Auslaufmodell

Hahn ist ein Außenseiter, einer, der am Rand steht und zusieht, was die tun, die in der Mitte stehen. Er drückt sich an den Hauswänden entlang, als müsste ihn das Mauerwerk absorbieren können. Er ist kein Chamäleon, obwohl er sich für eins hält. Er durchmisst das Viertel mit staksigen Schritten, die ihm schwer fallen, er hebt die Beine, weil ihm jeder Untergrund wie ein Sumpf vorkommt. Er steckt fest. Bis zum Hals in der Scheiße. Trotzdem soll er weitermachen. Schweiß, kalt wie Eis, klebt auf seiner Stirn, hinter der er sich verbirgt. Die Leute wissen nicht viel von ihm, nur dass er Trinker ist. Kein seltener Beruf im Viertel. Hier wird jeder Dritte Trinker, jeder, der was auf sich hält, fällt mit einer Flasche Wodka auf und hin und wieder durch eine Scheibe. Man will Scherben hinterlassen, damit man wenigstens etwas hinterlassen hat, wenn man in die Erde gelassen wird. Der Friedhof läuft mit ihnen über, ganz besoffen ist er von den Trinkern, die sich in ihn versenken wie in ein Buch, von dem man nicht mehr lassen kann. Liegen da rum und faulen. Alles wie zu Lebzeiten. Nichts ändert sich.

Die Aussicht auf den Tod lässt Hahn schneller trinken, denn jeder braucht ein Ziel, auch der Trinker. Also hetzt er von Flasche zu Flasche, von Schlägerei zu Schlägerei, von Frau zu Frau, von Fick zu Fick. Erschöpft erwacht er an den Nachmittagen, gequält von den Dämonen, die sich in seinen Blutbahnen austoben. Trinker zittern nicht des Entzuges wegen, sondern weil unzählige Teufel sie mit ihren Dreizacken um den Verstand bringen wollen.

Hahn ist kein Mensch, auch wenn er wie einer aussieht. Er ist ein Platzrein, ein Läufer und ein Schlagrein.

Jetzt ist es wieder soweit. Er dringt in Maries Wohnung wie Wasser, wie etwas, das sich aus der Kanalisation nach oben gedrückt hat und nach Scheiße und Unrat stinkt.

(Fürchterlich. Niemand hält das aus.)

Er pocht gegen die Tür, schwappt gegen Maries Wohnungstür. Eine Welle, die branden will. Hahn. Wieder betrunken, damit er das sein kann, was er schon immer sein wollte: Flüssigkeit, die sich verteilen kann, die überall ist, die zum Universum selbst wird.

Hahn läuft in die Wohnung, von Zimmer zu Zimmer, nässt alles ein. Ein Sturm, der alles verwüstet.

Du pisst dir in die Hose!, schreit Marie.

(Marie hat er irgendwann geheiratet. Er kann sich nur nicht mehr erinnern, wann und wo, und vor allem weshalb.)

Die Marie-Klage interessiert Hahn nicht, der es eh nicht hören kann, weil seine Ohren mit einem Rauschen gefüllt sind, einem seltsamen Geräusch, das tief aus der Erde kommen muss. Hahn lauscht dem Rauschen, Hahn, der sich über die Kinder beugt und ihnen seinen bösen Drachenatem in die Gesichter bläst, damit sie in See stechen können, damit sie ihm folgen können auf seiner Suche nach dem kürzesten Seeweg ins Grab.

Schon läuft er weiter, läuft er aus und dann von Zimmer zu Zimmer, bis er überläuft. Das kommt davon, wenn man sich seit dem frühen Morgen flutet. Hochwasseralarm im Hahnkörper. Das Hochwasser hebt die wenigen Speisen, die er sich gegönnt hat. Hahn reißt die Augen auf. Er scheint besessen zu sein. Schon wieder. Sein Körper zuckt. Da ist ein Dämon, der das Kommando über seinen Körper übernommen hat. Er schlägt sich auf die Brust, will das Ding aus seinem Körper haben.

Marie möchte schreien: Nicht hier!

Zu spät, viel zu spät. Er hält sich bereits den Bauch, leider nicht vor Lachen, auch wenn das Marie zu wünschen gewesen wäre.

Hahn übergibt sich. Es liegt nicht an ihm und dem, was er will, sondern am Mitteilungsbedürfnis seines Körpers. Es ist eine Art der Kommunikation, die den Leuten verraten soll: Ich habe die Schnauze voll.

Es stinkt fürchterlich, da kommt so vieles hoch, sein Lebensüberdruss, seine Ängste, seine Träume, Bier, Schnaps, ein paar Scheiben Toast, und ganz am Ende noch mal eine Wagenladung Angst. Angst hat er genug, der Hahn, mit der Angst könnte er handeln, könnte sie an den Ecken verkaufen, feilbieten. Könnte raunen: Hey, komm her, ich hab da was für dich. Kann jeder gebrauchen, macht das Leben erst wertvoll.

Marie schreit auf, weil sie es nicht mehr sehen kann, ihn,  diesen Seelenverkäufer von Mensch, der ihr Mann ist und der hier aufläuft und leck schlägt und mit ihrem Leben vollläuft. Sie würde ihm am liebsten eins überziehen, vielleicht mit einem Baseballschläger. Die Hiebe würden ihm gut stehen, bestimmt sogar, die Wunden würden ihn kleiden.

So steht sie neben ihrem Ehemann, der sich stoßweise übergibt und die Kinder aus dem Schlaf kotzt, bis sie ihren Papa mit Weinen begrüßen. Die Kinder kennen es nicht anders, denn wenn der Papa die Wohnung flutet, dann ersaufen sie an seinen Geräuschen, an seinem anschließenden Brüllen, gefolgt von Mama, die er mit gezielten Schlägen in die Ecke katapultiert. Schon schlägt der Gong zur ersten Runde. Die Nachbarin gongt sich an der Wohnungstür die Seele aus dem Leib. Sie treibt ihn an.

Sie wird die Polizei rufen, wenn hier nicht bald Ruhe einkehrt.

Marie würde gerne kehren, sie kann es aber nicht, weil sie längst mit einem gebrochenen Nasenbein vor dem Bett ihres Jüngsten liegt, der seine Mama jetzt beim Sterben beobachten darf. (Er weiß es noch nicht, aber er wird an diesem Bild ein Leben lang arbeiten. Er wird es kauen wie einen Kaugummi, an dem er ersticken wird, auch wenn die Leute behaupten werden, der Strick, den er sich um den Hals legen wird, hätte ihn getötet.)

Hahn knurrt etwas, das niemand versteht. Er ist jetzt ein Hund, der die Zähne fletscht, der aus der Wohnung stürmt, schon nicht mehr wankend, denn sein Hirn meldet ihm, dass es besser wäre, das Weite zu suchen.

(Bloß weg hier!)

Hahn schlüpft durch das Loch zwischen Tür und Rahmen, er schlägt die Schale entzwei, die ihn noch im Ei der Gesellschaft hielt und tappt in die Welt der Flüchtigen.

(Endlich!)

Hahn weiß bereits auf der dritten Treppenstufe, dass er das  hier nicht hätte tun sollen. Schlagen ja, aber nicht zu fest, denn sie könnte draufgehen. (Wird sie, aber das weiß Hahn noch nicht.)

Er will laufen: auslaufen, weglaufen, einlaufen, zulaufen, durchlaufen.

Hahn ist ein Läufer, das weiß jeder im Viertel. Also läuft Hahn rüber zu Engelmann und lässt sich volllaufen.

Dann kann er später wieder auslaufen. Mit gebreiteten Armen auf das offene Meer des Viertels rudern. Zu einem Schiff werden. Kentern.

(Erde zu Erde. Staub zu Staub.)

Hahn öffnet die Jacke, sie flattert im Wind, er setzt Segel und steuert den Hafen an, der ihn träumen lässt.

(Der Friedhof. Er wankt Richtung Friedhof, macht aber einen Umweg über Engelmann, der sein muss, weil Engelmann die Seefahrer mit allem Nötigen ausstattet.)

Hahn lässt das Bier laufen, literweise, er blickt auf seine blutige Hand und wundert sich.

(Die Teufel, die unter seiner Hand leben, müssen entkommen sein. Ein geglückter Ausbruchsversuch.)

Hahn flutet sich und wartet darauf, überzulaufen, denn wenn das geschieht, dann entleert er sich, dann treibt alles Böse aus seinem Körper auf die Straße.

Er will sich verflüssigen, will in alle Ecken des Viertels rinnen, will zum Viertel selbst werden.

Er hebt die Flasche und spürt, dass er kurz vor seinem Ziel steht.

(Zuerst im Magazin >>>>GETIDAN erschienen)

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