Die Kunst des Regelbrechens

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Die Kunst des Regelbrechens

Von Eduard Kaeser, 01.11.2020

Regierungen bekämpfen die Corona-Pandemie mit dem Erlass von Regeln. Sind wir entmündigt, wenn wir sie befolgen? Ist unmoralisch und asozial, wer sie bricht?

Vor kurzem erschütterte ein Empörungsbeben die Medien, weit oben auf der moralischen Richterskala. Das Epizentrum lag bei der Hochzeitsfeier in einem Appenzeller Krähwinkel. Ein Grossteil der 200 Gäste soll sich beim Anlass mit dem Coronavirus angesteckt und ihn weiterverbreitet haben. Es handelt sich nicht um den Einzelfall von gedankenlosen Hinterwäldlern. Auch anderswo scheinen sich bestimmte Schweizer einen Dreck um die gegenwärtige Krisenlage zu scheren. Was mich zu einer kleinen Exkursion ins Gelände des Regelbruchs veranlasst.

Es gibt unvernünftige Formen des Regelbefolgens wie vernünftige Formen des Regelbruchs. Man kann sie gegenwärtig an einem banalen Phänomen beobachten: In einem leeren Zugsabteil sitzt ein Passagier ohne Gesichtsmaske; allein auf weiter Flur trägt ein Spaziergänger eine Gesichtsmaske. Der eine bricht die Regel des Maskentragens in Innenräumen auf vernünftige Weise; der andere befolgt die Regel draussen auf unvernünftige Weise. 

Nun geht es mir hier nicht primär um das Maskentragen und dessen Nützlichkeit, sondern um ein altes philosophisches Problem: Was bedeutet eigentlich dieses „vernünftig“ im Handeln? Kann man vernünftig gegen Regeln verstossen? Wann ist ein Regelbruch angesagt? 

Wie setzt man Regeln durch?

Das Problem beginnt mit dem Status von Regeln oder Gesetzen – zivilen, moralischen, geschäftlichen, sportlichen und anderen. Sie sind allgemein. Sie decken eine grosse Zahl und einen weiten Bereich von Lebensumständen ab. Wie aber setzt man sie durch? 

Im familiären Rahmen erfolgt dies meist kasuistisch, von Fall zu Fall, über zwischenpersönliche Kontakte. Die Eltern lehren ihre Kinder direkt, was sich geziemt und was nicht. Sowohl Lektion wie Sanktion sind individuell. Das lässt sich im Grossen nicht durchführen. Eine funktionierende Gesellschaft hat Exekutivbehörden, die mit der Aufgabe der Durchsetzung betraut sind. Aber die einschlägigen Beamten kommen nicht zu jedem einzelnen Gesellschaftsmitglied und sagen ihm, was es tun oder lassen soll. 

An wen appelliert die Regel?

Die Allgemeinheit der Regel impliziert, dass sie sich nicht – wie im Elternhaus – an besondere Individuen richtet. Eine Regel appelliert zwar an mich, aber dieses „Mich“ ist nicht die Person E. K., sondern das Mitglied einer Kategorie von Personen, welche die Regel akzeptieren und zulassen, dass Regelbrüche sanktioniert werden. 

Wer sich ans Lenkrad seines Autos setzt, gehört zur Kategorie der Verkehrsteilnehmer, und die Verkehrsregeln gelten für ihn als Mitglied der Kategorie, obwohl er natürlich immer noch eine besondere Person ist. Und wenn er einen Regelbruch begeht – zum Beispiel die Geschwindigkeitsgrenze übertritt –, kann er diesen nicht mit dem Hinweis auf seine persönliche Besonderheit rechtfertigen. Hier ist ein Konflikt angelegt. Es gibt nämlich gar nicht so wenige Autofahrer, die meinen, aufgrund ihrer „Besonderheit“ seien sie legitimiert, Regeln zu brechen, sei dies, weil sie einen Lamborghini fahren, sei dies, weil sie sich für „Siebesieche“ der Strasse halten, oder auch bloss aus grenzdebiler Selbstüberschätzung. 

Eigenverantwortung

Eine Besonderheit drängt sich allerdings in der heutigen Krisensituation durchaus in den Vordergrund: Eigenverantwortung. Mit ihr appellieren wir ja an eine Tugend, die individuell ganz unterschiedlich ausgeprägt ist. Regeltreue heisst Abgabe von Verantwortung, also kann Eigenverantwortung durchaus Regelbruch bedeuten. Aber wann? Wir alle kennen solche Fälle. Der banalste: Ich fahre mit dem Velo auf dem Trottoir, weil weit und breit kein Passant in Sicht ist. Ich achte die Regel durchaus, aber ich sehe, dass die Umstände es erlauben, sie zu brechen. Und jener, der das Nichtbefolgen der Corona-Massnahmen mit dem Hinweis auf Eigenverantwortung begründet? Überblickt er die Umstände, die ihm den Regelbruch erlauben?

Hier wird das Problem definitiv delikat. Regeln können Sicherheit gewähren oder uns in Zwangsjacken stecken. Wie gesagt: Regeln und Anwendungsumstände bilden ein untrennbares, Dilemma-anfälliges Paar. Die schwierige Frage ist, wie Regeln und Anwendungsumstände in konkreten Situationen auszutarieren sind. Eigenverantwortung ist gut, kann aber leicht in Eigenwillen und Eigennutz kippen, also letztlich in Unverantwortlichkeit. Auf eine Formel gebracht: Sind die Anwendungsumstände unübersichtlich, diktiert die Regel, sind sie übersichtlich, die Eigenverantwortung. 

Besonnenheit

Regelbefolgung und Eigenverantwortung rücken eine alte Tugend in den Vordergrund: Besonnenheit. Besonnenheit liegt auf einem Spektrum zwischen den Polen des unbesonnenen Regelbefolgers und des unbesonnenen Regelbrechers, zwischen der Mentalität des Blockwarts und jener des Hallodris. Die Regelkonformität des Blockwarts ist stur und gnadenlos, die Renitenz des Hallodris infantil bis delinquent. 

Besonnenheit heisst, durch das Allgemeine und das Besondere navigieren zu können, allgemeine Regeln zu achten und spezielle Anwendundungsumstände zu berücksichtigen. Aristoteles nannte Besonnenheit die „rechte Mitte“. 

Wie wir jetzt konsterniert feststellen, haben wir diese Mitte in den Sommermonaten verlassen. Sie heute in der unüberschaubaren Situation einer zweiten Welle zu fordern, ist natürlich leichter gesagt als getan. Weshalb sich im Zweifelsfall eher die Regelbefolgung empfiehlt. Das hat überhaupt nichts mit Unterwerfung unter eine „Corona-Diktatur“ oder mit der Unmündigmachung des Bürgers zu tun, sondern mit dem Vermögen, eine Regelvorgabe aus Gründen der praktischen Vernunft zu akzeptieren. 

Eine neue Mündigkeit

Solche Regeltreue entspricht nun gerade nicht jener „praktischen Vernunft“, wie sie Kant dem aufgeklärten Menschen diktierte. Diese beruht auf einer für alle geltenden kategorischen Regel, die nicht gebrochen werden soll. Nein, Regeln sind dazu da, befolgt und gebrochen zu werden. Wer Regeln einfach stur befolgt, gibt Verantwortung ab. Wer Regeln besonnen bricht, nimmt Verantwortung, ja, sogar Schuld auf sich. Dazu braucht es eine Vernunft, die ständig lernt, zivilen Gehorsam gegen Ungehorsam abzuwägen. 

Wenn mich ein Angestellter am Eingang des Tierparks auffordert, die Maske zu tragen, dann wendet er sich an mich als an eine Person, welche die Einsicht hat, einer Regel zu gehorchen. Ich muss nicht, sondern ich kann, weil ich die Anwendungsumstände einsehe. Gewiss, das ist nicht immer so eindeutig der Fall. Eindeutig aber ist: Regeln gelten nur, weil man ihnen folgen wollen kann. Dieses Können ist ein Akt der Freiheit, weil man eine Wahl trifft – ein Zeichen der Mündigkeit. Jetzt haben wir Zeit, uns darin zu üben.

"Der eine bricht die Regel des Maskentragens in Innenräumen auf vernünftige Weise; der andere befolgt die Regel draussen auf unvernünftige Weise", schreibt der Autor. Dem muss ich widersprechen, denn es wäre ja möglich, dass der erste unwissend seine Viren verbreitet und beim nächsten Halt viele Pendler einsteigen, die er somit gefährdet. Mit vernünftigem Regelbrechen hat das nichts zu tun. Und der zweite befolgt nicht die Regel unvernünftig, denn alleine auf weiter Flur gibt's gar keine Regel. Die Sicherheitsgurte im Auto sind laut Regel auch zu tragen, wenn es wenig Verkehr hat. Oder ist es ein vernünftiger Regelbruch, wenn man in diesem Fall die Gurte nicht anlegt?

Gute Ausführungen.
Ich habe seit Beginn der Pandemie lange nicht alle diktierten Regeln angewendet, sondern meinen gesunden Menschenverstand benutzt, keineswegs aus Protest, sondern aus Eigenverantwortung. Unser BR war klug genug, das zuzulassen (Empfehlungen, nicht Verbote).
Sie schreiben: "Wie wir jetzt konsterniert feststellen, haben wir diese Mitte in den Sommermonaten verlassen." Haben wir das? Wäre die Zunahme der "Fälle" (was für ein irreleitender Ausdruck) weniger gewesen, wenn wir strengere Massnahmen angewandt hätten? Ich bezweifle das ausgesprochen. Niemand hat überzeugend erklärt (auch kein Wissenschaftler), WIESO die Infektionen im Herbst angestiegen sind; vielleicht ist das ein Phänomen, das mit unserem Sommerverhalten überhaupt nichts zu tun hat (spielt da nicht der Herbst eine Hauptrolle?). Ich denke, wir sind eigenartig "verschraubt": an allem ist der Mensch schuld, zum vornherein. Wir sind alle sooo schlechte Menschen. Komische mentale Verfassung...

Der amerik. Psychoanalytiker Erich Fromm hat in den sechziger Jahren (1956) u. a. "Die Kunst des Liebens" geschrieben. Sein Werk beeinflusste eine ganze Generation.
Der philosophische Eduard Kaeser schreibt heute, in C-Zeiten, einen
Artikel mit dem Titel "Die Kunst des Regelbrechens". Beim Lesen des
letzteren fiel mir auf, wie stark E.K. auf die Politebene fixiert ist. Denn
das Medium der Politik sind ja Gesetze, Verfassung, "Regeln", die z.B.in der CH durch Executive, Legislative und Judicative umgesetzt werden. Offensichtlich hat E.K. nicht an Kultur, Wirtschaft und Letztwertfragen gedacht, die nebst der Sparte Politik, unser Dasein prägt. Bei Erich Fromm war das anders. Nachlesen lohnt sich.

Die Diskussion Ist teilweise unerträglich .Da spricht auch die Presse vom " einsperren " der älteren . Man könnte ja auch schreiben :
es wird versucht keine infizierte Menschen in ein Altersheim gelangen zu lassen ,zum Schutze der Insassen .
Dann gibt es Politiker , Mediziner ,Professoren die der Bevölkerung erklären dass es teilweise mehr oder eben so viele Tote im Verkehr , Krebs , Raucher , Schlaganfall und Grippe ect. gibt .
Der grosse Unterschied aber ist dass ausser Grippe , die einfacher zu bekämpfen ist , diese nicht ansteckend sind . Kein Personal ist
bei Krebskranken , Verkehrsopfern ect. gefährdet .
Der deutsche Journalist N.Blome hatte noch eine andere Frage:
Er verstehe nicht weshalb ein Autofahrer der durch die Fussgängerzone fährt 80 Euro bezahlen müsse , ein Masken -
Verweigerer aber 200 Euro .
Weil ein Maskenverweigerer andere auf das schlimmste wegen
Ansteckung gefährdet , das versteht normal jeder .
Was mich aber total unverständlich ist :
Diese Personen haben nicht verstanden dass Spitalpersonal ,
Verkäufer , Polizisten , Busfahrer , Bahnpersonal und viele mehr
täglich zur Arbeit müssen und durch rücksichtslose Menschen
selber in Gefahr sind zu erkranken , reine Egoisten !
Was machen wir wenn der Spitalbetrieb wegen Mangel an Personal eingestellt wird ? Wo gehen wir Essen kaufen wenn das ganze Personal der Geschäfte fehlt ?
Ein kleinerer Teil der Politiker ist dafür Geschäfte vor Bevölkerung
zu schützen .
Auch wenn man alle Restaurants , Fabriken und Anlässe erlauben
würde wäre es nur eine Frage der Zeit bis alles still steht weil überall der Ersatz für erkranktes Personal fehlt .

Mir wäre jetzt ein Beitrag "EIgenverantwortung" vs "Solidarität" lieber gewesen. Der Begriff Eigenverantworting ist untauglich im Zusammenhang mit der Situation Corona. Eigenverantwortung legt jede(r) so aus, wie es ihm beliebt. Darum geht es aber gerade nicht.

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