Doch was heisst Normalität?

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Doch was heisst Normalität?

Von Beat Allenbach, 19.05.2020

Wir warten sehnsüchtig auf die Normalität. Erste Erleichterungen gibt es, doch nach der Pandemie möchten wir bestimmte normale Situationen nicht mehr akzeptieren.

Noch ist es kaum möglich, Familienangehörige und Freunde zu Hause willkommen zu heissen, noch können wir nicht ins Theater oder ins Konzert oder gar ins Meer baden gehen. Es ist diese Normalität, die uns fehlt! Doch andere Zustände, die uns als normal erschienen oder die wir resigniert geduldet haben, die wollen wir nicht länger als normal gelten lassen.

Problematische Löhne

Ist es normal, dass Putzfrauen gemäss Kollektivvertrag sich mit einem Stundenlohn von 16.75 begnügen müssen und dass Beschäftigte der Bekleidungsindustrie im Tessin am Anfang nur knapp 3’000 Franken verdienen?

Ist es normal, dass die höchsten Chefs von Roche, UBS und Credit Suisse im Jahr 2018 deutlich mehr als 12 Millionen verdienten? Wenn wir diesen Wirtschaftsführern einen Jahresverdienst von zwei bis gut drei Millionen überlassen, würden die „eingesparten“ 30 Millionen fünftausend Kleinverdienern von etwa 3’500 Franken einen Monatslohn von rund 4’000 Franken garantieren. Meines Wissens sind erst in den Kantonen Neuenburg und Tessin von den Parlamenten Mindestlöhne beschlossen worden; im Tessin wird der Mindestlohn ab 2024 bloss 3’645 Franken betragen, doch, sofern die bestehenden Kollektivverträge nicht geändert werden, würde der Mindestlohn auf jene Hungerlöhne nicht angepasst.

Doppelte Schädigung

Ist es normal, dass man für einen Flug von der Schweiz nach London oder Madrid nur zwei, drei Dutzend Franken bezahlt? Jetzt sind die meisten Flugzeuge am Boden stillgelegt und die Fluggesellschaften verlangen von den Staaten, wo sie ihren Sitz haben, Unterstützung in Milliardenhöhe. Die Dividenden der guten Jahre sind den Aktionären ausbezahlt worden, aber für die Verluste sollen die Staaten aufkommen. Während vieler Jahre haben die Fluggesellschaften ihren Kunden Billigflüge angeboten und die Schäden für Gesundheit und Umwelt in keiner Weise gedeckt. Die Bevölkerung, sie besteht aus Steuerzahlern, wird nun doppelt geschädigt werden.

Ist es normal, dass jener grosser Teil der Medikamente, die nicht mehr von Patenten geschützt sind, sowie Impfstoffe vor allem in Südostasien, namentlich in China und Indien hergestellt werden, obschon in der Schweiz eine der weltweit bedeutendsten Pharmaindustrien beheimatet ist? Sobald die Transportwege unterbrochen sind wie gegenwärtig, werden gewisse Medikamente knapp oder sind gar nicht mehr verfügbar. Die hiesigen Pharmaunternehmen sind jedoch nicht daran interessiert, unserem Land die Lieferung der notwenigen Medikamente zu garantieren, denn diese Produkte versprechen keine beträchtlichen Gewinne, aber von den günstigen Steuern profitieren sie gerne.

Niedrigstpreise

Ist es normal, dass in der Schweiz zehn Polohemden, alle in verschiedenen Farben, 93 Franken kosten, jedes Hemd also 9 Franken 30, oder ein Leibchen für fünf Franken gekauft werden kann? Angesichts derart tiefer Preise ist es unmöglich, dass die Frauen in fernen Ländern fürs Nähen solcher Kleidungsstücke einen Lohn verdienen, der fürs Leben reicht. Es ist unverständlich, dass Geschäfte oder Online-Shops Ware zu solch unrealistischen Preisen überhaupt anbieten.

Ist es normal, dass Frauen und Männer die in der Schweiz gearbeitet haben, oft während Jahren zu Kleinstlöhnen, meistens schwarz, ohne Vertrag, da sie keine Aufenthaltsbewilligung besitzen, jetzt ohne Arbeit und ohne Geld anstehen müssen, um eine warme Mahlzeit zu erhalten? Es handelt sich um sogenannte Sans-papiers, die als Haushalthilfen oder als Pflegerinnen alter Menschen wichtige Arbeiten fast rund um die Uhr ausführten, andere, vor allem Männer waren in der Landwirtschaft oder auf dem Bau tätig; teilweise sind es auch abgewiesene Asylsuchende. Was diese sonst praktisch unsichtbaren Menschen fürchten: von der Polizei angehalten und aus der Schweiz ausgewiesen zu werden. Und das nach vielen Jahren Arbeit.

Nein, eine solche Normalität wollen wir nicht mehr!

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Wenn Schweden mit zehn Millionen Einwohnern inzwischen ezwa 3.700 Tote zu verzeichnen hat, dann muss man kein Mathegenie sein um zu sehen, dass der schwedische Sonderweg über Leichen geht. Das alles war aber schon lange absehbar. Und eine Herdenimmunität ist in Schweden genauso wenig vorhanden wie anderswo. Schweden ist den englischen Weg gegangen, der auch gescheitert ist und beide Länder zahlen einen hohen Preis dafür. Sollte es bedingt durch die Rückreisewelle aus den Ferienländern auch in Schweden zu einer zweiten Corona-Welle kommen, steht den Schweden das bevor was andere Länder schon kennen. Für die Schweden wird dann ein Lockdown eine recht schmerzliche Erfahrung werden. Für alle anderen Länder sollte das eine Warnung sein.

Nein, auch ich will nicht mehr in eine solche Normalität zurück. Grade liest man das jetzt zb. die Fussball Geldmaschinerie mit x-Millionen (350) wieder in Gang gebracht werden soll... da frage ich mich schon; gibt es denn jetzt nicht wichtigeres zu berücksichtigen? Was ist nur los da draussen? Haben wir jetzt nicht gerade reichlich Zeit gehabt, dank fehlender Ablenkung, unser Geist und die Seele ein wenig baumeln zu lassen und zu spüren was eigentlich wirklich wichtig ist... ich verstehe diese Welt einfach nicht mehr. Denn angesichts der riesigen Probleme die erst noch auf uns zukommen, sollten wir keinesfalls wieder in die alten ausgelatschten Schuhe reinschlüpfen.

Da haben Sie Recht, so eine Zukunft dürfen wir nicht mehr tolerieren. Aber ob die breite Masse sich für solche Einschränkungen gewinnen lässt, da habe ich meine grossen Zweifel. Das Gedächtnis ist bei vielen nur auf kürzeste Fristen eingestellt.
Aber das zentrale Problem ist die "Gewinnmaximierungs-Sucht" der Menschheit, insbesondere der Vermögenden, Unternehmen (angestellte Manager) und die definieren ihr Ego nun mal nur über den kurzfristigen Erfolg. Aber auch die Pensionskassen (als Grossinvestoren) sind an diesem Wahnsinn beteiligt.

Die Ablösung von altem Verhalten ist immer nur in Krisen möglich, hoffen wir das diese Lektion greift, denn diese Corona-Panik wird uns noch viele Jahre begleiten.

Vielen Dank Herr Allenbach. Wie war: Eine solche Normalität wollen wir nicht mehr! Ob aber eine Mehrheit von Menschen - beschränken wir uns mal auf hierzulande - politisch dafür einzustehen, die gängige Normalität durch eine gerechtere und zukunftsweisendere Normalität zu ersetzen, wage ich zu bezweifeln. Die mannigfaltigen Abhängigkeiten sind derart gross, dass es viel an veränderten Denk- und Lebensweisen bräuchte, um wenigstens einen Teil der im Artikel skizzierten Ungerechtigkeiten aus der Welt zu schaffen. Dennoch: Ich hoffe natürlich auch, dass sich trotzdem etwas bewegt. Die Zeit dafür ist überreif.

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