„Leben wir heute wirklich besser?“ - Eine Replik

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„Leben wir heute wirklich besser?“ - Eine Replik

Von Gastkommentar, 14.09.2018

In einem Kommentar hat Reinhard Meier über kritische Einwände zum neuen Buch von Steven Pinker „Aufklärung jetzt!“ berichtet. Der Leser Beat Moser* ist damit nicht einverstanden.

Das Buch von S. Pinker, „Enlightenment Now“ (Aufklärung jetzt!), wird von Bill Gates als sein Lieblingsbuch aller Zeiten [1] bezeichnet. Ich verstehe nach dessen Lektüre durchaus warum. Der Autor spricht sich für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt aus. Wie kann man sich ernsthaft auch nur gegen einen dieser Aspekte aussprechen und wofür wollte man stattdessen einstehen?

Der Verweis auf Hans Rosling im Beitrag könnte insofern missverstanden werden, als er mit der Aussagen zitiert wird, dass die Welt „besser und schlecht gleichzeitig“ sei. Hans Rosling sagt aber klar und wie S. Pinker, dass es zwar besser wird, aber dass der Zustand noch nicht gut ist, wir also nicht am Ziel sind.

Negative Einschätzungen wirksamer als positive

S. Pinker wird vorgeworfen, er schiebe die Verantwortung für die negative Wahrnehmung der Welt unter anderem den Medien zu. Tatsächlich hat eine Auswertung [2] gezeigt, dass die mediale Berichterstattung zusehends negativer wurde.

Pinker sagt klar, dass die Ursachen für die übermässig negative Wahrnehmung der Welt keineswegs alleine bei den Medien zu suchen sind. Vielmehr gibt es psychologische Gründe dafür. So kann gesagt werden, dass negative Aspekte des Lebens und Gefahren bei frühzeitiger Wahrnehmung die Lebenserwartung unserer entfernteren Vorfahren deutlich erhöht haben dürften. Die Präferenz des Negativen ist tief verwurzelt und führt nachweislich dazu, dass wir negative Kritiken regelmässig als glaubwürdiger betrachten als positive, negative Argumente wegen der nachweislich höheren Wirksamkeit in Abstimmungskampagnen eifrig bewirtschaftet werden oder wir viel grössere Angst haben, einen Betrag zu verlieren als denselben Betrag nicht zu gewinnen.

Ein weiterer Faktor ist die „Verfügbarkeitsheuristik“, wonach wir generell Ereignisse für wahrscheinlicher halten, wenn sie uns einfach in den Sinn kommen. Die von Medien unter dem Titel „News“ häufig dargestellten Ereignisse erscheinen uns daher als besonders real und gefährlich, auch wenn das unzutreffend ist.

Die Befindlichkeiten in Wohlstandsgesellschaften

Nicht nur die vollständige Ausmerzung von Pocken (letzte Erkrankung 1977 in Somalia) auf der Welt ist ein Fortschritt, sondern auch die Reduktion der weltweiten extremen Armut (Einkommen pro Kopf kleiner als 1.9 Dollar pro Tag) von 85 Prozent der Menschheit [sic!] um 1800 auf 9 Prozent im Jahr 2017. Ist es nicht besser, die Lotterie der Geburt heute zu wagen, als vor 200 Jahren, und zwar gerade weil die Einzelschicksale derart hart waren und sind? Man würde einem Humanisten wie Pinker ganz und gar nicht gerecht werden, wenn man ihm unterstellte, dass er sich nicht um Einzelschicksale kümmern würde.

Zum Schluss wird Pinker entgegengehalten, die kollektive Zufriedenheit sei nicht angestiegen. Es mutet schon etwas zynisch an, wenn hier über die Verbesserung der Zufriedenheit der Bewohner einiger reicher Staaten diskutiert wird, die noch weiter optimiert werden könnte, wenn gleichzeitig die Zahl der unterernährten Menschen von 1970 (das ist nicht so lange her) bis 2015 von 28 auf 11 Prozent gesunken ist. All diese Menschen, die nun nicht hungern müssen, sind deswegen sicher zufriedener. Selbst wenn man unsere Zufriedenheit als die relevanteste Grösse nehmen wollte, muss  man seine Aussagen auf Fakten basieren.

Die guten alten Zeiten und das schlechte Gedächtnis

Es kann zum Beispiel auf Suizidzahlen geschaut werden, um zu versuchen, anhand der gänzlich Verzweifelten eine Aussage über die generelle Zufriedenheit einer Bevölkerung zu machen. Die Suizidrate bewegte sich in der Schweiz mehr oder weniger zwischen 0.02 und 0.025% und fiel ab den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts unter 0.015% [3]. Vieles ist auch eine Frage der Wahrnehmung und Erinnerung: das Einzige, was die guten alten Zeiten gut macht, ist ein schlechtes Gedächtnis.

Gerne empfehle ich das sehr gut und oft humorvoll geschriebene Buch von S. Pinker, „Aufklärung jetzt“ zur Lektüre. Nebst relevanten, höchst interessanten und oft unbekannten Fakten kann es eine neue Sicht der Dinge ermöglichen und zum Handeln motivieren. Die Menschheit hat gute Chancen, ernsthafte Probleme anzugehen und in die richtige Richtung voranzutreiben. Ob das letztlich gelingen wird, kann nicht vorausgesagt werden (daher ist die Frage auch nicht sehr interessant). Aber die erfolgversprechenden Strategien sind bekannt und ebenso weiss man, welche Methoden nicht zielführend sind: allen voran Aberglaube, Ideologie und Ignoranz. Gerne würde ich mich daher nicht als Optimisten, sondern wie Hans Rosling als „sehr ernsthaften Possibilisten“ bezeichnen.

* Beat Moser hat in Zürich Jura studiert. Er arbeitete als Rechtsanwalt, später in der Geschäftsleitung von Sunrise und als Verbandsgeschäftsführer in der Stromwirtschaft in den Bereichen Recht, Regulierung, Politik und Kommunikation.

1)  https://www.gatesnotes.com/Books/Enlightenment-Now

2) Siehe Leetaru in First Monday, http://firstmonday.org/article/view/3663/3040

3) 1 Ajdacic-Gross et al. 2006, fig. 1.

Die Welt als Scheibe, Drehscheibe!
Eins ist sicher, die Welt ist in gewisser Beziehung für viele besser geworden, besser als je zuvor. In erster Linie was die Versorgung anbelangt! Wir haben weniger Angst etwas nicht zu kriegen, aber grosse etwas zu verlieren. Dadurch sind wir gleichzeitig zu Gefangenen geworden. In selbstgebauten Kerkern wo wir uns selber eingesperrt haben entstanden durch Imagination unzählige Bedrohungsszenarien. Schutzgefühle entstanden da auch, bequemer Weise einfach hineinsuggeriert. Ein langes sicheres Leben bedeutet noch lange kein erfülltes Leben! Surfen auf dem Zeitgeist einer diesen scheinbar perfekten Wellen scheint heutzutage zwar angesagt, Langzeitfolgen jedoch unbekannt, aber zu erahnen. Der Russe von nebenan fragte mich letzthin woher der Spruch komme, die lügen wie gedruckt und meinte dazu, Medien lügen doch nicht, sie belichten Wirklichkeit, oft überbelichten manchmal unterbelichten sie, dann wieder mit zu offener oder zu enger Blende. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing, seine Interpretation. Es scheine ihm wie beim Wetter, ausgeliefert verschiedenster Strömungen und Drucklagen in komplexer Atmosphäre. Nicht leicht in solchen Lagen noch genau zu bleiben. Rücksicht, Vorsicht und Weitsicht seien gefragt, weil ans Bein pinkeln das ertragen sie schlecht, die Mächtigen, mit ihren mächtigen Instrumenten. …cathari

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