Giscard – der „Vater“ des TGV

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Giscard – der „Vater“ des TGV

Von Hans Bosshard, 03.12.2020

Der am Dienstag verstorbene frühere französische Präsident Giscard d’Estaing hat politisch die entscheidenden Weichen für den berühmten Hochgeschwindigkeitszug TGV gestellt.

Giscard d’Estaing an der Trauerfeier für seinen Freund Helmut Schmidt in Hamburg, 23. November 2015 (Foto: Keystone/AP Photo/Markus Schreiber)
Giscard d’Estaing an der Trauerfeier für seinen Freund Helmut Schmidt in Hamburg, 23. November 2015 (Foto: Keystone/AP Photo/Markus Schreiber)

An seinem Wohnort im westfranzösischen Departement Loir-et-Indre hat 94-jährig der bis zuletzt politisch aktiv gebliebene frühere Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing die Folgen einer Corona-Infektion nicht überlebt. Im Elysée amtierte er von 1974 bis 1981, als ihm die angestrebte Wiederwahl misslang. 1976 hatte er den politischen Mut, in der ersten grossen Ölkrise mit ihren harten wirtschaftlichen Folgen das Projekt einer 400 km langen „ligne à grande vitesse“ (TGV) Paris–Lyon für den schnellen Reiseverkehr nicht einzusparen, sondern ab 1976 zu realisieren. Die aus Budget-Gründen von 1981 auf 1983 verschobene Einweihung fiel in die Amtszeit seines Nachfolgers François Mitterrand.    

Mit einer planmässigen Höchstgeschwindigkeit von zunächst 260 und dann 270 und 300 km/h und auf anderen Linien 320 km/h dem japanischen Vorbild von 1964 folgend, übertraf die erste europäische Hochgeschwindigkeitslinie die Erwartungen in jeder Hinsicht wesentlich. In Etappen von nur je fünf Jahren drang der TGV nach Bordeaux und in die Bretagne vor, erreichte Marseille (von Paris 750 km entfernt), Lille, Strassburg und durch den Kanaltunnel London und schraubte den Geschwindigkeits-Weltrekord für Schienenfahrzeuge auf 574 km/h. Auf klassische Strecken verlängert dient der TGV auch zahllosen kleineren Städten in ganz Frankreich und den Nachbarländern.

In fast allen dafür geeigneten west- und mitteleuropäischen Ländern, ausser der Schweiz, entstanden in den letzten 30 Jahren ebenfalls Strecken für 250 oder mehr km/h. Die Deutsche Bahn versuchte es mit einem vom japanischen und französischen Vorbild abweichenden Modell für gemischten Reise- und Güterverkehr, das sich von den Bauzeiten bis zu den Erträgen nicht bewährte, während der TGV Frankreichs in allen politischen Lagern zum Nationalstolz zählt und noch laufend weitergebaut wird.

Giscard ist auch der Vater der "Übernahme" der BBC-Dampfturbinen-Technik und des BBC Werkes Le Bourget, für das Nuklearprogramm Frankreichs und weil die Alsthom-Technik nicht auf der Höhe war. Ironie du sort: ab 1999, diese Sparte wurde von Alstom übernommen, bevor sie an GE verkauft wurde.

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