Manche Ereignisse muss man nicht beim Namen nennen. Ein paar Stichwörter – Flugzeuge, Türme, New York – reichen, und jeder weiß, was gemeint ist.
So hält es auch Don DeLillo in seinem Roman “Falling Man”. Schon im ersten Satz ist man hineinversetzt in den Schrecken des 11. September 2001, ohne dass man es ausdrücklich erfährt. Insofern ergeht es einem beim Lesen wie den Tausenden Überlebenden, die sich aus den Türmen retten können – auch sie wissen nicht, was eigentlich passiert ist, wissen nur, dass sie weg müssen von dort, wo sie sind, wenn sie am Leben bleiben wollen.
Keith Neudecker ist einer der Überlebenden, die sich aus dem World Trade Center retten konnten, und der nicht weiß, wie ihm geschieht. Bedeckt mit Asche, Schlamm und Blut – seinem eigenen und fremdem – läuft er scheinbar ziellos durch die Straßen New Yorks, bis ihn ein Lieferwagenfahrer mitnimmt – und er sich einer unbewussten Entscheidung folgend zu seiner Ex-Frau Lianne bringen lässt. Sein Jackett und eine Aktentasche konnte er aus den Türmen retten. Alles andere – sein ganzes ihm selbstverständlich gewordenes Leben als Angestellter, Kollegen und Freunde – ist in den Trümmern begraben und unwiederbringlich verloren.
Beginn einer neuen Zeitrechnung
Falling Man Don DeLillo 288 Seiten Erstausgabe 2007 |
Die Anschläge haben alles verändert, und obwohl ihre Mutter Nina Einwände hat, nimmt Lianne Keith wieder bei sich auf. Nina macht sich Sorgen um Keiths und Liannes Sohn Justin. Der 7jährige muss eigentlich noch die Trennung der Eltern überwinden, und den Vater plötzlich wieder zu Hause zu erleben k,önnte ihm die Orientierung nehmen. Doch für Lianne und Keith beginnt – wie für viele andere – ohnehin eine neue Zeitrechnung. Alles was “vor den Flugzeugen” (oder schlicht “davor”) geschehen ist, hat plötzlich eine ganz andere Relevanz erhalten, und so finden sie es ganz natürlich, dass sie es noch einmal miteinander versuchen.
Auch andere soziale Beziehungen sind durch die Terror-Anschläge geprägt: Justin sucht mit einem befreundeten Geschwisterpaar den Himmel nach Flugzeugen und “Bill Lawton” (der Name, den ihr amerikanisch geprägtes Gehör aus einem irgendwo aufgeschnappten “Bin Laden” verstanden hat) ab, und Liannes Mutter Nina überwirft sich mit ihrem langjährigen Freund und Liebhaber Martin, der in seiner Vergangenheit zumindest mit Terroristen sympathisiert hat, wahrscheinlich aber wegen entsprechender Verbindungen sogar immer noch gesucht wird – und dem Nina nun eine moralische Mitschuld an den Anschlägen gibt.
Der “Falling Man” als Symbol des Erinnerns
Und dann taucht der “Falling Man” in New York auf: ein Performance-Künstler, der sich von Brücken, Hochhäusern, Gerüsten wie im freien Fall stehen geblieben herabhängen lässt. Angezogen mit Anzug und Krawatte ist er eine Kopie der Verzweifelten, die aus dem World Trade Center in den Tod sprangen. Die ständige Präsenz des Falling Man, an der vor allem Lianne Anstoß nimmt, zwingt die New Yorker nicht nur, sich zu erinnern, sondern die Gefühle, die sie am 11. September hatten, immer wieder zu erleben.
Das Erinnern zieht sich auch auf anderen Ebenen als zentrales Thema durch “Falling Man”: Lianne, deren Vater sich beim ersten Anzeichen von altersbedingter Vergesslichkeit das Leben genommen hat, leitet eine Gruppe, die sich dem ganz alltäglichen Vergessen entgegenstellt. In der Runde schreiben an Altersdemenz Erkrankte auf, was sie noch wissen, so lange ihnen das noch möglich ist. Doch in Wahrheit kann die Gruppe nur denjenigen helfen, die noch nicht besonders stark betroffen sind, und Lianne, die davon ausgeht, dass Demenz erblich ist, spürt bei sich selbst wie besessen nach Zeichen von Vergesslichkeit.
Verschmelzung von Fiktion und Realität
Don DeLillos Erzählweise spiegelt die Fassungslosigkeit und Orientierungslosigkeit während der Tage nach den Anschlägen auch in der Form wider: Die Geschichte wirkt zerrissen, springt zwischen unterschiedlichen Zeiten und verschiedenen Personen hin und her, und oft braucht man einen Moment, um zu wissen, wer da gerade wann was erlebt. Nicht nur die Sicht der Opfer wird eingenommen, sondern auch die der Täter: In einigen Kapiteln spürt DeLillo einem der Attentäter nach, der zunächst in Hamburg von Zweifeln geplagt hauptsächlich Mitläufer ist, dann in Afghanistan zum Kämpfer ausgebildet wird. Später trifft man noch einmal auf ihm – in dem Flugzeug, das den Nordturm rammen wird.
Obwohl vieles in Don DeLillos Roman der Realität entspricht, hat es einen Performance-Künstler namens “Falling Man” nicht gegeben. Dennoch gibt es auch hierzu einen realen Hintergrund, eine bekannte Fotografie von Richard Drew, die den Titel “The Falling Man” trägt. Diese Fotografie zeigt einen Mann in Anzug und Krawatte, der aus dem World Trade Center springt und dessen Körperhaltung der Falling Man aus dem Roman kopiert. Am 12. September 2001 wurde das Bild von vielen Zeitungen gedruckt, anschließend jedoch nicht mehr, weil man sich dem Vorwurf ausgesetzt sah, Voyeurismus zu bedienen und zu fördern.
In den Empfindungen, die in “Falling Man” beschrieben werden, erkennt man seine eigene Wahrnehmung dieses Tags wieder: Jeder, der den 11. September bewusst miterlebt hat, weiß heute noch, wo er war und was er zu diesem Zeitpunkt getan hat, und diesen persönlichen Bezug zu dem abstrakten Unfassbaren stellte man immer wieder in den zahlreichen Gesprächen her, die sich um die Anschläge drehten. Besonders treffend aber beschreibt Don DeLillo die Viertelstunde nach dem Einschlag des ersten Flugzeugs im Nordturm, als die Welt für einen kurzen Moment nicht mal ahnte, dass dies etwas anderes als ein Unfall sein könnte. In einem Gespräch mit seiner Frau fasst Keith das wenige Tage nach den Ereignissen zusammen:
“Es sieht immer noch wie ein Unfall aus, das erste. Selbst aus dieser Entfernung, weit außerhalb der ganzen Sache, so viele Tage später jetzt, stehe ich hier und denke, das ist ein Unfall. [...] Das zweite Flugzeug, als dann das zweite Flugzeug auftaucht”, sagte er, “da sind wir alle ein Stückchen älter und klüger.”
Dieses “älter und klüger” trifft auf alle Figuren in “Falling Man” zu – und macht die Anschläge zum Wendepunkt in aller Geschichte, nach dem es nicht weitergehen kann wie bislang – und der alle betroffenen Leben in ein Vorher und ein Nachher teilt.
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Gefällt mir, dein Rezesion, ich werde mal in das Buch reinschauen. Danke!
Liebe Grüße
Klausbernd
Das lohnt sich auf jeden Fall! Hat mich beim Lesen sehr gefesselt, vor allem, weil man die Ereignisse ja selbst zumindest mitbekommen hat.
Ja kann gut sein, dass es dir beim Lesen anders ging als mir. Ich selber kenne auch Menschen die es ganz gut fanden. Ich selber habe einfach keinen Zugang zu diesem Buch gefunden. Vielleicht weil ich es auf Englisch lesen musste…
Aber dieses Buch ist wohl wirklich geschmackssache
Liebe Grüße
Sabrina
Stimmt, wenn man etwas lesen muss, findet man ja schon mal öfter nur schwierig einen Zugang