Moderner Kunsttempel auf römischem Fundament

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Moderner Kunsttempel auf römischem Fundament

Von André Pfenninger, 24.09.2012

Von André Pfenninger Ausgegrabene Schätze, spektakuläre Oldtimer-Schau, ein Super-Skulpturen-Park, Meisterwerke aus der Sammlung Merzbacher, das alles im multikulturellen Zentrum der Fondation Gianadda. Wie die Walliser Kleinstadt zu neuer Grösse fand.

Fondation Gianadda, der Skulpturenpark (Bild: André Pfenninger)

Martigny ist eingebettet in einer wunderschönen grünen, hügeligen Landschaft, zwischen hohen Bergen und Rebhängen, an der grossen Strasse gelegen, die sich durch den Kanton Wallis zieht, zwischen Sitten und St-Maurice mit seinem berühmten Kloster. Mittelpunkt und Schnittstelle. Hier teilen sich die Wege. Eine Strasse führt zum Grossen Sankt Bernhard mit dem legendären, berühmten Hospiz, Berg der Mönche und der Bernhardinerhunde (die inzwischen aus einem eigenen Museum in Martigny bellen), die Route in den Süden, über den Pass oder wie seit ein paar Jahrzehnten durch einen zeitgemässen Strassentunnel. Aosta liegt gerade 75 Kilometer entfernt. Eine andere Strasse führt zum Col de la Forclaz. Frankreich ist nicht weit (etwa 40 Kilometer). Eine Bahnlinie verbindet Martigny mit dem französischen Chamonix und dem Mont-Blanc-Gebiet. Martigny ist Zentrum. Hier leuchtet bereits das südliche Licht, das südliche Klima erfüllt die Luft. Die Leichtigkeit des Lebens wird in den Cafés und auf den Plätzen spürbar wie kaum sonst wo in dieser Region. So wie die weit in die Nacht der Zeit zurückreichende Vergangenheit. Octodurus hiess ein früherer Handels- und Marktplatz, das spätere und heutige Martigny (mit ca. 16'000 Einwohner) hat hier seine Wurzeln.

Bekannte Namen, bekannte Bürger

Hannibal, Julius Cäsar, Napoleon und viele andere sind vorbeigezogen und haben Spuren hinterlassen. Bei einem Gang durch die Stadt fallen die zahlreichen steinernen Überreste aus keltischen und gallo-römischen Zeiten auf und faszinieren, Zeugnisse glanzvoller Epochen. Auch in der Gegenwart kann Martigny auf illustre Bürger hinweisen. Da ist ein Stéphane Lambiel, der sich souverän auf der Eisfläche bewegt und in die olympische Ewigkeit gleitet, da ist ein Christian Constantin, das enfant terrible des schweizerischen Fussballs und da ist ein ehemaliger Stadtpräsident und alt Bundesrat namens Pascal Couchepin, der sich mit einigen verbalen Pirouetten auf dem eisglatten Parkett der Politik immer wieder in Erinnerung zu rufen versteht. Da ist aber vor allem auch die aus dem Piemont stammende Familie Gianadda, die Martigny im Laufe der letzten Jahrzehnte nachhaltig geprägt hat und weiterhin prägt. Eine Familie von weitsichtigen Bauleuten, die sich in der lokalen und regionalen Baubranche einen Namen gemacht haben. Léonard Gianadda hat allein in Martigny in den letzten Jahren weit über 1200 neue Wohnungen erstellt.

Stiftung als Denkmal für den Bruder

Im Vordergrund steht heute die Fondation Pierre Gianadda, eine ungewöhnliche, ja phänomenale Institution, die der Walliser Kleinstadt neue Grösse verlieh. Wäre nicht ein tragisches Vorkommnis Ursache der Entstehung, müsste von einer „verrückten Idee“ gesprochen werden. Die Brüder Pierre und Léonard Gianadda führten ein Ingenieur- und Architekturbüro. Am 31. Juli 1976 findet Pierre unter besonders tragischen Umständen (er wollte Freunden rettend zur Hilfe eilen) bei einem Flugunfall den Tod. Léonard Gianadda, der seinem jüngeren Bruder sehr eng verbunden war, fühlte sich verpflichtet, das Unvergessliche in unvergänglichen Formen zum Ausdruck zu bringen. So gründete er rasch eine Stiftung, die den Namen des jüngeren Bruders trägt, um diesem über den Tod hinaus zu gedenken. Nur wenige Monate vor dem Unglück wurden auf einem der Familie gehörenden Grundstück, auf dem ein Wohnungskomplex entstehen sollte, die Überreste eines keltischen Tempels, des ältesten seiner Art in der Schweiz, entdeckt. Statt des geplanten Miethauses wurde nun an dieser historischen Stelle ein Kulturzentrum errichtet. Bereits im Herbst 1977 wurden mit den Arbeiten begonnen und am 19. November 1978, am Tag des 40. Geburtstages von Pierre, fand die offizielle Einweihung statt. Die erste Kunstausstellung wurde 1980 eröffnet und galt dem Berner Paul Klee.

Multikulturelles Zentrum

Der kubusförmige Museumsbau der Fondation Pierre Gianadda fällt durch eine originelle, schlichte und elegante Architektur auf, die an einen antiken Tempel erinnert. Nur unweit davon befindet sich ein einzigartiges, sehenswertes römisches Amphitheater. Im Galeriegeschoss des neuen Kulturtempels werden zahlreiche wertvolle Fundgegenstände aus der gallo-römischen Zeit präsentiert. Im unteren Stockwerk wurde galerieartig rund um die kurz vor dem Bau freigelegten Fundamente der ausgegrabenen Kultstätte ein Ausstellungstrakt geschaffen. Léonard Gianadda, eine äusserst schillernde, hochbegabte Persönlichkeit, wusste rasch der Fondation eine in jeder Hinsicht staunenswerte Ausrichtung zu geben. Sein verblüffender Ideenreichtum, die Vielseitigkeit seiner Interessen (er war in seinen Jugendjahren Reporter, der die Welt bereiste), seine Kreativität und Spontaneität und Weitsichtigkeit haben der Fondation zu ungewöhnlichen Dimensionen verholfen. Ein multikulturelles Zentrum fand bald national und international höchste Beachtung. Nicht nur Kunstausstellungen von höchstem Niveau finden hier statt und locken Kunstfreunde aus aller Welt an. Seit der Eröffnung des Museums 1979 bis Ende August dieses Jahres wurden genau 8 686 683 Eintritte verzeichnet, wie mir bei Gianadda versichert wurde.

Skulpturen-Park, Oldtimer, Kunst für die Strasse

Léonard Gianadda wollte die Kunst auf keinen Fall im Museum „einsperren“. So wurde auf dem Freigelände rund um das Museum ein wunderbarer Skulpturen-Park angelegt. Neben Plastiken von Joan Miro, Henry Moore, Chilida, Brancusi, Dubuffet, Niki de Saint Phalle, Arman, Calder, Richter, um nur ein paar Namen zu nennen (insgesamt sind über 40 Meisterwerke aufgestellt). Gianadda hat die Kunst auch auf die Strassen Martignys gebracht, ganz nahe zum Bürger. In der Mitte fast aller Kreisel auf Stadtgebiet stehen Skulpturen bekannter Künstler wie Bernhard Luginbühl, Silvio Mattioli, Hans Erni u.a.m. Der 103jährige Luzerner Künstler hat übrigens erst kürzlich eine Fensterserie für die protestantische Kirche von Martigny geschaffen. Im Auftrag von Léonard Gianadda zur Erinnerung an die kürzlich verstorbene Gattin Annette. Auch die Musik hat in der Fondation einen speziellen Stellenwert erhalten. Die „Saisons musicales“ sind längstens zu einem Begriff geworden und zu einem Muss für unzählige Musikfreunde von nah und fern. Jedes Jahr finden Konzerte statt, mit weltbekannten Ensembles und Solisten (Cécilia Bartoli, Daniel Barenboim, Claudio Scimone usw.).

Im gleichen Gebäude ist überraschenderweise ein Automobilmuseum untergebracht, das allein schon einen Besuch wert ist. Die ausgestellten Oldtimer sind ebenfalls Kunstwerke, wahre Perlen aus der Anfangszeit der Automobilindustrie. Über 50 Fahrzeuge aus der Zeit von 1897 bis 1939 lassen die Faszination Auto und einer ganzen Epoche aufleben. Ein spektakulärer „Autosalon“ der besonderen Art, der mit der Antike einen Kontrast herstellt, der nicht grösser sein könnte.

Van Gogh, Picasso, Kandinsky…

Am berühmtesten und bekanntesten bei Gianadda sind ohne Zweifel die regelmässigen Kunstausstellungen (mindestens zwei pro Jahr). Bereits ist die nächste Sommerausstellung 2013 angekündigt: „Modigliani et l’Ecole de Paris“, dies in enger Zusammenarbeit mit dem Centre Pompidou in Paris. In diesen Wochen und Monaten sind aber Van Gogh, Picasso, Kandinsky und eine ganze Reihe weiterer grosser Meister in Martigny zu Gast. Die schönsten Gemälde dieser Künstler hängen momentan in der Fondation Pierre Gianadda. Hochkarätige Bilder, die nur selten, bisher vielleicht noch nie, in der Öffentlichkeit zu sehen waren. Über 100 Werke von 50 verschiedenen Künstlern, welche die Malerei des 20. Jahrhunderts prägten Die berühmtesten Museen der Welt wären stolz, könnten sie diese Werke in ihre Bestände aufnehmen. Die Gemälde sind jedoch Bestandteil einer der „schönsten privaten Kunstsammlungen der Welt“, wie in Fachkreisen betont wird: die Sammlung von Werner und Gabrielle Merzbacher in Zürich. Einen originelleren und gediegeneren Rahmen für die Schau konnten sich die Eigentümer dieser unvergleichlichen Schätze wohl kaum erträumen.

Lange versteckt gehalten

Diese berühmten Meisterwerke fristeten lange beim Sammler-Ehepaar eine Art „Verschollenen-Daseins“. Gut behütet vor fremden Blicken. In grossen Ausstellungen waren zwar einzelne Bilder aus der Zürcher Sammlung dann und wann zu sehen. Stets unter der anonymen Bezeichnung „In Privatbesitz“. Im Jahre 1998 erblickte die wertvolle Sammlung dann erstmals das „Licht der Welt“, das heisst der Öffentlichkeit. Anlässlich des 50. Jahrestages der Gründung des Staates Israel haben Werner und Gabrielle Merzbacher ihre Kunstschätze dem Museum von Jerusalem für eine Ausstellung zur Verfügung gestellt. „Wir haben immer Mühe, uns von diesen Schätzen zu trennen, sind uns aber gleichzeitig auch bewusst, dass wir eine Verantwortung der Gesellschaft gegenüber haben und wissen auch, dass wir die Schönheit der Kunstwerke anderen zeigen müssen“, so schildert Merzbacher die Situation. Zwar hatte das Kunsthaus Zürich vor ein paar Jahren das Privileg für eine Schweizer-Premiere. London und Kopenhagen waren weitere Stationen. Die Fondation Gianadda, ist die erste private Institution der Welt, welche die Merzbacher-Sammlung für eine Ausstellung in ihr Haus holen durfte. Die Gianaddas und die Merzbacher sind seit Jahren eng befreundet. „Möge diese Ausstellung bei den Besucherinnen und Besuchern positive Emotionen wecken“, so der Wunsch von Werner Merzbacher. Und er präzisiert seinen Wunsch: „Ich wäre glücklich wenn sie jedem hilft aus dem Grau des Alltags auszubrechen und zu neuer Lebensfreude zu finden. Und zu erkennen, wie sehr Kunst das Positive im Leben fördern kann“.

Die lyrische Kraft der Farben: Alexei von Jawlensky. Dame mit gelbem Strohhut. um 1910, Öl auf  Karton, 87x74 cm.  (Bild: André Pfenninger)
Die lyrische Kraft der Farben: Alexei von Jawlensky. Dame mit gelbem Strohhut. um 1910, Öl auf Karton, 87x74 cm. (Bild: André Pfenninger)

Die Kraft der Farben

Die Kunstsammlung wurde nach rein emotionalen Empfindungen aufgebaut. Instinktiv wurde nach dem Schönen gegriffen. Die lyrische Kraft der Farben erweist sich als wegweisend und ausschlaggebend für den Erwerb der Meisterwerke. Merzbacher betont ausdrücklich : „Ich bin nicht Kunsthistoriker, was uns fasziniert, sind vor allem die Farben und Formen der Bilder, die eine gewisse Lebensfreude ausstrahlen“. Stilrichtungen sind für sie Nebensache, wobei die Fauves, die Expressionisten und Impressionisten u.a. doch eindeutige, glanzvolle Höhepunkte in der Sammlung bilden, wenn auch unbeabsichtigt. Das Paar beschränkt sich in erster Linie auf Kunst und Künstler zwischen den beiden Weltkriegen und der Nachkriegszeit. Kunst des 20.Jahrhunderts. Die Sammlertätigkeit erstreckt sich auf über sechs Jahrzehnte. Im Vordergrund stehen Werke von Henri Matisse wie beispielweise „Intérieur à Collioure“ (1905), das bereits bei Gabrielle Merzbacher Mayers Grossmutter entdeckt wurde. Prominent vertreten ist André Derain (1880 – 1954), u.a. mit „Bateaux dans le port de Collioure“ 1905 (das Bild des Plakates und Katalogumschlages) und « Arbre, paysage au bord d’une rivière » 1905. Von Maurice de Vlaminck (1876 – 1958) seien das Gemälde « La Seine à Pont de Chatou » 1905/1906 und vor allem «Les ramasseurs de pommes de terre » 1905-1907 erwähnt. Und von Alexei von Jawlensky, neben den bekannten Gesichtern, die beiden Bilder „Villlage de St Prex“ 1916 und « Pins en tempête à Prerow“ 1911. Dass Kandinsky in der Sammlung Platz gefunden hat wundert nicht, die Bilder entsprechen ganz Merzbachers Philosophie, wie beispielweise „Murnau“ 1908, „Herbstlandschaft mit Booten“ 1908 und ganz speziell „Murnau – Garten II“ 1910 sowie „Deux cavaliers et un personnage étendu“ 1909-1910. Lange stehen bleibt man vor den Bildern von Erich Heckel (1883 – 1970), Max Beckmann, Emil Nolde (1867 – 1956), Sam Francis (1923 – 1994). Von Paul Klee (1879 – 1940) sind ein paar unbekannte und sehr schöne Werke zu entdecken und zu bestaunen. Zahlreiche weitere Kostbarkeiten tragen zur Einmaligkeit der Sammlung und der Ausstellung bei.

Sämtliche Bilder sind im klassischen Gianadda-Katalog enthalten. Seit über 30 Jahren haben diese Publikationen immer dasselbe Format und die gleiche Präsentation und wurden so zu einer Art Markenzeichen des Hauses. Ein Unikum jedenfalls in der Museums- und Ausstellungswelt, wo jede Veranstaltung jeweils in einem anderen Katalogformat daherkommt.

Ausstelungskataloge: Nur der erste, Paul Klee gewidmete Katalog (rechts)  erschien in bescheidenem Format. Links der zuletzt erschienene (Sammlung Merzbacher)  
(Bild:  Jeanine Pfenninger)
Ausstelungskataloge: Nur der erste, Paul Klee gewidmete Katalog (rechts) erschien in bescheidenem Format. Links der zuletzt erschienene (Sammlung Merzbacher)
(Bild: Jeanine Pfenninger)

Merzbachers Weg zur Kunst

Werner Merzbacher wurde 1928 in Süddeutschland geboren. Nach der verheerenden Kristal-Nacht von 1938 haben die Nazis jüdischen Kindern den Schulbesuch untersagt. Werner Merzbacher kam 1939 als Flüchtlingskind in die Schweiz und fand Aufnahme in einer Zürcher Familie. Die Eltern wurden nach Auschwitz deportiert und kamen dort um. Werner Merzbacher ging kurz nach dem Krieg nach Amerika, heiratete dort die aus der Schweiz gebürtige Gabrielle Mayer, deren Grosseltern bereits Bilder von Van Gogh, Matisse und Picasso besassen. Das Ehepaar fand so den Weg zur Kunst. Eifrig wurden die Galerien in New York besucht, die Freude am Sammeln wurde zur Leidenschaft. 1964 kehrt die junge Familie (inzwischen mit drei Kindern) in die Schweiz zurück. Werner Merzbacher wird Partner der im Pelzhandel tätigen Firma des Schwiegervaters, dessen Unternehmen, die Mayer and Cie. AG er 1989 voll übernimmt.

Fondation Pierre Gianadda, Rue du Forum, Martigny, täglich geöffnet. Bis 25 November 2012

Ausgezeichneter Beitrag, der grosses Lob verdient.

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