Wedeln mit der Weltjustiz

Pierre Simonitsch's picture

Wedeln mit der Weltjustiz

Von Pierre Simonitsch, Genf - 12.10.2016

Frankreich will Wladimir Putin und Baschar Al-Asad wegen Kriegsverbrechen in Syrien beim Internationalen Strafgerichtshof (ICC) anklagen. Die Initiative hat wenig Aussicht auf Erfolg.

Er suche nach einem Weg, den Weltstrafgerichtshof zu einer Untersuchung der von der syrischen und der russischen Luftwaffe in Ost-Aleppo verübten Kriegsverbrechen zu veranlassen, erklärte der französischen Aussenminister Jean-Marc Ayrault. Dabei bezog er sich auf eine Rede des Uno-Generalsekretärs Ban Ki-Moon, der die massive Bombardierung des von fast 300’000 Menschen bewohnten Ostteils der Millionenstadt Aleppo als Kriegsverbrechen bezeichnete.

Gegen Straflosigkeit von Kriegsverbrechern

Spätestens seit den vier Genfer Konventionen von 1949, die unter dem Eindruck der Gräuel des Zweiten Weltkriegs geschrieben wurden, weiss man, was ein Kriegsverbrechen ist. Dazu gehören Luftangriffe, die keinen Unterschied zwischen gegnerischen Kämpfern und der Zivilbevölkerung machen. Gerade dies geschieht derzeit in Aleppo.

Der nach jahrzehntelangen Verhandlungen 1998 auf einer Konferenz in Rom geschaffene Internationale Strafgerichtshof hatte zum Ziel, die Straflosigkeit von Kriegsverbrechern in Uniform oder Nadelstreifenanzügen zu beenden. Das Römer Statut trat 2002 in Kraft. Der damalige US-Präsident Bill Clinton unterzeichnete es, doch sein Nachfolger George W. Bush tilgte die Unterschrift ohne Rechtsgrundlage. Zu den anderen Staaten, die dem ICC-Statut nicht beigetreten sind, gehören Russland und Syrien. Sie sind also nicht verpflichtet, sich einem Verfahren des internationalen Tribunals zu unterwerfen.

Allerdings lässt das Römer Statut einen Ausweg offen. Wenn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den ICC mit einer Untersuchung beauftragt, darf dieser tätig werden. Das setzt allerdings eine gemeinsame Haltung der fünf Vetomächte voraus, zu denen Russland gehört. Auf diesem Wege wurde gegen den sudanesischen Präsidenten Omar Al-Baschir 2008 ein internationaler Haftbefehl wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Provinz Darfur ausgestellt. Baschir befindet sich noch immer in Amt und Würden. Nur seine Freiheit für Auslandsreisen ist eingeschränkt.

Asad wird die Macht nicht abgeben

Im Falle Syriens fordert die Opposition seit langem, Baschar Al-Asad vor das Weltstrafgericht zu stellen. Die Ankläger hätten genügend Material für einen Prozess. Aus pragmatischen Gründen wird ein solches Vorgehen jedoch von den meisten Regierungen als kontraproduktiv empfunden. Wenn Asad keine Alternative zu einer Gefängniszelle in Den Haag hätte, würde er sich umso vehementer an die Macht klammern, lautet ihr Argument.

Aber auch ohne echte Bedrohung durch eine Weltjustiz hält Asad an der Rückeroberung der verlorenen Gebiete mit allen Mitteln fest. Seine Motivierung liegt in der Vorherrschaft der religiösen Minderheit der Alawiten und der wirtschaftlichen Macht des Makhlouf-Clans, von dem er mütterlicherseits abstammt. Diesem sozialen und familiären Druck kann sich der ehemalige Augenarzt nicht entziehen.

Putin braucht keine Verurteilung zu fürchten

Frankreichs Aussenminister Ayrault wird mit seiner Initiative gegen eine Wand rennen. Auch wenn die Juristen des Quai d’Orsay jetzt nach Möglichkeiten suchen, den Chefankläger des ICC mit einer Untersuchung der Kriegsverbrechen in Syrien zu beauftragen, kann Putin ruhig schlafen. Die Russen gehen sogar zum Gegenangriff über. „Es ist gefährlich, mit Worten über Kriegsverbrechen zu spielen, denn diese lasten auch auf den Schultern amerikanischer Verantwortlicher“, erklärte die Sprecherin des russischen Aussenministeriums, Maria Sacharowa.

Putin braucht wohl bis zum Ende seiner Amtszeit keine Verurteilung durch den Weltstrafgerichtshof befürchten, doch die von den USA und Grossbritannien unterstützte französische Initiative verstärkt seine Isolierung auf der Weltbühne. Im Sicherheitsrat der Uno blockierte Russland einen von Frankreich und Spanien eingebrachten Resolutionsentwurf, der die Einstellung der Bombardierungen in Aleppo forderte, durch sein Veto. Aber nur Venezuela leistete den Russen Gefolgschaft. Selbst China enthielt sich der Stimme. Elf der 15 Ratsmitglieder stimmten für den Entwurf.

Solche Signale werden in Moskau sicher mit Besorgnis registriert. Welcher Preis ist der russischen Regierung das Überleben des Asad-Regimes wert? Man darf Wetten abschliessen, dass Russland jetzt alles daran setzen wird, die Syrien-Verhandlungen wieder aufzunehmen. Diesmal müssen aber die Karten auf den Tisch gelegt werden.

Sehr geehrter Herr Ramseyer,

Ich danke Ihnen für den kritischen Kommentar zu meinem Artikel. Allerdings haben Sie dabei verschiedene Sachen durcheinander gebracht. Das 1993 geschaffene Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien, wo die Schweizerin Carla del Ponte jahrelang als Anklägerin arbeitete, hat nichts mit dem Weltstrafgerichtshof (ICC) zu tun. Übrigens wurden dort nicht nur Serben als Verlierer, sondern auch Akteure anderer Volksgruppen vor Gericht gestellt. Keine Siegerjustiz also.

Völlig hinter der Zeit liegen Sie mit Ihrer Attacke gegen „eher naive Internationalisten in Bern“, die die Schweiz zum Beitritt zum ICC bewegen möchten. Die Schweiz hat das Römer Statut bereits 1998 unterzeichnet und 2001 ratifiziert. Sie ist damit in einer Linie mit den EU-Staaten, die alle dem Weltstrafgerichtshof beigetreten sind. Vielleicht sollten Sie sich informieren, bevor Sie zur Feder greifen.

Die Schwächen des ICC sind bekannt. Sie gehen vor allem auf die Weigerung der USA, Russlands, Chinas, Israels und anderer Staaten zurück, das Römer Statut zu ratifizieren. Das habe ich in meinem Artikel dargestellt. Wenn Sie sich über diese Mängel aufregen, rennen Sie offene Türen ein. In historischer Perspektive ist der ICC der einzige Weg, die Straffreiheit für Kriegsverbrecher abzuschaffen.

Mit freundlichen Grüssen,

Pierre Simonitsch

Sehr geehrter Herr Simonitsch!
besten Dank für Ihre Replik. Mit meiner Warnung vor einem Beitritt der Schweiz zu "dieser undemokratischen Veranstaltung" meinte ich indes nicht den ICC, sondern ganz klar den UNO-Sicherheitsrat. Hätte das evtl. besser darlegen müssen. Mit herzl. Grüssen! N. Ramseyer

Den hier zitierten "Weltstrafgerichtshof" gibt es faktisch leider nicht. Oder nur sehr selektiv und willkürlich: Vor dieses Gericht gestellt und teils auch verurteilt, wurden bisher wohl üble Verbrecher, etwa aus Ex-Jugoslawien oder aus Afrika. Aber alles nur vergleichsweise "kleine Fische" aus machtlosen Ländern. Die ganz üblen Täter (aus USA, Russland etc.) kommen hingegen ungeschoren davon. Herr Kälin weist sehr zurecht darauf hin. Und im Falle der USA ist es noch schlimmer, als hier dargestellt: Die US-Regierungen hat einer Unzahl von Ländern, in denen sie weltweit (als informelle Besatzungsmacht) Militärbasen unterhält, Verträge abgenötigt, welche US-Militärs Straffreiheit (etwa bei Vergewaltigung oder sogar Mord im Ausgang – aber auch für Verbrechen im Kriegseinsatz) garantieren. Dass das Vetorecht im Sicherheitsrat mitunter Kriegsverbrecher decken hilft, zeigt nur, wie total fragwürdig dieses Gremium ist. Die neutrale Schweiz sollte sich jedenfalls vor dieser undemokratischen Veranstaltung in Acht nehmen und fernhalten; und sicher nicht noch eine Mitgliedschaft (Mittäterschaft…) anstreben, wie dies eher naive Internationalisten in Bern allen Ernstes anstreben. So oder so sind sich gescheite Rechtsgelehrte einig, dass eine selektive und willkürliche Gerichtsbarkeit übler ist, als gar keine. Eine solche Justiz ist nämlich entweder einseitige "Siegerjustiz" oder sie wird für Machtpolitische Zwecke missbrauch. Letzteres dürfte auch im Falle der aktuellen Ansinnen des französischen Aussenministers zutreffen. Niklaus Ramseyer, BERN

Kriegsverbrecher statt Hühnerdiebe vor Gericht zu bringen ist eine ausgezeichnete Idee!
Frankreich wäre NOCH glaubwürdiger, wenn es die Herren SARKOZY und CAMERON für den Aggressionskrieg gegen Lybien (beziehungsweise das Kriegsziel Regimewechsel statt Flugverbotszonen) mit berücksichtigen würde.
MfG
Werner T. Meyer

"Den Weltstrafgerichtshof zu einer Untersuchung veranlassen..."
"...was ein Kriegsverbrechen ist. Dazu gehören Luftangriffe, die keinen Unterschied zwischen gegnerischen Kämpfern und der Zivilbevölkerung machen. Gerade dies geschieht derzeit in Aleppo," und in in einem willkürlichen Angriffskrieg in Jemen auch eben wurde eine ganze Trauergemeinde durch die Saudis mit US-Bomben ausgelöscht (löschen Sie bitte das humoreske BS Zitat oben rechts an der Seite). Und die Flächenbombardements in Laos, Vietnam, Kambodscha wären dann auch nicht zu vergessen; mit weit mehr abgeworfenen Tonnen Bomben durch die Amis über Millionen von unschuldigen Bürgern, als im ganzen 2. Weltkrieg verbraucht wurden. Oder die Verbrechen seit 9/11 an Irak und Afghanistan, mit mittlerweilen auch Millionen von unschuldigen Toten. Und z. B. die auf das Vierfache angestiegene Rate von Heroin Drogentoten nur schon in USA seit 2001. Wir wissen wer seither den Opiumanbau unterstützt und den Heroin Handel – aber auch mit Kokain, Waffen und Menschen; Zehntausende unbegleitete Flüchtlingskinder sind in Europa spurlos verschwunden - kontrolliert.

Durch die unterlassene Hilfeleistung bei all den verübten Kriegsverbrechen und Gräueln seit Ende des 2. Weltkriegs, - etwa auch die Franzosen in Algerien und neutrale Nato EU-Staaten gehen Libyen bombardieren usw. - und durch die fortwährende stillschweigende Duldung bis hin zu aktiver Unterstützung von Verbrechen und kriegerischer Parteiergreifung, gehören alle westlichen Regierungen, Medien, Banken und Militärs vor einen Weltstrafgerichtshof unter Kriegsrecht à la Nürnberger Prozesse gestellt.
Aber diesmal dann ohne Rattenlinien und Paperclip Boys bitte.

Dass es in Aleppo um Kriegsverbrechen geht, scheint mir lange nicht so klar zu sein wie es der Autor hier annimmt. In diesen Konventionen geht es offenbar auch um ein Abwägen. Wenn es sich nicht vermeiden lässt, und die Sache militärisch einen hohen Wert hat, so darf eine Kriegspartei offenbar auch die Zivilbevölkerung gefährden (erinnere mich in diesen Zusammenhang an ein Interview mit einem Experten). Es geht um Verhältnissmässigkeit. D.h. die Syrer und Russen können wohl argumentieren, dass sie in Aleppo beim besten Willen "Kollateralschäden" nicht vermeiden können und dass die Eroberung der Stadt kriegsentscheidend sein kann. (Des Weiteren können sie auf Bemühungen verweisen, der Zivilbevölkerung die Flucht zu ermöglichen.) Im Übrigen scheint es mir abwegig die Bestrebungen eines Präsidenten (Assad) sein Land gegen eine Rebellion zu verteidigen auf psychologische und familiäre Aspekte abzuschieben...

SRF Archiv

Newsletter kostenlos abonnieren