oder Abstimmungsresultate absetzen.

Wenn aber Populisten Wahlen gewinnen oder – wie in der Schweiz – per Konkordanzsystem an der Regierung beteiligt werden, so müssten sie eigentlich, da sie ja nun selbst «Elite» sind, in einen schwierigen Selbstwiderspruch geraten. Jan-Werner Müller beobachtet jedoch etwas anderes: Populisten verstehen es, an den Schalthebeln der Macht zu sein und trotzdem weiter die Eliten zu dämonisieren – bei Hugo Chavez waren es die USA, für die SVP sind es wahlweise EU, Europarat oder die «unechten», nicht den «wahren Volkswillen» repräsentierenden Volksvertreter.

«Das Volk» – ein Mythos

Die politische Rhetorik der Populisten gibt sich mit Emphase demokratisch: Volkswille und Souveränität des Volks sind der Refrain, in den alle ihre politischen Forderungen münden. Was so lupenrein demokratisch erscheint, bewegt sich jedoch in einer Grauzone der Manipulation. Dieser Zwiespalt ergibt sich aus der Art und Weise, wie populistische Politik funktioniert: Sie macht «das Volk» zu einem mythischen Subjekt statt zu einer Institution des Staatswesens, die neben anderen Institutionen existiert.

Wie steht es aber mit dem im Oktober 1989 in Leipzig und anderswo laut gewordenen Ruf «Wir sind das Volk»? War das etwa auch eine populistische Parole? – Nein, denn die Bewegung zur Beseitigung der SED-Diktatur verfolgte ja nicht partikuläre politische Ziele, sondern strebte einen epochalen Wandel an zur Schaffung demokratischer und rechtsstaatlicher Verhältnisse – tatsächlich eine Forderung, das Volk in seine Rechte zu setzen und daher mit gutem Grund in dessen Namen erhoben. Diese historische Ausnahmesituation war den Beteiligten offensichtlich bewusst; nach der erfolgreichen Revolution unter nunmehr demokratischen Bedingungen war der Ruf dann nicht mehr zu hören.

Bedauerlicherweise wurde dieser Konsens 25 Jahre später von Pegida-Aktivisten aufgekündigt. Die Usurpation des Rufs «Wir sind das Volk» durch eine Bewegung von Unzufriedenen wurde aber in der deutschen Öffentlichkeit sogleich sehr entschieden als ein historischer Frevel gebrandmarkt.

Aufklärerische Idee oder mythische Gemeinschaft

Würde und Recht des einzelnen Menschen sind die Instanz, in deren Namen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert diverse Absolutismen revolutioniert wurden. Die epochemachende «Erfindung des Privaten» ist eine Voraussetzung für Menschenrechte und Demokratie. Die aufklärerische Idee des Volks definiert dieses zwar im Rahmen der staatlichen Institutionen als den Souverän, vermeidet es aber, «das Volk» zur  mythischen Volksgemeinschaft hochzustilisieren. Die souveräne Körperschaft ist einzig auf die demokratische Verfassung zu verpflichten, nie auf politisch-ideologische Inhalte. Wird in der politischen Auseinandersetzung auf «das Volk» zurückgegriffen in dem Sinn, bestimmte Haltungen und Entscheidungen seien dessen ureigene gemeinsame Sache, so wird diese Grenze überschritten.

Jeder kann behaupten, im Namen des Volks zu reden, und in der Hitze des politischen Streits geschieht das häufig. Doch legitim ist dies nicht, denn wenn unter Anrufung der Instanz «das Volk» bestimmte Interessen auf das Podest der nationalen Sache gehievt werden, verbirgt dies nur die Anmassung einer Alleinvertretung. Das Volk ist kein handelndes und entscheidendes Kollektiv, sondern es ist der abstrakte Souverän, die Summe aller handelnden und entscheidenden Einzelnen und Gruppierungen. Unter Demokraten muss deshalb gelten, dass politische Gruppen sich immer nur als Teile des Volks verstehen und dass sie akzeptieren, dass der Souverän sich einzig in wechselnden Mehrheiten realisiert.

Sachliche Auseinandersetzung mit Populisten

Die Antwort auf den Alleinvertretungsanspruch der Populisten kann nicht deren politische Ausgrenzung sein. Es gibt keine andere demokratisch legitime Möglichkeit, als sich mit den von ihnen vertretenen Ideen sachlich auseinanderzusetzen. In der politischen Praxis muss es um Sachfragen und leitende Grundsätze gehen, nicht um das Brandmarken populistischer Haltungen.

Dies gilt um so mehr, als im Meinungsstreit wie auch in der Berichterstattung über Politik das Etikett «Populismus» häufig allzu freihändig appliziert wird. Populistisch ist dann tendenziell alles, was vereinfachend, aggressiv und massenwirksam auftritt. Und da politische Kommunikation nicht um Vereinfachungen herumkommt, zur Erreichung ihrer Ziele oft aggressiv auftritt und gerade auf diese Weise am ehesten breite Wirkung erzielt, trifft der vage Populismusvorwurf reihum fast jeden Akteur in der politischen Arena.

Wenn alle Populisten sind, heisst das Wort schliesslich nichts mehr. Nützen kann das nur den wirklichen Populisten. Die geistigen Unkosten zur Klärung und Schärfung des Begriffs sind gut investiert. Sie tragen dazu bei, ein ebenso verbreitetes wie problematisches Phänomen zur Diskussion zu stellen – anders gesagt: demokratische Politik zu ermöglichen.

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Dieser Beitrag referiert zum einen den erwähnten Artikel von Jan-Werner Müller in Merkur Nr. 795 (August 2015) und greift zum anderen zurück auf eine Einführung des Autors zum Schwerpunkt "Populismus" in Reformatio Nr. 1/1996.

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