Mäntel, nichts als Mäntel

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Mäntel, nichts als Mäntel

Von Jürg Schoch, 21.12.2011

Wir sind von Mänteln umgeben. Immer und überall. Im Sommer wie im Winter. In der Politik, in der Kirche, in der Technik.

Da ist der Mantel, der wärmt. Der Mantel, der kleidet. Der Mantel des Schweigens. Der Landesmantelvertrag. Der Mantel Gottes. Die Bemäntelung. Der Mantel der Demut, der Herrlichkeit, des Vergessens. Der Bleimantel. Der Zipfel des Mantels der Geschichte. Der Mantelsaum der Zeit. Das Mantelstromtriebwerk. Der Mantel der Barmherzigkeit. Auch das Kirchenlied greift auf ihn zurück: Maria, breit den Mantel aus/mach Schirm und Schild für uns daraus.

Ein Inspirationsquelle

Der Mantel ist nicht nur eine beliebte Metapher, er ist auch eine Inspirationsquelle. Gogols Erzählung „Der Mantel“ erlangte Berühmtheit, Puccini schrieb eine Oper unter diesem Titel, Brecht liess sich über den „Mantel des Ketzers“ vernehmen. Als Tucholsky nach dem Ersten Weltkrieg in der Berliner Elektrischen einer Frau gegenübersass, die einen feldgrauen Mantel trug, musste er augenblicklich zur Feder greifen:

„Lieber, alter Mantel! Wo bist du überall gewesen? In Flandern hat er dich getragen, durch Lehm und Dreck, in grauen Regentagen und in den langen, dunkeln Nächten, wenn er Posten schob – in Polen vielleicht und in Rumänien. Du tratest mit dem Stück Mensch, das da in dich eingewickelt war, zum Appell an, und du marschiertest in Reih und Glied mit tausend anderen Mänteln an Seiner Majestät vorüber…

Lieber alter Mantel! Was hast du schon alles gesehen! Brutalitäten und Not und Hunger und Blut und Todeszuckungen und Offiziere in hellen, bequemen Kraftwagen und Paraden und Lügen, Lügen, Lügen... Du bist weit in der Welt herumgekommen, und jetzt trägt dich seine Frau oder seine Schwester, und sie versucht, sich in deinem dünnen, fadenscheinig gewordenen Stoff zu wärmen. Kriegsjahre, diese Kriegsjahre zählen siebenfach – schier dreissig Jahre bist du alt. Ruh dich aus, du hast genug erlebt. Hast gesehen, wie ein Volk zugrunde ging, weil vierzehn Millionen Mäntel draussen waren und kein Kopf.“

155 000 Franken für den Mantel des Generals

Mäntel haben auch Reliquienstatus. Nicht die abgewetzten, durch Lehm und Dreck geschleiften Exemplare natürlich. Die Verehrung gilt jenen, die höhere Qualität aufweisen und höher gestellten Personen gehörten, Kaisern und Königen, Generälen, Generalfeldmarschällen, Oberkommandierenden. Zu Dutzenden, eher zu Hunderten hängen sie in den Glasvitrinen nationaler Museen europäischer Nationalstaaten.

Die Schweiz verfügt ebenfalls über ein Nationalmuseum, und dieses machte vor wenigen Tagen Folgendes bekannt:

„Der feldgraue Offiziersmantel, den General Henri Guisan (1874–1960) während des Zweiten Weltkriegs trug, hat Kultstatus erlangt. Bei einem Schätzpreis von 7000 Franken an der Frühjahrsauktion 2011 beim Auktionshaus Stuker in Bern wurde er für überraschende 155‘000 Franken ersteigert. Grosszügig stellt die neue Besitzerin – die Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte (SKKG) – den Mantel nun dem Schweizerischen Nationalmuseum als langfristige Leihgabe zur Verfügung.“

Angenommen, bei einem hiesigen Schriftsteller spränge, würde er den neuen Kultgegenstand im Nationalmuseum betrachten, der Funke der Inspiration. Was er zu Papier brächte, würde anders tönen als bei Tucholsky. Aber wie wohl?

Man sieht sie zuhauf, die Männer in ihren dunkelblauen oder schwarzen Mänteln. Dort, wo einen friert ob diesen Männern, wenn sie um die Mittagszeit scharenweise aus den Palästen kommen. Männer, denen im Freien warm ums Herz wird, nach unzähligen Klicks im Sekundentakt. Sie reden, lachen, scherzen, geben ein bisschen an. Kein Weg führt an ihnen vorbei. Daneben steht ein Obdachloser, der einen Plastiksack in der Hand hat. Der Mann trägt wohl die Restutensilien aus seinem früheren Leben mit sich herum. Er schützt sich mit einem alten Militärmantel vor der Kälte. Der Krieg verfolgt ihn ein Leben lang. Rotz schleimt aus seiner Nase, aber er gibt nicht auf, ihn ihn immer wieder hochzuziehen. Einer der Männer von Welt, von einer Gruppe Gleichgesinnter umgeben, zieht ein Stofftaschentuch aus seinem Lodenmantel, schnäuzt kurz, schaut sich die Bescherung an, legt das Tuch säuberlich zusammen und steckt es wieder in den Mantel. Der Obdachlose fährt mit einem Ärmel seines Mantels über die Nase, schaut düster drein und schlurft von dannen. Alles nimmt seinen gewohnten Lauf. Es ist kalt geworden am Paradeplatz.

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