Die «New York Times» in Aufruhr

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Die «New York Times» in Aufruhr

Von Ignaz Staub, 07.06.2020

Nach heftigem Protest rechtfertigt sich die «New York Times» für den Abdruck eines umstrittenen Meinungsbeitrags. Der verantwortliche Ressortleiter James Bennet ist zurückgetreten.

1921 schrieb C. P. Scott, Chefredaktor des «Manchester Guardian», einen Essay zum 100-jährigen Bestehen seiner Zeitung. Der Beitrag gilt noch heute als wegweisend für einen freien Journalismus, dessen erste Pflicht laut Scott es ist, genau zu berichten. «Kommentare sind frei, aber Fakten sind heilig», stellt der legendäre Chefredaktor fest. «Eine der Tugenden, vielleicht die Kardinaltugend einer Zeitung, ist ihre Unabhängigkeit.»

Fast 100 Jahre später fühlt sich an C. P. Scotts Diktum erinnert, wer den jüngsten Aufruhr in der «New York Times» verfolgt. Deren nicht minder legendäres Motto «All the news that’s fit to print» tauchte im Oktober 1896 erstmals in der roten Schrift einer Leuchtreklame über New Yorks Madison Square auf: «All Nachrichten, die sich eignen, gedruckt zu werden.» Das Motto, vom «Wall Street Journal» als «Leitmotiv» des amerikanischen Journalismus eingestuft, prangt seither auf dem Zeitungskopf der «Times».

Für einen Einsatz der US-Armee

Doch weder das hehre Leitmotiv noch ihr respektables Alter bewahren News Yorks «Grey Lady» vor gelegentlichen Fehltritten. Wie zum Beispiel Mitte letzter Woche, als die «Times» unter dem Titel «Entsendet die Truppen» einen Meinungsbeitrag des republikanischen Senators Tom Cotton veröffentlichte. Der Politiker aus Arkansas, dem Ambitionen für die Präsidentschaft nachgesagt werden, fordert im Beitrag, die US-Armee aufzubieten, um mit harter Hand die Proteste zu beenden, die in Amerikas Städten nach der Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch einen weissen Polizisten in Minneapolis ausgebrochen sind und in deren Verlauf es auch zu Plünderungen und Zerstörungen gekommen ist.  

«Eine Sache vor allem wird auf unseren Strassen erneut Ordnung schaffen», schreibt Senator Cotton, «eine überwältigende Machtdemonstration, um Gesetzesbrecher zu zerstreuen, festzunehmen und letztlich abzuschrecken.» Die Polizeicorps einiger Städte bräuchten dringend Verstärkung, «während Politiker in andern Städten sich weigern, das Nötige zu tun, um die Umsetzung des Gesetzes zu garantieren». Der Senator meint unter anderen New Yorks Bürgermeister Bill de Blasio, der zugesehen habe, während Midtown Manhattan in Gesetzlosigkeit versank.

Ein Gesetz von 1807

Einige Eliten, so Tom Cottons Meinungsbeitrag, hätten diese Orgie der Gewalt als Form von «radical chic» verteidigt und das Ganze als vertretbare Reaktion auf die unrechtmässige Tötung von George Flyod schöngeredet: «Diese Entschuldigungen stützen sich auf eine abstossende moralische Gleichsetzung von Unruhestiftern und Plünderern mit friedlichen, gesetzestreuen Protestierenden. Eine Mehrheit, die friedlich demonstrieren will, sollte nicht mit einer Bande von Übeltätern verwechselt werden.»

Senator Cotton argumentiert weiter, der «Insurrection Act», ein Bundesgesetz aus dem Jahre 1807, ermächtige den Präsidenten, die Armee oder «jegliche andere Mittel» einzusetzen im Falle von «Widerstand gegen das Gesetz oder Behinderung desselben». Dieses Gesetz komme keinesfalls «Kriegsrecht» gleich und bedeute nicht das Ende der Demokratie, wie einige leicht erregbare Kritiker in Unkenntnis des Gesetzes und der Geschichte komischerweise meinten. Nicht alle Juristen aber teilen diesbezüglich Cottons Meinung. 

Zwei Redaktionen, eine Zeitung

Amerikanische Präsidenten haben sich in der Vergangenheit jedenfalls wiederholt auf das Aufstandsgesetz berufen. 1957 setzte Dwight D. Eisenhower Truppen ein, um nach einem Entscheid des Obersten US-Gerichtshofes die Rassenintegration an der zuvor ausschliesslich weissen Central High School in Little Rock (Arkansas) durchzusetzen. George W. Bush beorderte 1992 auf Ersuchen des Gouverneurs von Kalifornien Truppen nach Los Angeles, um Rassenunruhen zu beenden. Diese waren ausgebrochen, als ein Gericht vier lokale Polizisten freisprach, die den Afroamerikaner Rodney King nach der Festnahme mit mehr als 50 Stockschlägen und sechs Fusstritten traktiert hatten, was ein Anwohner zufällig filmte. 

Die Reaktionen auf Tom Cottons Meinungsbeitrag in der «New York Times» liessen nicht lange auf sich warten. Intern wie extern hagelte es Kritik am Entscheid der Zuständigen, die Stellungnahme des Politikers aus dem Süden des Landes zu publizieren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei der «Times» der Nachrichtenteil und die Meinungsseite mit ihren externen Beiträgen strikt getrennt sind und keine Seite darauf Einfluss nehmen darf, was die andere Seite tut – ein Umstand, der wiederholt zu Konflikten geführt hat, etwa dann, wenn externe Meinungen dem Inhalt von Rechercheartikeln im Nachrichtenteil widersprechen. Umgekehrt geraten Verantwortliche der Nachrichtenseiten mitunter ins Visier der Kritik, wenn sie Schlagzeilen setzen, die wie jüngst in zwei Fällen nach umstrittenen Äusserungen Donald Trumps als unzulässig verharmlosend getadelt werden. 

Rege interne Diskussion

Die «Times»-interne Kritik entzündete sich unter anderem an Tom Cottons Behauptung, «Kader linker Radikaler, wie Antifa» hätten die Protestmärsche infiltriert und «einige Eliten» hätten Vandalismus und Plünderungen entschuldigt. Die «Eliten» aber identifizierte der Senator nicht. Ein Reporter des Blattes erinnerte daran, Recherchen der «Times» hätten die Behauptung widerlegt, wonach Antifa für die Gewalt auf Amerikas Strassen verantwortlich sei. 

«Ich werde dafür wahrscheinlich Schwierigkeiten kriegen, aber nichts zu sagen wäre unmoralisch», tweetete Nikole Hannah-Jones, die für ihr «1619 Projekt» (über das Erbe der Sklaverei in den USA) im Magazin der «Times» dieses Jahr einen Pulitzerpreis gewonnen hat: «Als schwarze Frau, als Journalistin und als Amerikanerin schäme ich mich zutiefst, dass wir diesen Beitrag abgedruckt haben.» 

Auf dem redaktionsinternen Instant-Messaging-Dienst «Slack» diskutierten einen Tag nach der Publikation des Stücks über tausend Teilnehmende – «intensiv, aber überlegt», wie eine Reporterin mitteilte. Etliche unter ihnen teilten die Meinung, wonach Tom Cottons Argumente Journalisten im Allgemeinen und schwarze Journalisten im Besonderen in Gefahr bringen könnten. 

Ein Fall von Faschismus?

«Tom Cottons faschistischer Meinungsbeitrag» steht als Titel über dem Artikel von «Times»-Kolumnistin Michelle Goldberg. Sie sei nach Lektüre des Stücks erst nicht so erschrocken, wie sie es wohl hätte sein sollen: «Ich dachte, er (Cotton) habe sich gleich selbst als gefährlich autoritäre Figur demaskiert. Als ich aber die Reaktionen meiner Kolleginnen und Kollegen bemerkt habe, begann ich meine lockere Einstellung zu hinterfragen, wann man proto-faschistische Beiträge platzieren soll.» Zwar hätten, so Goldberg, in der Vergangenheit Leute wie der russische Präsident Vladimir Putin oder der afghanische Talib Sirajuddin Haqqani Meinungsbeiträge in der «Times» publizieren können. Die beiden hätten aber nicht zu Gewalt gegen amerikanische Bürgerinnen und Bürger aufgerufen.      

Inzwischen hat die «New York Times» dem umstrittenen Meinungsbeitrag eine «Editor’s Note», eine Mitteilung in eigener Sache, beigestellt: «Nach der Publikation ist dieser Essay auf heftige Kritik vieler Leser (und vieler ‘Times’-Kollegen) gestossen, was die Redaktion dazu veranlasst hat, den Beitrag und dessen Bearbeitung zu überprüfen. Aufgrund dieser Überprüfung sind wir zum Schluss gekommen, dass der Essay unseren Anforderungen nicht genügt und nicht hätte veröffentlicht werden sollen.» 

Ein Rückzieher der Redaktion

Zwar bildeten Argumente, die Senator Cotton vorbringt – egal, wie befürwortet oder abgelehnt – einen berichtenswerten Teil der gegenwärtigen Debatte, räumen die Zuständigen ein. Doch angesichts der Wichtigkeit des Themas, bei dem es um Leben und Tod gehe, der einflussreichen Stellung des Senators und der Schwere der Massnahme, die er empfiehlt, hätte der Essay der höchsten Stufe der Überprüfung bedurft: «Stattdessen erfolgte der Prozess des Redigierens überhastet und fehlerhaft und zuständige Redaktoren waren nicht genügend involviert.» 

Ausserdem sei der Titel «Entsendet die Truppen», den die «Times» selbst gesetzt habe, aufhetzend gewesen und hätte so nicht erscheinen dürfen. Zudem habe es die Zeitung versäumt, den Meinungsbeitrag in einen nachvollziehbaren Zusammenhang zu stellen. Doch öffentlich ausdrücklich entschuldigt hat sich die «New York Times» bisher nicht. Ihr Verleger A. G. Sulzberger hatte den Abdruck des Stücks zuerst intern noch verteidigt.

Ein verständnisvoller Verleger

«Ich glaube an das Prinzip der Offenheit gegenüber einem breiten Spektrum von Meinungen, selbst von jenen, mit denen wir allenfalls nicht einig gehen, und das Stück wurde in diesem Sinne publiziert», schrieb der Verleger in einem Brief an die Belegschaft. Er verstehe aber die Bedenken, was bestimmte Aspekte des Meinungsbeitrags betrifft, und er werde sie «offenen Geistes» zur Kenntnis nehmen. Dean Baquet, der afroamerikanische Chefredaktor der «Times», hat sich bisher zumindest öffentlich aus der Diskussion herausgehalten.

Nun aber hat die Kontroverse redaktionsintern ein erstes Opfer gefordert. Am Sonntag gab James Bennet, der Verantwortliche der "Editorial Page", auf der die externen Meinungsbeiträge erscheinen, seinen Rücktritt bekannt. Auch sein Stellverteter James Dao verlässt seinen Posten für eine neue Aufgabe auf der Redaktion. Bennet hatte Tom Cottons Beitrag vor der Publikation selbst nicht gesehen oder abgesegnet, was er im Nachhinein als Fehler bezeichnete. Für James Bennet ist der Rücktritt ein herber Rückschlag: Der 54-Jährige galt als einer der Favoriten für die Nachfolge von Chefredaktor Dean Baquet, von dem es heisst, er wolle in absehbarer Zeit zurücktreten.

Tom Cotton indes hatte die Verantwortlichen der «Times» anfänglich für ihre Führungsstärke gelobt: «Sie haben mein Stück publiziert – auch wenn sie mit dem Inhalt nicht einig gingen – und haben sich dem politisch motivierten, progressiven Mob auf ihrer eigenen Redaktion entgegengestellt.» Nach dem Rückzieher der Zeitung aber teilte das Büro des Senators mit, der Kontakt mit der Redaktion sei so wie in früheren Fällen verlaufen und man würde gerne wissen, welche Teile des Beitrags den Standards des Blattes nicht genügten. 

In einem früheren Fall hatte Tom Cotton zum Beispiel argumentiert, die USA sollten, wie von Donald Trump angeregt, die dänische Insel Grönland kaufen. 2006, als er noch als Leutnant im Irak diente, hatte der Politiker die Verurteilung und Inhaftierung des damaligen Chefredaktors Bill Keller und zweier Reporter der «Times» gefordert. Er bezichtigte sie der Spionage, weil sie berichteten, US-Terrorbekämpfer hätten entdeckt, auf welchen Wegen Al Qaida und andere Terrorgruppen finanziert würden.

Ein Fall von Zensur?

Senator Cotton ist nicht ohne Verteidiger. «Die Attacken auf die Zeitung (die ‘Times’) sind ein Beweis für die zunehmende Intoleranz, was oppositionelle Ansichten in unserer Gesellschaft betrifft», schreibt Professor Jonathan Turley, der an der privaten George Washington University in D. C. Recht lehrt. Turley findet es erschreckend, dass die Kritik an der «Times» von Journalistinnen und Journalisten sowie Schreibenden selbst kommt: «Das ist, wie wenn Priester gegen freie Religionsausübung agitieren würden. (…) Ich hätte nie gedacht, dass ich den Tag erleben würde, an dem Schreibende die private Zensur (unliebsamer) Ansichten fordern.»

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