"Jede Humanität ist unangebracht"

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"Jede Humanität ist unangebracht"

Von Heiko Flottau, 25.03.2014

Ein Schweizer dokumentierte österreichisch-ungarische Kriegsverbrechen in Serbien.

„In Sabac töteten die österreichisch-ungarischen Truppen über sechzig Zivilisten vor der Kirche. Diese waren vorher darin gefangen gehalten worden. Sie wurden von acht ungarischen Soldaten  mit dem Bajonett abgeschlachtet, um, so hieß es, Munition zu sparen.“

Dieses Massaker vom 17. August 1914 an Zivilisten in der serbischen Stadt Sabac bezeugt  ein gefangener Soldat des 32. k.und k.-Landwehrregiments. Der erste Weltkrieg war an diesem 17.August 1914 gerade einmal  drei Wochen alt. Nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajewo am 28.Juni 1914 durch den bosnischen Serben Gavrilo Princip hatte Österreich-Ungarn Serbien am  22.Juli ein Ultimatum mit zehn Punkten gestellt.

Serbien hatte alle Punkte am  25.Juli angenommen – bis auf jenen, der Österreich-Ungarn Mitsprache bei der Untersuchung des Attentates von Sarajewo garantiert hätte. Österreich-Ungarn vermutete die Hintermänner des Attentates von Sarajewo - zu Recht - in Belgrad.

Der deutsche Kaiser Wilhelm II. hatte nach der versöhnlichen serbischen Antwort  geäußert, nun gebe es keinen Kriegsgrund mehr. Doch Österreich hatte schon lange geplant, Serbien in die Knie zu zwingen. Es lehnte die entgegenkommende  Antwort der serbischen Regierung ab und erklärte am  28.Juli 2014 Serbien den Krieg. Wilhelm II. hatte schon lange vorher bekundet, er werde der habsburgischen Monarchie im Kriegsfalle „mit schimmernder Wehr“  beistehen.

Polizei-Experte Archibald Reiss

Gleich am Anfang  dieser Urkatastrophe des 20.Jahrhunderts kam es zu dem oben zitierten Massaker in der serbischen Stadt Sabac.  Aufgezeichnet hat  dieses Kriegsverbrechen Rodolphe  Archibald Reiss.  

Archibald Reiss wurde 1875 im Großherzogtum Baden geboren, studierte später in der Schweiz und promovierte  1898 in Lausanne. Er war Photographie-Experte und gründete 1898 das Journal suisse des photographes. 1901 wurde er in Lausanne eingebürgert. Von 1906 bis 1919  war er Professor für Polizeiphotographie an der Universität Lausanne.

Sein Ruf als Polizei-Experte und die Tatsache, daß er Bürger der neutralen Schweiz war, brachten Archibald Reiss von der Königlich Serbischen Regierung in Belgrad den Auftrag ein, die von Serbien behaupteten Kriegsverbrechen der k.u.k-Truppen zu untersuchen. Nach intensiven Recherchen legte Reiss eine 192 Seiten umfassende Dokumentation vor. Sie trägt den Titel:

"The Kingdom of Serbia – Report  upon the Atrocities Committed by the Austro-Hungarian Armee during the first  Invasion of Serbia – Submitted to the Serbian Government  by R.A. Reiss, D.Sc. Professor at the University of Lausanne.“

"Fanatischer Hass gegen uns"

Nach  einer detaillierten, peniblen Recherche hat Professor Reiss die Behauptungen der serbischen Regierung bestätigt, daß die k.u.k.-Armee  während ihrer ersten  Invasion Serbiens im Sommer 1914 tatsächlich Kriegsverbrechen begangen hat. Sie gehörten zu den ersten in diesem ersten verheerenden Krieg  des 20.Jahrhunderts – und sie waren, im Nachhinein betrachtet, dunkle Vorboten dessen, was kurze Zeit später deutsche Truppen in Belgien anrichteten - und Vorboten des Grauens, das die Soldaten aller Seiten etwa in der Marneschlacht und vor Verdun erwartete.

Wesentliche Ursache dieser Barbarei war die Verteufelung des Kriegsgegners. So heißt es etwa in einer „Direktion für das Verhalten  gegenüber der Bevölkerung in Serbien“, die vom 9. k.u.k.-Corpskommando herausgegeben wurde: „Der Krieg führt uns in Feindesland, das von einer mit fanatischem Hass gegen uns erfüllten Bevölkerung  bewohnt wird, in ein Land,  wo der Meuchelmord, wie auch die Katastrophe von Sarajewo zeigt, selbst den höher stehenden Klassen als erlaubt gilt, wo er gerade als Heldentum gefeiert wird. Einer solchen Bevölkerung gegenüber ist jede Humanität und Weichheit höchst unangebracht, ja geradezu verderblich, weil  diese, sonst im Krieg ab und zu möglichen Rücksichten, die Sicherheit der eigenen Truppen schwer gefährden würde.“ (Zitat  aus  „Veliki Rat- Der Große Krieg“, ausführliche Quellenangabe am Schluß).

"Du serbisches Schwein"

Professor Reiss gibt in seinem Bericht  eine ausführliche Darstellung seiner Untersuchungsmethoden. Er habe die Zeugen, meistens serbische Bauern, intensiv befragt, diese hätten ihn  zugleich an die Orte der von ihnen behaupteten Massaker geführt, so daß er die Berichte an Ort und Stelle habe verifizieren können. Auch  hätten die Massaker meistens schon ein paar Tage zurück gelegen, so daß die ersten Emotionen der Zeugen abgeklungen seien. Reiss schreibt: „Die Gefahr der Übertreibung durch pesönliche  Erregung, welche anfangs so natürlich ist, war weitgehend ausgeräumt. Ich stellte  auch fest, daß die serbischen Bauern dazu neigen, eher zu wenig als zu viel zu sagen. Schließlich  hat das Unglück sie in einem solchen Maße deprimiert, daß sie dahin gekommen sind,  das Übel, das sie befallen hat, als natürlich und unvermeidbar zu betrachten. Dies ist ein Gemütszustand, der nicht  zu  Übertreibung prädisponiert.“

So ist zum Beispiel folgender Bericht über eine Exekution ohne Gerichtsverhandlung durchaus glaubhaft. Im  serbischen Dorf  Velika Reka habe ein Zeuge gesehen, wie Leutnant Joseph Berticz von der österreichisch-ungarischen Armee zwei alte Männer von etwa 70 Jahren und  fünf Jungen von etwa 14 und 15 Jahren erschossen habe. Reiss faßt den Bericht des serbischen Zeugen so zusammen: „Lieutenant Berticz ging zum ersten Mann, einen Taubstummen, schlug ihn zuerst und dann einen anderen mit der Faust und sagte: „Du serbisches Schwein, dies ist für Dich“. Dann ließ er den ersten Mann vorführen und erschießen. Der zweite wurde zu Tode bayonettiert. Die fünf Jungen wurden in einem Kugelhagel erschossen.“

"Man mache diese Leute nieder"

Diese Barbarei war von der Armeeführung mehr als geduldet, sie war Mittel der Kriegführung. In dem oben zitieren Corpsbefehl heißt es denn auch: „Ich  befehle daher, daß während der  ganzen kriegerischen Aktion die größte Strenge, die größte Härte und das größte Mißtrauen gegen jedermann zu walten hat. Beim Durchmarsch nehme man sie (die Bewohner, Anm.d. Autors)  möglichst bis zum Passieren der Queue mit und mache sie unbedingt nieder, wenn auch nur ein Schuß in der Ortschaft auf die Truppe  fällt. ... In jedem Einwohner, den man außerhalb der Ortschaft,  besonders aber in Waldungen trifft, sehe man nichts als Bandenmitglieder, welche Waffen irgendwo versteckt haben. Diese zu suchen haben wir keine Zeit. Man mache diese Leute, wenn sie halbwegs verdächtig erscheinen, nieder.“  (Aus: „Veliki Rat, Der Große Krieg“).

Man kann diese Anweisungen, wie Archibald Reiss es getan hat, getrost als eine Aufforderung zum Massaker verstehen. Professor Reiss sieht die Schuld für diese Barbarei in den ersten Tagen des Weltkrieges durchaus nicht oder nicht nur bei den einfachen Soldaten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. In einer längeren Analyse, wie es zu den Massakern kommen konnte, schreibt Professor Reiss:

„Beides, die Beweise und die Dokumente bestätigen zudem die Tatsache des Vorsatzes und einer langen Vorbereitung. ... Die österreichisch-ungarischen Soldaten, die sich auf serbischem Territorium plötzlich jenen Menschen gegenüber sahen, die ihnen stets als Barbaren geschildert worden waren,  waren verängstigt und verschreckt. Aus Angst, selbst massakriert zu werden, verübten sie vermutlich ihre ersten Grausamkeiten.“

"In ein blutrünstiges Biest verwandelt"

Professor Reiss fährt fort: „Aber angesichts des Blutes entwickelte sich ein Phänomen, das ich oft Gelegenheit hatte zu beobachten: der Mensch wurde in ein blutrünstiges Biest verwandelt. ... In dem Augenblick, da das blutrünstige und sadistische Biest  von seinen Ketten befreit und von seinen Vorgesetzten losgelassen war, wurde das Werk der Zerstörung  konsequent ausgeführt - von Männern, die Väter von Familien und vermutlich in ihrem Privatleben freundliche Leute waren.“

Professor Reiss kommt zu dem Schluß, daß die eigentlichen Verantwortlichen dafür, daß die niedrigen Instinkte des Menschen losgelassen wurden, die Vorgesetzten der einfaschen Soldaten gewesen seien. Mehr noch, diese Menschen hätten die niedrigen Instinkte erst erweckt.

Ein  Freund Serbiens

Archibald Reiss blieb Serbien verbunden. Nach der Niederlage des Landes gegen Österreich-Ungaren im Jahre 1915 schloß er sich der fliehenden Armee an und teilte ihre Strapazen beim Überschreiten der albanischen Gebirge. Nach dem Krieg blieb er in Serbien, war sogar Mitglied der serbischen Delegation bei den Friedensverhandlungen in Paris. Danach versuchte er sich an der Reorganisation der serbischen Polizei. Er blieb bis zu seinem Tod in Serbien und wurde auf dem Belgrader Friedhof Topcider begraben. Neuerdings werden in Serbien alljährlich die Archibald-Reiss-Tage veranstaltet, organisiert von der Akademie für Kriminalistik und Polizeistudien.

Ob sich Professor Archibald Reiss stets in Serbien wohl gefühlt hat und warum er nicht  in die Schweiz zurückgelehrt ist, bleibt unklar. Einigkeit aber besteht darüber, daß er seine Forschungen zu den Kriegsverbrechen Österreich-Ungarns  vorurteilsfrei geführt hat. Ob aber die Soldaten Österreich-Ungarns, die in serbische Kriegsgefangenschaft kamen, von Serbien so gut behandelt wurden, wie Reiss es in seinem Schlußkapitel beschreibt, kann bezweifelt werden.  

"Ein Volk an der Spitze der Zivilisation"

Manche dieser Gefangenen hätten sich, schreibt Reiss, teilweise mit Serbien solidarisiert. Im Übrigen seien sie jederzeit gut behandelt worden. Möglicherweise ist dieses Kapitel ein Kotau vor den serbischen Auftraggebern von Archibald Reiss. Unbestritten aber sind die Ergebnisse seiner Forschungen zu den Massakern in Sabac und anderen Orten geblieben. Von Österreich-Ungarn wurden diese Greueltaten kaum je bestritten.

Archibald  Reiss beklagt, daß diese Massaker auf das Konto eines Staates gegangen seien, dessen Volk sich an der Spitze der Zivilisation gesehen habe und das seine „Kultur“  anderen bringen wollte,  welche diese Kultur gar nicht akzeptiert hätten.

Diese tragischen Ereignisse liegen, auf den ersten Blick wenigstens, in einer fernen Vergangenheit, sie wecken, allenfalls, historisches Interesse – oder?

Die Welt hat sich nicht wesentlich geändert

Ein Jahrhundert später bezeugen die Kriege der Gegenwart,  daß sich die Welt nicht wesentlich geändert hat – auch nicht  nach der zweiten großen Katastrophe mit ihren Völkermorden, Vertreibungen und Massakern. Die Bestrebungen der USA etwa, den Irakern Demokratie zu bringen, endeten mit im Gefängnis von Abu Graib bei Bagdad. Heute sterben auf den Straßen Bagdads und anderer irakischer Städte fast täglich Zivilisten bei Bombenanschlägen von Al-Qaida-Fanatikern.

In Afghanistan werden Hunderte von Zivilisten bei amerikanischen Drohnenangriffen – versehentlich natürlich – getötet. Und im Vergleich mit den Leiden der syrischen Bevölkerung sind die Qualen, welche österreichisch-ungarische Offiziere  vor einhundert Jahren den Serben in Sabac zugefügt haben, fast eine Randerscheinung. Und Serben selbst haben im bosnischen Srebrenica skrupellos wehrlose Muslime getötet – zu Tausenden.

Der Krieg gegen die Zivilbevölkerung  ist auch einhundert Jahre nach Sabac nicht zu Ende.

Quellen: Rodolphe Archibald Reiss „Report upon the Atrocities Committed by the Austro-Hungarian  Army  during the first Invasion of Serbia.“  (Zu erhalten bei Amazon) – Gordana Ilic Markovic (Hrsg): „Veliki Rat – Der Große Krieg. Der erste Weltkrieg im Spiegel der serbischen Literatur und Presse.“ Promedia Verlag Wien 2014.  -  Wikipedia-Artikel über Archibald Reiss.

Zu diesem Thema empfehle ich auch das hervorragende Buch "Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914-1918" des Fotohistorikers Anton Holzer (Primus-Verlag 2014).

Krieg gegen die Zivilbevölkerung, den man vergessen wollte.

Nicht nur 1914, sondern auch 1941 and 1999 wueden die Serben angegriffen und masakriert! Was haben die Jesuiten gegen Serben?In Kroatien gibt es nicht mehr Serben - dort wurde die Familie von Nikola Tesla augerottet. Die meisten Tesla haben in Jasenovac verendet. Die restlichen haben nach Belgrad 1995 emmigriert... mein Gott!

Danke für Ihren Artikel.
Zwei Punkte nur: Niemand hat, glaube ich, Reiss in Serbien festgehalten. Wenn es ihm dort nicht zugesagt hätte, so wäre er doch in die Schweiz zurückgekehrt, nicht? Und Kriegschauplätze bitte nicht vergleichen. Das Leiden der serbischen Bevölkerung wird dadurch nicht geschmälert, dass serbische Milizen Moslems getötet haben (und moselmische Milizen serbische und kraotsiche Bauern etc.).
Eine "Randerscheinung" war der Krieg gegen Serbien sicherlich nicht. Zumindest nicht für die Serben. Serbien hat 450,000 Soldaten und 650,000 Zivilisten verloren; 1.250.000 wurden verwundet. Das ist ungefähr über 8% der Bevökerung Serbiens.
Quelle: Everett, Susan, History of World War I, Bison Books, 1980 und Tucker, Spencer C. The European Powers in the First World War: An Encyclopedia, Garland Publishing, New York, 1996.

Wie sieht es den in uns heute aus? Wie viele Neurotiker produzieren wir durch aufgezwungenes Verharren in ständiger Abwehr. Die Entfremdung gähnt auch in uns wieder. Meist durch Selbstentfremdung und Entfremdung vom anderen. Der ursprüngliche Zustand der Harmonie mit der Natur und unserer Gesellschaftsordnung wurde weitgehend zerstört durch Missbrauch der Macht, durch die Mächtigen. Bespitzelt, betrogen und als Individuen gekettet an unabwendbares, unausweichliches gefangen sein in scheinbaren Gesellschaftsverträgen als Vorgaben. Mit zwanghafter Besessenheit und getrieben von Schuldgefühlen versuchen wir ständig dem Teufelskreis von leicht durchschaubaren Lügen zu entkommen. Viele ängstigen sich heutzutage vor sich selbst, können weder leben noch sterben und werden manchmal sogar zu Quellen des Schreckens. Die Teufel und Dämonen die wir anderen andichten sind doch meist unsere eigenen verdrängten Wünsche oder Triebwünsche, die wir niemals zugeben würden oder könnten. Vielleicht richtet das Unterbewusstsein seine Energien nach unten weil der Weg zum Bewusstsein durch Irrlehren versperrt wird. Die unerlebte Vergangenheit eines Neurotikers und der kann durchaus auch Politiker sein, ist nicht mehr in der Lage die Veränderungen einer heutigen Wirklichkeit wahr zu nehmen. Er lässt einfach seine eigenen Dämonen im vermeintlichen Feind erschiessen. Mensch gib acht!...cathari

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