Pro Juventute in Zeiten der Pandemien
Um die Tuberkulose bei Kindern und Jugendlichen zu bekämpfen, wurde 1912 die Stiftung Pro Juventute gegründet. Die Stiftung stand unter der Schirmherrschaft der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft und gründete Kindersanatorien wie die Pro Juventute Kinderklinik in Davos. Es war demnach eine Pandemie, welche zur Gründung von Pro Juventute führte und es waren lungenkranke Kinder und Jugendliche, welche von Pro Juventute unterstützt wurden.
Hundert Jahre später – die Corona-Pandemie
Mehr als 100 Jahre später grassiert weltweit eine neue Lungenkrankheit, eine neue Pandemie, das Corona-Virus, wobei die Kinder und Jugendlichen glücklicherweise nicht zur gesundheitlichen Risikogruppe gehören. Trotzdem betrifft die neue „Seuche“ Familien mit Kindern in ihrem Lebenskern. Das „Lockdown“ zwingt Familien, ihre Alltagsstruktur aufzugeben und unter erschwerten Bedingungen die Lebenssituation neu zu gestalten. Vorbelastete Kinder und Jugendliche brauchen in diesen schwierigen Situationen erst recht professionelle Unterstützung. Pro Juventute ist auch heute – 100 Jahre später – für alle Kinder, Jugendlichen und Eltern da. Rund um die Uhr. Jetzt erst recht.
Depressive Stimmungen, Angstzustände, Suizidgedanken
Die Zahl der Jugendlichen, die sich bei 147.ch von pro Juventute wegen schweren persönlichen Problemen melden, nimmt laufend zu. Über ein Drittel der jungen Menschen zwischen 10 und 25 Jahren nutzt aktuell das Beratungsangebot, um über Suizidgedanken, depressive Stimmung oder Angstzustände zu sprechen. Täglich wenden sich rund 400 Jugendliche an Pro Juventute.
Seit Ausbruch der Corona-Krise melden sich überdurchschnittlich viele Kinder, die Angst haben und sich vor einer drohenden Isolation fürchten. Ängste und Sinnfragen nehmen zu, ebenso das Gefühl der Einsamkeit, gerade wenn zuhause Stressfaktoren im Vordergrund stehen. Pro Juventute baut aktuell das Beratungsangebot für Kinder, Jugendliche und Eltern aus und unterstützt sie in der aktuellen Krisenzeit direkt und unkompliziert.
Politische Verantwortung für Kinder und Jugendliche
Gleichzeitig werden wir uns aktiv dafür einsetzen, dass die Politik die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen nicht vernachlässigt, im Gegenteil. Kinder und Jugendliche sind unsere eigentliche wichtigste kritische Infrastruktur. Sie benötigen jetzt besondere Aufmerksamkeit und besonderen Schutz.
Kinder sind unmittelbar von den Auswirkungen der politischen Entscheide betroffen. In den Massnahmen für die Eindämmung des Coronavirus muss darum neben dem Schutz der Gesundheit der Gesamtbevölkerung und der Wirtschaft unbedingt auch der Schutz der Kinder und Jugendlichen sowie ihre psychische und physische Gesundheit berücksichtigt werden.
Der Bundesrat ist jetzt gefordert, bei allen Massnahmen im Zusammenhang mit dem Coronavirus den Schutz der Kinder und Jugendlichen zu berücksichtigen und die in der UN-Konvention verbrieften Kinderrechte zu garantieren. Durch die Schulschliessung sind Kinder und Jugendliche in ihrem Schulalltag zuhause weitestgehend auf sich allein gestellt.
Gefahr verschärfter Chancenungleichheit
Auch wenn Lehrpersonen und Eltern in diesen Tagen einen grossartigen Einsatz leisten, sind insbesondere schwächere Schülerinnen und Schüler oft überfordert. Die Chancenungleichheit in der Bildung droht sich in der Schweiz nochmals massiv zu verschärfen. Schulen müssen die nötigen Ressourcen erhalten, um allen Kindern und Jugendlichen die entsprechende schulische Unterstützung zu gewährleisten.
Weil Lehrpersonen sowie Schulsozialarbeitende die Kinder nicht mehr regelmässig vor Ort sehen, entfällt für gefährdete Kinder ein wichtiges Sicherheitsnetz und Frühwarnsystem. So fehlt vielen Kindern, insbesondere in belasteten Familien, nicht nur die nötige Betreuung und Unterstützung, sondern sie sind vermehrt dem Risiko von häuslicher Gewalt ausgesetzt. Zudem fallen mit der Schulschliessung sowohl die gewohnte Tagesstruktur wie auch die wichtigen sozialen Kontakte zu Freunden weg. Insbesondere belastete Jugendliche leiden vermehrt unter Ängsten und Einsamkeit. Es braucht dringend Massnahmen, damit gefährdete Kinder und belastete Jugendliche geschützt und aufgefangen werden können.
Home-Schooling und Home-Office – verdoppelte Herausforderung
Alle Eltern sind enorm gefordert in diesen Wochen und stark unter Druck. Neben ihrer eigentlichen Betreuungsaufgabe kommt nun die Begleitung des Home-Schooling dazu und in vielen Familien muss gleichzeitig auch Home-Office stattfinden. So sind Eltern oft absorbiert und für viele Kinder verständlicherweise nicht in dem Masse verfügbar, wie es nötig wäre. Familien, in denen sich die Eltern die Erwerbs- und Betreuungsarbeit teilen, riskieren zudem finanzielle Einbussen, wenn sie aufgrund der zusätzlich anfallenden Kinderbetreuung ihrer Erwerbsarbeit nicht im selben Masse nachgehen können.
Alleinerziehende Eltern sind über die bereits im normalen Alltag grossen Herausforderungen hinaus zusätzlich belastet. Familien, in denen der eine oder gar beide Elternteile aktuell nicht arbeiten können, haben Zeit für die Kinderbetreuung, sind aber oft belastet mit Ängsten wegen der finanziellen Sicherheit. Sozio-ökonomisch bereits belastete sowie armutsbetroffene Familien sind noch stärker unter Druck als bereits vor der Krise.
Pro Joventute organisiert „Chat mit Gleichaltrigen“
Pro Juventute ist bei Ausbruch der Tuberkulose gegründet worden und ist jetzt, mehr als 100 Jahre später, bei Ausbruch des Corona-Virus, Tag und Nacht für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern da. Eltern können sich rund um die Uhr Beratung holen, Kinder und Jugendliche können sich rund um die Uhr bei uns melden, um über ihre Probleme zu reden. Auf unserer Website sind rund um die Uhr Tipps für das Bewältigen der aktuellen Krise abrufbar.
Manchmal ist es für Jugendliche einfacher, sich über die eigene Situation mit Gleichaltrigen auszutauschen. Daher hat Pro Juventute den «Chat mit Gleichaltrigen» lanciert. Ein bis zwei Mal pro Woche stehen Teams von Jugendlichen online zur Verfügung für einen persönlichen Chat. Die jugendlichen Beraterinnen und Berater werden dabei begleitet von Beratungsprofis der Beratung + Hilfe 147. Aufgrund des Erfolgs dieses Angebots wurde es weiter ausgebaut und steht nun in Deutsch, Französisch und Italienisch zur Verfügung.
Seit ihrer Gründung hat es Pro Juventute noch nie so gebraucht wie jetzt. Wir sind da. Rund um die Uhr.
Barbara Schmid-Federer ist Präsidentin der Stiftung Pro Juventute
Liebe Frau Barbara Schmid-Federer
Ich weiss, welch grosses Verdienst Pro Juventute zukommt, denn während einiger Jahre gehörte ich einem Pro-Juventute-Gremium an, das für die Verteilung von Geldern in der Region Zofingen zuständig war. Leider muss ich Ihnen aber trotzdem widersprechen: "Noch nie" schreiben Sie, "hat es Pro Juventute so gebraucht wie jetzt." - Doch, Frau Präsidentin der Stiftung PJ: Es hätte Pro Juventute sehr viel mehr gebraucht in der Zeit, als Menschen- und Kinder verachtende PJ-Verantwortliche die Institution "Kinder der Landstrasse" gründete und den Schweizer Jenischen die Kinder aus den fahrenden Wohnheimen ihrer Eltern heraus stahlen und sie in Heime oder als Verdingkinder in Bauernhöfe vergab, wo sie teilweise wie Sklaven gehalten und missbraucht wurden. Natürlich galt dieses Schicksal auch den Verdingkindern, die angeblich in ihren kleinen Heimetli nicht genügend auf ihre "Rolle in der Gesellschaft" einge"schult" werden konnten, weil Vater oder Mutter schlicht das Geld fehlte...
Damals hätten die "anständigen Bürger und Bürgerinnen" ihren Druck auf das "Hilfswerk" ausüben können, das noch bis fast Ende des letzten Jahrhunderts Bestand hatte.
alt Redaktor Zofinger Tatgblatt Bernhard Schindler
Sehr geehrter Herr Schindler
Besten Dank für Ihre Rückmeldung.
Sie haben Recht. Die damaligen Tätigkeiten von Pro Juventute waren ein grosses Unrecht.
Als Mitinitiantin der Wiedergutmachungsinitiative – damals in meiner Funktion als Nationalrätin – habe ich mich an der Aufarbeitung der Vergangenheit beteiligt und die Anerkennung des in der Vergangenheit erfolgten Unrechts vorangetrieben. Da die „Kinder der Landstrasse“ hauptsächlich von Gemeinden und Kantonen finanziert waren, war es auch für uns Politikerinnen und Politiker wichtig, Zeichen der Wiedergutmachung zu setzen.
Pro Juventute hat sich inzwischen mehrmals bei den Jenischen entschuldigt und ihr Bedauern ausgedrückt. Wir finanzieren heute noch das Beratungstelefon der Stiftung „Naschet Jenische“. Pro Juventute ist sich ihrer Verantwortung bewusst und setzt sich dafür ein, dass Diskriminierung von Minderheiten der Vergangenheit angehören.
Die Grundlage unserer Stiftungstätigkeit bildet die UNO-Kinderrechtskonvention. Gerade jetzt, in der weltweiten Corona-Krise, sind die Grundrechte vieler Kinder nicht mehr gewährleistet. Die Krise trifft – wie damals auch – Familien, welchen schlicht das Geld fehlt, Familien, die vor Corona schon psychische und finanzielle Schwierigkeiten hatten, Familien, in denen Missbrauch und Gewalt herrscht, Familien mit Migrationshintergrund, welche in der aktuellen Krise oftmals doppelte Verlierer sind. Erst recht ist es uns jetzt ein Anliegen, für alle Kinder und Jugendlichen da zu sein. Die leisen Opfer der aktuellen Krise sind belastete Kinder und Jugendliche. Sie haben keine Lobby. Dafür sind wir jetzt da. Dieser Arbeit werden wir uns voll und ganz widmen. Barbara Schmid-Federer
Danke, Frau Barbara Schmid-Federer
Danke für Ihre sachliche Beantwortung meines Anliegens. Als ich damals für das "Zofinger Tagblatt" über die "Kinder der Landstrasse" schrieb, fand ich wesentlich wenier Zustimmung und Mitgefühl. Dass das heute anders ist, lässt mich für die Zukunft - und für Pro Juventute - hoffen.
Trotz Pandemie frohe Ostern
Bernhard Schindler