Geschichte im Fernsehen
Das Positive vorweg: Es ist der SRG gutzuschreiben, dass sie die Schweizer Geschichte (wieder) entdeckt hat und ihr Platz einräumte in der Hauptsendezeit. Wie ich höre, sind die Zuschauerquoten ganz gut ausgefallen, so dass die Quotengläubigen allfälligen Fortsetzungen keine Stoppsignale entgegen halten können. Das ist wichtig, denn wir sollten die Schweizer Geschichte nicht (wieder) vom Bildschirm verbannen, sondern ihren frisch errungenen Platz verteidigen.
Ein Geschichtsbild von vorgestern
Das erfordert allerdings einigen intellektuellen Aufwand, denn der Ruf nach Fortsetzung meint das Prinzip, nicht die konkrete gesehene Umsetzung. Die war zu mehr als der Hälfte gründlich missraten (Mittelalter). Die heftige Kritik der ersten Stunde hat sich leider nicht als vorschnell und falsch erwiesen, sondern als richtig und nötig: Die totale Absenz der weiblichen Schweiz bleibt ebenso unverzeihlich wie das traditionalistische Geschichtsverständnis von den überragenden Einzelfiguren, die Geschichte machen. Beides ist nicht von gestern, sondern von vorgestern.
Die Sendung über Niklaus von der Flüe war zeitweise kaum auszuhalten in ihrer religiösen Überhöhung eines Mannes mit zweifelhafter Biografie zum Friedensstifter und Erfinder der Neutralität. Der Mythos wurde weitergereicht und aufgefrischt, statt ihn an den historischen Fakten zu messen und zu relativieren. Wenn man das tut, verwandelt sich der hochgejubelte Berater Niklaus nämlich in einen erfolglosen Rufer in der Wüste: Die Alten Eidgenossen haben seinen Rat, den Zaun nicht zu weit zu stecken, eben gerade nicht befolgt.
In die Schlacht bei Marignano zogen sie ganz entgegen seiner Doktrin, und die folgenden drei Jahrhunderte blühten der Solddienst und die Militärbündnisse der Orte mit den europäischen Mächten unter völliger Missachtung der Bruder Klaus’schen Lehren. Die Idee, eine Sendung über diesen «Helden» zu machen, wäre von der Faktenlage her gar nicht zu begründen gewesen.
Mehr Mythen als Fakten
Ähnlich hart muss man mit der Sendung über den Landammann Stauffacher und den Morgartenkrieg ins Gericht gehen. Sie klebte an der überholten Auffassung, wonach der Kampf gegen die Habsburger der entscheidende Faktor bei der Bildung der Eidgenossenschaft gewesen sei. Das ist ebenfalls mehr Mythos als Faktum. Hier zeigt sich der im 19. Jahrhundert mit dem Zweck der mentalen Nationenbildung konstruierte kriegerische Heroismus gegen den äusseren Feind. Im 20. Jahrhundert wurde er mittels geistiger Landesverteidigung zur Hochblüte getrieben.
Das Fernsehen hat auch hier die Chance verpasst, den heute lebenden Menschen eine Version zu liefern, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht und nicht auf politisch instrumentalisierter «Geschichtsschreibung». Noch besser hätte es allerdings auf diese Episode verzichtet und die kostbare Sendezeit Wichtigerem vorbehalten.
Einblicke ins Werden des Bundesstaats
Die beiden Sendungen über den neuen Bundesstaat waren um Klassen besser. Das hängt in erster Linie daran, dass die Gründung der Schweiz und ihr inneres Wachstum nach schwerer Geburt unendlich relevanter sind als die Alte Eidgenossenschaft. Es hängt aber auch daran, dass die gewählten Protagonisten Henri Dufour (General) und Alfred Escher (Unternehmer) nicht als makellose Supermänner präsentiert wurden, sondern als zwar überdurchschnittliche Persönlichkeiten, aber auch als Männer mit Defiziten, Niederlagen, Selbstzweifeln und unsympathischen Charaktereigenschaften.
Beide Sendungen lieferten Wissen und Einblicke in die Geschichte der Schweiz, die ebenso faszinierend sind wie relevant. Beide krankten aber ebenfalls an der in ihnen steckenden heroisierenden Geschichtsauffassung. Es gäbe die Schweiz auch ohne General Dufour und der Gotthardtunnel wäre auch ohne Alfred Escher gebaut worden.
Wie weiter? Ein Vorschlag
Die falscheste Schlussfolgerung aus der Kritik wäre, auf eine Fortsetzung zu verzichten. Das Gegenteil ist angebracht. Die SRG sollte dranbleiben und aus der Kritik lernen. Das naheliegendste wäre, den zwei zentralen Kritikpunkten Rechnung zu tragen und die Fortsetzung «Die Schweizerinnen» zu nennen. Im Zentrum der Sendungen müssten Frauen stehen, und zwar nicht irgendwelche herausragenden Gestalten, sondern geschichtsprägende Typen ganz anderer Art. Geschichte von unten statt von oben ist jetzt gefragt. Wie könnte das aussehen unter Beachtung des für das Fernsehen unverzichtbaren Prinzips der Personalisierung?
Sendung 1: Die Bäuerin. Fast alle Frauen waren während tausenden von Jahren Bäuerinnen. Sie führten die Hofwirtschaft und die Familie, verfügten über medizinische Kenntnisse, waren bewandert in der Produktion und Konservierung von Nahrungsmitteln, glaubten an den Herrgott und den Herrn Pfarrer, zogen die Kinder gross und die Tiere, waren ungebildet, aber wussten viel. Würde man als zeitlichen Rahmen das 18. Jahrhundert wählen, könnte auch die fundamental wichtige Agrarevolution eingefangen werden.
Sendung 2: Die Stickerin. Die Industrialisierung der Schweiz begann mit der Textilindustrie, und in ihr arbeiteten vor allem Frauen (und Kinder). An der Textilarbeiterin liesse sich der Übergang von der agrarischen in die industrielle Zeit darstellen, auch der Kampf um Schulbildung statt Fabrikarbeit, die Urbanisierung und nicht zuletzt der Gegensatz zwischen dem wirtschaftlich und gesellschaftlich tragenden, aber politisch entmündigten weiblichen Geschlecht.
Sendung 3: Die Mutter. Die meisten Frauen waren Mütter, früher mehr als heute, wo sie wählen können, ob sie es werden wollen. Man könnte im Stammbaum einer Familie Schweizer herumklettern und Mütter aus verschiedenen Zeiten porträtieren, miteinander verwandt und doch komplett verschieden.
Sendung 4: Die Krankenschwester. Die gesamt Care-Ökonomie ist während der ganzen Geschichte vorwiegend in den Händen der Frauen gewesen. Warum eigentlich? Und was hat das geheissen im Laufe der Zeiten? Es liessen sich interessante Querbezüge zur Medizin, zum Rollenbild, zum Sozialwesen herstellen und ganz gewiss auch dramatisieren.
Wie auch immer: Es ist jetzt Zug im Kamin, und die SRG steht in der Pflicht nachzubessern. Das Schweizer Fernsehen braucht eine televisionäre Programmierung von Geschichte. Es hat ja die Aufgabe, zum nationalen Zusammenhalt beizutragen. Nichts eignet sich neben Sport und Politik besser als die gemeinsame Vergangenheit.
Lieber Hans-Jürg
Lass mich etwas Grundsätzliches einwenden. Ist dieses ganze Story-telling about old Switzerland nicht eine Alibi-Übung dafür, was weder de Weck noch Marchand in all den Jahren je echt versucht haben, was aber in ihrem Pflichtenheft steht: am Brückenschlag der Landesgegenden der Schweiz mitzuwirken? Und weil sie nicht über die Kreativität verfügen, solches anhand der aktuellen Schweiz zu leisten, begeben sie sich auf das vermeintlich sicherere, weil überlieferte Terrain der Geschichtsdarstellung. So ist es denn auch rausgekommen. Denn wie willst Du, dass die Herrschaften kreativ Geschichte darstellen, wenn sie gerade deshalb auf die Geschichte zurückgreifen, weil ihnen die Kreativität abgeht?
Eine gemeinsame Vergangenheit hängt aber immer an Menschen, das ist kaum zu vermeiden. In den Jubiläumsschriften von 125 Jahre SP Schweiz waren 27 Köpfe von Menschen (nur 12 Frauen!!) abgebildet. Da ging es auch um Menschen und nicht um anonyme Wesen. Es geht immer um Menschen und nicht um Mitglieder, Klassen, Zielgruppen oder Wahlvolk. Ihre Kritik am Fernsehen greift zu kurz. Es geht nicht um die Personen sondern um den Geist den diese verkörperten. Im Falle von Dufour und Escher sind die historischen Fakten fundiert. Ohne den Geist von Dufour gäbe es die Schweiz nicht, wir wären mit grosser Wahrscheinlichkeit im einem grässlichen Bürgerkrieg untergegangen, sehr zur Freude von Frankreich und Oesterreich-Ungarn. Bitte begründen Sie Ihre Behauptung, die Schweiz wäre auch ohne Dufour entstanden. Als Historiker sollte es Ihnen möglich sein, dies fundiert zu begründen.
Vermutlich kann Herr Fehr das nicht!
(Er wollte vielleicht nur ein bisschen für sich selbst (und für seine Partei) werben, das Thema selbst und der Inhalt seiner Schrift spielten dabei nicht so eine grosse Rolle!)
Die Diskussion über die Schweizer ist spannend und jede/r kann etwas dazu sagen. Mit der Stellung der Kommentatoren steigt jedoch der Anspruch. Herr Fehr, wenn Sie feststellen, die Schweiz gebe es auch ohne G. H. Dufour, dann bitte ich Sie um eine historisch seriöse Begründung. Das sind den Lesern schuldig, Journal21 ist keine parlamentarische Gazette.
So wie man "Rosencranz and Guldenstern are dead" anstelle von "Hamlet" spielen kann, kann man über Bäuerinnen etc. die Schweizer Geschichte erschliessen. Wie wenn alle Frauen eine bescheidene Rolle gehabt hätten. Wie wäre es damit, die Reformationszeit aus der Sicht von Katharina von Zimmern zu beleuchten, die Zeit der Französischen Revolution aus der Sicht von Germaine de Stael zu schildern oder den Zweiten Weltkrieg aus der Sicht der Flüchtlingsmutter Kurz zu beschreiben?
"Das Schweizer Fernsehen braucht eine televisionäre Programmierung von Geschichte. Es hat ja die Aufgabe, zum nationalen Zusammenhalt beizutragen. Nichts eignet sich neben Sport und Politik besser als die gemeinsame Vergangenheit."
Ach du meine Güte! Bitte nein! Es ist einfach zu billig! Aufhören!
Wie lange wurde versucht den "nationalen Zusammenhalt" zu sabotieren?
Erst seit in unserem Land wieder das alte Brauchtum die Leute wieder zu tausenden erfreut und anheimelt, die Volksmusik und das Schwingen Urständ feiern sieht man plötzlich Handlungsbedarf?
Das ist einfach zu plump.
Herr Fehr will mal wieder mit linkem Gedankengut herumkontaminieren. Kein Mensch interessiert das (ausser den üblichen humorlosen LiGrü`s).
wo Herr Santana aus dem Beitrag von Hans-Jürg Fehr "linkes Gedankengut" findet. Ist es denn nicht normal, dass auch Frauen in der Schweiz etwas zu sagen hatten und haben? Was ist daran LiGrü?
Rockschleicherei mit fragwürdigen Argumenten. Wenn sie eine Sendung über Hausfrauen machen wollen, so wird ihnen sicher SFR eines Tages entgegenkommen. Interessanter wäre wohl endlich eine Sendereihe über totalitäre Systeme und deren Sympathisanten zu sehen. Nicht über Adolf, solche haben wir bereits zehntausendsten Mal in allen Varianten gesehen. Wir wünschten eine wirkliche Aufarbeitung der sozialistischen Vergangenheit. STALIN, die SOWJET-UNION, die DDR. Die Arbeitslager, die Gulag`s , deren Folterknechte, die duzenden von Millionen Ermordeten. Wir möchten die Wahrheit über Arbeiterparadiese kennen lernen und die schrecklichen Folgen für deren Bevölkerung. Wir möchten wissen wer von unseren Staatsbürgern alles mit diesen verbrecherischen Regimen geliebäugelt und Besuche abgestattet hat. Das wäre wohl interessanter als die unzähligen arme Hausfrauen im Mittelalter ……oder nicht?...cathari
In der Beziehung wurde eigentlich so ziemlich alles fichiert und kann im Bundesarchiv und Bibliotheken nachgeschlagen werden. Wo noch Aufklärungsbedarf bestünde, wären die Zusammenarbeit von bekannten Schweizer Politikern mit dem verbrecherischen und rassistischen Regime in Südafrika, oder die Geschäfte mit den Diktaturen in Südamerika, usw. Das Sozialisten Sozialisten in anderen Ländern besucht haben, ist echt langsam langweilig, weil es jedermann bekannt ist, aber man möchten ja damit eher von der eigenen Schuld, wie die Nähe zu faschistischem Gedankengut o.ä. ablenken, in dem man auf das Gegenüber zeigt. Alter Trick, den schon Kinder im Kindergarten versuchen und darum ist es umso erstaunlicher, dass er immer noch im SVP-Aggitationsrepertoire zu finden ist.
Etwas haben wir gemeinsam Herr Bendicht, den Pawlow-Reflex. Sie reagieren ungehalten auf die mögliche AUFARBEITUNG eines Verbrechens und ich auf das ständige Abwerten unserer Gründungsväter und deren Vergangenheit. Also sind wir beinahe quitt, wäre da nicht jene Einseitigkeit!....cathari
Vielleicht findet mal ein "Entwicklungsschub" statt in dem die Menschheit endlich kapiert, dass sich bis anhin jeder politische "......ismus" als Betrug an den davon befallenen Völkern und als Massenmord an ihnen herausgestellt hat? Und das man all' den Ideologischen Brennstoff in die Tonne treten sollte - um endlich mal selber zu denken und Verantwortung für sich und sein Leben zu übernehmen, ohne danach zu fragen, ob es den Linken den Rechten, oder der Mitte, oder den extrem Rechts- oder Linksaussen gefällt. Vielleicht käme was Gutes dabei heraus.
Schlimmer als das festgefahrene, immergleiche im Kreis herumfahren und den anderen die Schuld geben - damit sich ja nichts ändern kann - schlimmer kann es nicht mehr werden. In Wahrheit gibt es keinen Unterschied zwischen den verschiedenen politischen Richtungen und ihren Vertretern, die Motive sind die gleichen, die Ziele ebenfalls, ebenso die Fehler, warum also sollen die Resultate anders sein?
"Die Schweizer" waren Sendungen, die wieder einmal die wehrhafte, unbeugsame, mythentrunkene Schweiz zeigten. Ich fühlte mich um 50 Jahre zurückversetzt, also im Geschichtsunterricht der Schule, in dem die gleichen heroischen Helden thematisiert wurden. Im Übrigen war dann die Schweizer Geschichte vor dem zweiten Weltkrieg zu Ende. Für mich wurde die moderne und liberale Schweiz 1848 mit dem Bundesstaat gegründet. Eine andere Geschichte des zweiten Weltkriegs wurde im Zuge der Diamant-Feiern 1991 von Historikern wie Tanner und Heiniger geschrieben. Die offizielle Schweiz und mit ihr das Staatsfernsehen hat sich mit der Aufarbeitung von "unschweizerischer" Geschichte, wie die der Fahrenden, Verdingkinder, Heimkinder, immer schwer getan. Viel lieber wird gelobhudelt und die Ballenberg-Schweiz zementiert. Das Staatsfernsehen hat die Heimatliebe entdeckt. Vielleicht rechnen sich die Quoten. In der Tagesschau flimmert wöchentlich eine touristische Werbesendung über die Mattscheibe und im Sommer wird gewandert und den "Bösen" (Schwingern) gehuldigt. Wahrlich, die Schweiz existiert - wenn auch in ihrer urschweizerischen Form.
Da habe sie aber schlecht aufgepasst. Dufour, Escher und Francini waren Figuren der modernen Schweiz nach 1848. Also war die Geschichte nicht so verklärt und ein wichtiger Teil davon auch historisch sauber belegbar. Im Uebrigen tut sich die ganze Schweiz schwer mit der Aufarbeitung von heiklen Themen der Geschichte. Die Konzentration Ihres Rundumschlages auf das Fernsehen finde ich unfair.
Lieber Herr Landolt: Richten sie das Interieur in den Studios am Leutschenbach ein? Das Staatsfernsehen, mit Herrn De Weck, dem einstigen Euro-Turbo an der Spitze darf doch noch kritisiert werden oder etwa nicht? Es ist eine andere Zeit, nicht eine wie zu Gotthelfs Zeiten.