Was ist denn Romantik?

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Was ist denn Romantik?

Von Niklaus Oberholzer, 30.11.2020

„Im Herzen wild – Die Romantik in der Schweiz“: So titelt das Kunsthaus Zürich und blickt, ohne klares Konzept, auf eine Epoche der Kunst in der Schweiz.

Auf dem Cover des Katalogs prangt das Gemälde „Manfred auf der Jungfrau“ des Engländers Ford Madox Brown. Manfred, Held in Lord Byrons gleichnamigem Poem (1817), in brennendes Rot gekleidet, sich wild die Haare raufend, will sich eben in die Tiefe stürzen, doch da hält ihn ein Gemsjäger zurück.  

Ford Madox Brown: Manfred auf der Jungfrau. 1641/1861, 140x115 cm. Manchester Art Gallery, Manchester.
Ford Madox Brown: Manfred auf der Jungfrau. 1641/1861, 140x115 cm. Manchester Art Gallery, Manchester.

Über Manfreds Kleid ist der Titel der Ausstellung gedruckt: „Im Herzen wild“. Der Untertitel, klein, im Schnee, affirmativ und ohne jedes Fragezeichen: „Die Romantik in der Schweiz“.

Nicht Schweizer Romantik also, sondern „Romantik in der Schweiz“. In dieses Gefäss passen auch Lord Byron mit seinem „Manfred“ und Ford Madox Brown mit seinem „Manfred auf der Jungfrau“. Da ist reinste Romantik. Byron und „Manfred“ sind Inbegriff des Romantischen, die Jungfrau ist Inbegriff des Berg-Mythos. „Schweiz“ läuft mindestens mit. Das Land liefert die Szenerie. Byron war in der Schweiz, am Genfersee vor allem, und sein Held wollte sich von der Jungfrau stürzen. Ford Madox Brown hat, als er nach Italien reiste, die Schweiz mindestens gestreift. „Romantik in der Schweiz“? Eher: So nimmt Europas Intelligenz die Schweizer Alpen in den Dienst ihres romantischen Empfindens.

Schublade Romantik

Die Ausstellung, die Jonas Beyer im grossen Zürcher Kunsthaus-Saal eingerichtet hat, will nicht nur Schweizer Romantik dokumentieren (das wohl auch), sondern aufzeigen, wie die Schweiz passiv – wie das Beispiel Brown/Byron zeigt – und aktiv, mit eigener künstlerischer Leistung also, an jenen europäischen Strömungen partizipiert, die man Romantik nennt, oder die man, Ordnung muss ja sein, in der Schublade mit der Aufschrift „Romantik“ unterbringt.

Johann Jakob Ulrich: Brennendes Dampfschiff auf stürmischer See. 1850–53. Öl auf Leinwand, 98x131 cm. Museum der bildenden Künste, Leipzig.
Johann Jakob Ulrich: Brennendes Dampfschiff auf stürmischer See. 1850–53. Öl auf Leinwand, 98x131 cm. Museum der bildenden Künste, Leipzig.

Nach dem, was das Romantische ausmacht, braucht man nicht weiter zu fragen; man kennt das ja: Gefühl, Emotion, Individualismus, Waldeinsamkeit, Melancholie, Liebesschmerz, rosa Farbtöne, auch einmal ein brennendes Dampfschiff, Gewitter und Untergangsstimmung. Aber sind das tatsächlich die Charakteristika für die Zeit von rund 1780 (Johann Heinrich Füssli, Caspar Wolf) bis etwa 1860 (Arnold Böcklin, François Diday, Alexandre Calame)? Sind die Werke Füsslis und Calames „romantisch“? Was überhaupt ist „romantisch“?

„Romantischer“ Geologe

Hat Hans Conrad Escher von der Linth etwas mit Romanik zu tun – seine geologischen Panoramen (in Zürich sind zwei ausgestellt; es gibt über 1000 solche Zeichnungen aus seiner Hand), vielleicht  gar seine pionierhafte Gewässerkorrekturen der Linth kurz nach 1800? Ist jedes akribisch genaue Nachzeichnen einer Landschaft, dem wir in der Ausstellung begegnen, „romantisch“ – ob von Anton Graff („Die Elbe bei Blasewitz“) oder von Mathias Gabriel Lory („Der Schmadribachfall“) und anderen Kleinmeistern, deren  erfolgreiche Produktion auf den damals neuen Tourismus hin ausgerichtet war?

Joseph Anton Koch: Der Schmadribachfall. 1794. Aquarell über Bleistift. 49x41 cm. Kunstmuseum Basel.
Joseph Anton Koch: Der Schmadribachfall. 1794. Aquarell über Bleistift. 49x41 cm. Kunstmuseum Basel.

Tatsächlich ist das wissenschaftlich-präzise Erfassen der Natur ein Charakteristikum der Zeit. Schon in Wolfs Gebirgslandschaften begegnen wir stets den Geographen und Vermessern. Und tatsächlich nahm Carl Friedrich Gauss kurz nach 1800  in Deutschland seine ersten erfolgreichen Geodäsie-Experimente in Angriff. Selbst der frühromantische Dichter Novalis studierte an der Bergakademie in Freiberg Naturwissenschaften und war Fachmann für Salinen.

Ein ganz anderes Thema: Sind die Malereien der Lukasbrüder, der späteren Nazarener, „romantisch“, zum Beispiel Johann Friedrich Overbecks, Franz Pforrs, der Schweizer Johann Caspar Schinz, Ludwig Vogel und Emilie Linder? Nicht die statisch und etwas stur komponierten Bilder biblischer Szenen wirken auf uns heute „romantisch“, wohl aber die ganze religiös motivierte Freundschaftspflege der Lukasbrüder, die sich, der klassizistisch-akademischen Zwänge in Wien überdrüssig, 1810 in Rom zu gemeinsamem Arbeiten ins leerstehende Kloster S. Isidoro zurückzogen. An ihrem geistigen Fundament waren denn auch Pioniere der literarischen deutschen Romantik beteiligt – Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder mit dem Büchlein „Die Herzensergiessungen eines kunstliebenden Klosterbruders“.

Breit aufgestellte Epoche

Das soll zeigen: Die Epoche ist nicht nur und nicht einmal vor allem von dem geprägt, was man gemeinhin als „romantisch“ empfindet. Die Jahrzehnte vor und nach 1800 sind, als Epoche des Übergangs, breit aufgestellt. Der Interessen sind viele, und sie tendieren in ganz verschiedene Richtungen. Die Anforderungen an kulturelle und politische, auch an die technischen  Entscheidungsträger sind hoch. Das gilt von den Bildungsbestrebungen des Ministers der Helvetik  Philipp Anton Stapfer bis zum Nationalismus der deutschen Burschenhaften in Deutschland – und ebenso von der Neuordnung der Staaten nach Napoleon und Wiener Kongress und von den Verwerfungen wegen Metternichs Karlsbader Beschlüssen. All das und ebenso die philosophischen Strömungen der Epoche schlagen sich in der Kunst der Romantik nieder, die, auch wenn sie sich Traumhaftem zuwendet und Sehnsüchte und Utopien zum Programm erklärt, ein Kind ihrer Zeit mit all ihre Höhen und Niederungen bleibt.

Schweiz – allzu weit gefasst

Die Zürcher Ausstellung gibt mit ihrem Untertitel „Romantik in der Schweiz“ vor, in diesem Sinne ein, wenn auch regionales, so aber doch vielschichtiges Zeitgemälde zu entwerfen. Mit dem Haupttitel „Im Herzen wild“ engt sie es sogleich wieder ein: Einige Exponate spiegeln dieses „Wilde“, mit sehr vielen anderen wiederum hat dieses „Wilde“ gar nichts zu tun. Und „Schweiz“ ist mitunter etwas gar weit gefasst, so weit, dass man kaum mehr versteht, warum dieses und jenes Werk in der Ausstellung gezeigt wird. Delacroix  ist dafür ein Beispiel. Er ist mit Lithographien zum Thema „Faust“ in der Schau vertreten, weil sich Stapfer für die Ausgabe seiner „Faust“-Übersetzung ins Französische (1828) dieser Blätter bediente. Delacroix’ „Verletzter Brigant“ ist wohl ein „Bild von existenzieller Wucht“ (Jonas Beyer), doch mit der Schweiz hat es wohl nur insofern zu tun, als es dem Basler Kunstmuseum gehört. Géricaults Skizze eines sitzenden Männeraktes ist wohl nur in der Ausstellung, weil sie sich im Besitz des Schweizer Malers Johann Jakob Ulrich befand. Der Tiroler Joseph Anton Koch malte seine Ansicht des Schmalenbachfalls (Berner Oberland) in Rom, aber  immerhin nach in der Schweiz angefertigten Skizzen.

Auch wenn es  Beziehungen zwischen Künstlern Zürichs und Dresdens gab, so wirkt die starke Präsenz von Caspar David Friedrich, der nie in der Schweiz war, eher gesucht.

Nicht sehr plausibel ist, dass Johan Christian Dahl, der Norweger in Dresden und Freund Friedrichs, in der Ausstellung mit fünf Werken vertreten ist. Ähnliches mag gelten von der Präsenz  des genialen Multitalents Carl Gustav Carus. Er war Arzt (Pathologe und Gynäkologe), Gesundheitspolitiker und Naturphilosoph – und gewissermassen nebenbei auch ein hochbegabter und bedeutender Maler im Dresdener Umfeld Friedrichs.

Schöne Begegnungen

Der Begriff „romantisch“ ist nicht auf einen Nenner zu bringen, und eine klare Position der Schweiz in diesem „romantischen“ Konzert ist nur schwer auszumachen, zumal die Zürcher Ausstellung wesentliche künstlerische Zeugnisse der Zeit wie Musik, Literatur und Architektur nicht berücksichtigt – trotz des Titels „Die Romantik in der Schweiz“.

Der  mangelnde Bezug dieser und anderer Künstler zur Schweiz  mindert nicht die Qualität vieler Werke. Die drei Bilder Caspar David Friedrichs rechtfertigen allein schon den Gang ins Zürcher Kunsthaus. Sein Blick auf „Kap Arkona mit aufgehendem Mond“ taucht das Landschaftsmotiv der Insel Rügen in ein zauberhaftes, magisch wirkendes Licht.

Caspar David Friedrich: Blick auf Kap Arkona mit aufgehendem Mond. Um 1805. Bleistift und Pinsel in Braun auf Papier. 61x100 cm. Albertina, Wien.
Caspar David Friedrich: Blick auf Kap Arkona mit aufgehendem Mond. Um 1805. Bleistift und Pinsel in Braun auf Papier. 61x100 cm. Albertina, Wien.

Ein Ereignis ist auch sein spätes Gemälde „Sturzacker“.

Caspar David Friedrich: Sturzacker. Um 1830. Öl auf Leinwand. 35x48 cm. Kunsthalle Hamburg.
Caspar David Friedrich: Sturzacker. Um 1830. Öl auf Leinwand. 35x48 cm. Kunsthalle Hamburg.

Das dritte Werk Friedrichs in der Ausstellung, „Junotempel in Agrigent“, ist insofern „schweizerisch“, als Friedrich das Aquatinta-Blatt gleichen Themas des Zürchers Franz Hegi als Vorlage wählte; Friedrich selber war nie in Sizilien.

Überhaupt lassen sich viele  Werke schlicht und einfach geniessen, ohne dass man sie in einer Schublade abzulegen braucht. Manches von Johann Heinrich Füssli gehört dazu, natürlich auch William Turner, der die Schweizer Landschaft, ihre Berge und Seen in wunderbaren Aquarellen feiert. (Sein hochdramatisches Werk von 1810, das den Niedergang einer Lawine in Graubünden schildert, fand den Weg von der Tate London nach Zürich leider nicht.) Schön ist die Begegnung mit Franz Niklaus Königs effektvollen Transparentbildern touristischer Highlights (Tellskapelle, Brienzersee). Auch die starke Präsenz von Charles Gleyre überzeugt ganz unabhängig von der Frage, ob das nun zur Romantik passt oder nicht: „Le déluge“ ist eine ganz eigenwillige und auch beispiellose Interpretation der Urkatastrophe Sintflut. Gleyres „Die römischen Banditen“ reicht weit über eine Genre-Szene hinaus. Der mit den Pariser Salons bestens vertraute Westschweizer, Lehrer Renoirs, Monets, Sisleys und Whistlers, schildert offensichtlich einen brutalen Überfall mit Vergewaltigung.

Die Frau bei den Nazarenern

Ob es eine Kuriosität ist oder nicht: Eine Überraschung ist für viele Besucherinnen und Besucher sicher die Begegnung mit Emilie Linder (1797, Basel, bis 1867, München), die in Nazarener-Manier die Bibel-Szene der Auferweckung des Töchterchens des Jaïrus schildert.

Emilie Linder: Auferweckung des Töchterchens des Jaïrus. Undatiert. Öl auf Eichenholz. 43x54 cm. Staatsgalerie Stuttgart.
Emilie Linder: Auferweckung des Töchterchens des Jaïrus. Undatiert. Öl auf Eichenholz. 43x54 cm. Staatsgalerie Stuttgart.

Die aus reichem Haus stammende Malerin pflegte Kontakte zu wichtigen Nazarenern wie Peter Cornelius und Overbeck und war überdies eng mit Clemens Brentano befreundet. Linder pflegte intensive Beziehungen zu Gelehrten und Kirchenleuten wie Franz von Baader, Schelling und Joseph Görres. Im Bewusstsein auch kulturell interessierter Schweizer ist sie kaum auszumachen.

Es sind solche und andere Einzelbegegnungen mit Künstlerpersönlichkeiten und ihren Werken, was  den Ausstellungsbesuch lohnenswert macht, und weniger ein klar durchdachtes Konzept, das etwa nach einer Klärung des Romantik-Begriffs in Bezug auf die Schweiz suchen würde – auch wenn einzelne Katalogbeiträge (etwa jener Franz Zelgers) in diese Richtung tendieren. 

Jonas Beyer lässt in drei eigenwilligen Videoinstallationen auch Gegenwartskunst zu Wort kommen. Der Begriff „Romantik“ wird dabei allerdings allein aufs Thema Landschaft reduziert. Die drei Künstler sind der Schweizer Rémy Zaugg (1943–2005), der Belgier David Claerbout (geboren 1969) und der Niederländer Guido van der Werve (geboren 1977). 

Kunsthaus Zürich. Bis 14. Februar 2020. Katalog 49 Franken. www.kunsthaus.ch

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