Tusk hat recht – vorläufig
Fünf Jahre lang hat der frühere polnische Ministerpräsident Donald Tusk als EU-Ratspräsident amtiert. Seine Aufgabe war die Vorbereitung und Koordination des EU-Rates, also des Gremiums der 27 Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer. Dieses kommt mindestens zwei Mal jährlich zu sogenannten EU-Gipfeltreffen zusammen. Man kann sich ausmalen, dass Tusk in dieser Dompteur-Funktion allerhand turbulente Erfahrungen gemacht hat.
Dissens zum «geschätzten Freund» Emmanuel
Nun hat Tusk in einer Abschiedsrede am Europa-Kolleg in Brügge in der vergangenen Woche eine Bilanz über diese Erfahrungen gezogen und daran zugleich seine persönlichen Einsichten und Zukunftsvorstellungen geknüpft. Es lohnt sich, die kluge, warmherzige und stellenweise mit Humor gewürzte Rede dieses überzeugten Europäers nachzulesen.
Hier geht es vor allem um die Bemerkungen, die Tusk bei seinem Auftritt in Brügge an die Adresse seines «geschätzten Freundes» Emmanuel Macron richtete. Der französische Präsident fordert seit einiger Zeit dazu auf, intensiver über eine Erneuerung der EU-Beziehungen zu Russland nachzudenken. In einem langen Interview mit dem britischen «Economist» sprach er vom langfristigen Aufbau einer europäischen Partnerschaft mit dem grossen Nachbarn im Osten. Macron schwebt eine Deblockierung des seit der Annexion der Krim und der militärischen russischen Einmischung in der Ostukraine vor fünf Jahren stark gestörten Verhältnisses zwischen Moskau und der Brüsseler Gemeinschaft vor.
Donald Tusk ist mit solchen Vorstellungen nicht einverstanden. Seiner Meinung nach sei Russland für die EU nicht ein «strategischer Partner», sondern ein «strategisches Problem», erklärte er in seiner Abschiedsrede in Brügge. Er zweifle nicht daran, dass es zu Putins strategischen Zielen zähle, «die Kontrolle über die Gebiete der ehemaligen Sowjetunion wiederzuerlangen» und gleichzeitig «die EU durch innere Spaltung systematisch zu schwächen». Es werde aber «kein souveränes Europa ohne eine unabhängige Ukraine geben.
Damit scheinen auf den ersten Blick klare, ja unvereinbare Meinungsgegensätze zwischen dem abtretenden EU-Ratspräsidenten und dem französischen Staatschef markiert. Doch bei näherer Betrachtung müssen diese Differenzen nicht unüberbrückbar bleiben. Macron hat in seinem «Economist»-Interview nämlich auch betont, er sei nicht naiv und er betrachte die angestrebte EU-Entspannung und Partnerschaft mit Moskau als ein langfristiges Projekt, für das man vielleicht zehn Jahre benötige. Zu beachten bleibt weiter, dass Macron in seiner Ideen-Skizze nicht ausdrücklich die Aufhebung der seit 2014 verhängten Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland fordert – im Unterschied zu anderen EU-Stimmen insbesondere aus Wirtschaftskreisen, die genau das getan haben.
Partnerschaft ohne Gegenleistung?
Allerdings hat sich Macron in seinen öffentlichen Äusserungen bisher auch nicht mit der Frage beschäftigt, was denn auf russischer Seite geschehen müsste, um die angestrebte neue Détente-Partnerschaft mit den Europäern in Gang zu bringen. Sollte die EU ihre Sanktionspolitik sang- und klanglos aufheben, ohne dass das Putin-Regime seine militärischen Aktivitäten im Donbass beendet hätte und ohne sich um eine vertragliche Kompromisslösung über den Status der Krim zu bemühen?
Das käme einer völligen Kapitulation vor der seit fünf Jahren andauernden russischen Aggression gegenüber dem ukrainischen Nachbarn gleich. Die von Russland im Budapester Memorandum von 1994 ausdrücklich garantierte Anerkennung der ukrainischen Grenzen würde allseits zum wertlosen Papier degradiert.
Putin könnte sich die Hände reiben und daraus die Erkenntnis ziehen, dass der russische Koloss die Grenzen seiner Nachbarn verletzen und sogar verschieben kann, ohne dabei längerfristige Konsequenzen zu riskieren. Kein Wunder, dass man sich in den ehemaligen sowjetischen Untertanenländern im Baltikum oder in Polen über derartige Möglichkeiten einige Sorgen macht. Die Mehrheit der Osteuropäer hat da eine andere Sicht der Dinge als manche Putin-Appeaser im Westen. Nicht umsonst hat Tusk in seiner Brügger Rede daran erinnert, dass er sein halbes Leben hinter dem Eisernen Vorhang verbrachte.
Vor dem Pariser Ukraine-Gipfel
Dennoch muss man Macron nicht unbedingt unterstellen, dass er mit seinen Ideen einer zukünftigen konstruktiven Partnerschaft zwischen Moskau und der EU solche Bedenken einfach ignoriert. Er betont ja, dass es sich bei seinen Vorstellungen um ein langfristiges Projekt handle. Vielleicht denkt er an eine Zukunft nach der Putin-Herrschaft, deren Ende allerdings niemand genau voraussagen kann. Immerhin ist nicht unvorstellbar, dass man auch im Kreml eines Tages zur Einsicht kommt, dass ein konstruktiveres und kooperativeres Verhältnis zur EU im eigenen russischen Interesse liegt – und dass eine solche Wendung nicht ohne ein für alle Seiten akzeptables Arrangement mit der Ukraine zu haben ist.
Voraussichtlich am 9. Dezember soll in Paris ein Vierergipfel im sogenannten Normandie-Format zur Ukraine stattfinden, an dem Macron, Putin, Angela Merkel und der neue ukrainische Präsident Selenski über neue Lösungen verhandeln werden. Donald Tusk wird dann mit Sicherheit nicht dabei sein, seine Amtszeit als EU-Ratspräsident endet am 30. November. Aber seine Mahnungen dürften nicht bei allen Teilnehmern der Pariser Runde verhallt sein.
Nun, dass Tusk so redet ist nicht verwunderlich. Als Pole leidet er wie viele seiner Landsleute an einer Russen-Paranoia. Politisch lässt sich zurzeit mit dieser antirussischen Haltung auch mehr Kapital schlagen. Wir kennen die Pläne über seine politischen Zukunft in Polen nicht. Eines ist sicher, den Russen Machtansprüche auf europäische Gebiete vorzuwerfen ist in etwa so vermessen wie den Deutschen militärische Überfälle gleich der NS-Zeit zu unterstellen. Was wir in Europa brauchen sind mutige, vorausschauende und proaktiv agierende PolitikerInnen die den Kontakt zu schwierigen Partnern nicht scheuen. Offen, zugänglich und zugleich klar in ihren Aussagen über was wir wollen bzw. nicht wollen. Wir müssen dem Neuen eine Chance geben und nicht mit kleingeistigem Verhalten unsere Zukunft verbauen.
Schwierig nicht?
Vielleicht ist Frankreichs Präsident Emanuel Macron einer der intelligentesten Vertreter Europas und furchtlos dazu, hat das elende Spiel durchschaut und arbeitet für jenen von allen erhofften erhaltenswerten Frieden. Will noch dazu die Wirtschaftskraft Europas stärken, während andere Vogel Strauss-Politik bevorzugen. Für mich ist er bewundernswert, eine starke Persönlichkeit wir sollten ihm vertrauen. …cathari
Bitte Macron nicht über- und Putin nicht unterschätzen. Die Abschiedsrede des scheidenden EU-Präsidenten Donald Tusk
verdient eingehendes Studium. Putins Ehrgeiz ist die Schwächung der demokratischen Systeme zu jedem Preis. In den USA ist er auf gutem Weg. Die Ukraine ist bedroht, ebenso die Balten. Appeasement ist keine Lösung. Der erfahrene Pole Tusk weiß das, der agile Macron wird es noch lernen müssen.