Sonntag, 14. Juni 2015

11. Die Vision von der Veranda

Übersetzt man ›Veranda‹, ist eine mögliche Bedeutung: ›Der sehende Junge‹. Willi kommt zu seiner Veranda während des Vögelns. Diejenige, die da unter ihm zappelt – nicht weil es ihr gefällt, sondern weil sie keine Luft mehr bekommt (so fest hat er sich in sie gekrallt), heißt Ella. Ein wirkliches Abenteuer ist das nicht, sieht man einmal davon ab, dass man der Dame in die Brustwarzen zu beißen hat, will man sie zum Klimax führen. Der kündigte sich mit einem »jetztjetztjetzt« an. Der so über ihren Leib Gestülpte, der nichts von ihrer erotischen Absonderlichkeit weiß, mag sich da bereits heroisch bestätigt fühlen, das Ziel ist erreicht, der Hengst gießt sich selbst aus und wälzte sich runter, um noch eine Mütze voll Schlaf zu erhaschen, bevor der Morgen wieder klingelt, der Leib zur niederen Tätigkeit geschunden wird. Die Mademoiselle macht Mathemusik, eine Muse der mathematischen Zufälle auf der Geige, die Pausen singen von dem, was die Materie auseinander treibt.
Ella ist nichts Festes, nicht das »Ich-glaube-du-fehlst-mir-wenn-du-nicht-da-bist«-Ding. Sie hat ihren Weggefährten (oder ihre Weggefahr, je nachdem) bereits gefunden, nur vögeln will sie nicht mit ihm. Er schnarcht während des Beischlafs, was sich bisher kein Oto-Rhino-Larynologe erklären kann. Aber am Wochenende gehen sie zum Tanz, meistens dorthin, wo The Four Aliberts aufspielten. Ella ist mit den Jungs vertraut, und wenn Willi nicht alle Sinne täuschen, kennen die Jungs wiederum das Geheimnis ihrer Titten.
Willi aber kennt die Arbeitszeiten des Gehörnten, was ihm dabei behilflich ist, keine Spuren zu hinterlassen, weder in der Wohnung (er setzt sich beim Schiffen, rasiert sich dort nicht), noch auf Ellas Körper (wie es drinnen aussehen mag, weiß Gott allein, wenn er sich für sowas interessiert).
Willi bearbeitet Ella parallel zur Renovierung der Wohnung, was schon mal Farbkleckse verursacht. Auch das natürlich ein kosmisches System, nur lesen müsste man es können.
Eine gewöhnliche Kopulation löst bei Willi keine Visionen aus, und schon gar nicht so eine, bei der er sich nicht mehr auf das konzentrieren kann, was sich da unter ihm abspielt; schließlich darf er seinen Einsatz (jetztjetztjetzt) nicht verpassen – und er verpasste ihn nie.
Das Röcheln unter ihm wird immer eindringlicher (zaghafte Faustschläge auf den Rücken), das Bild, das ihn eben noch anrührte, wie die kratzlieblichen Töne einer Violine das Universum anrühren (ach, das zauberisch verpackte Geiglein!), verschwindet wie eine Seifenblase, löst sich nicht einfach auf, sondern fällt in schillernden Farben zusammen. Erbost (wer visioniert denn schon nebenher den schönsten Traum, in dem aller Kummer des Lebens den fernen Pastellen weicht, die zu erreichen dem Sinnenden das einzige Prinzip?) springt er zunächst aus Ella und dann aus dem Bett. Die um ehrliche Lust Betrogene zeigt einen japsenden Mund, gefüllt mit heiß flüsternder Lava. »Bist du verrückt!« – wäre ja noch menschlich gewesen, so aber erinnert sie Willi an jene Karpfen, die seine Großmutter jeweils zu Ostern in einem Kräutersud servierte. Karpfen blau. Er war nie an das verdammte Rezept herangekommen, obwohl sie ihm versprochen hatte, es ihm eines Tages zu geben, dann nämlich, wenn er die ›große Fischküche‹ intellektuell fassen könne. Doch sie starb ohne Federlesens, und das einzige, was sie hinterließ, war ein Schrank voller Valium und Morphium, sowie ein steinhartes Brot im Brotkasten.
Willi (jetzt neben dem Bett stehend) starrt sie an, sein Blick aber geht durch sie hindurch. Sind wir nicht alle nur Atome, wild kreiselnd, dazwischen: nichts? Er möchte die Vision wiederfinden, die Ella mit ihrem vermaledeiten Überlebenstrieb unterbrochen hat. An manchen Tagen gelingt so ein Rückholkommando durch eine Tätigkeit, die man Glotzen nennt. Glotzen: Ausschalten jeglicher Ahnung von Realität (Wissenschaftliches Bewusstsein ist entfremdetes Bewusstsein), in Erwartung eines geistigen Super-GAUs, einer Art Nirwana für Ungeübte. Willi glotzt also auf das Wesen, das sich den Hals reibt, dann kopfüber aus dem Bett heraus eine Menge Schleim zu Boden hustet (so viel drin in einem Menschen!), dann nochmal etwas krächzt, aufsteht, ins Badezimmer torkelt, schnieft und schnäuzt, sich hinsetzt und pinkelt.

»Das war eine Veranda!« murmelt er seinen Händen entgegen, die – natürlich – leicht zittern. Er setzt sich auf den Rand des heilbringenden Bettes und verbrennt sich die Nase beim Versuch, sich eine Zigarette zu entflammen. Ella kehrt zurück, bleibt sicherheitshalber in einiger Entfernung stehen, und – mal im Ernst: sie sieht aus wie eine Vogelscheuche.

Donnerstag, 11. Juni 2015

10. Die Ebbinghaussche Vergessenskurve

Heute sitzt Willi bei denkbar schönem Wetter auf seinem Balkon herum, der natürlich irgendwie auch Ilenes Balkon ist, trinkt Kaffee und blickt über den Eichenhain hinweg. Die leichte Betäubung seiner Nerven – durch das aufpeitschende, schwarze Gold kommt es ihm zumindest so vor, als säße er auf seiner Veranda. Die Eichen zerlegen sich zu Dornensträuchern, was übrig bleibt zu einer Sukkulentenvegetation. Die überschaubare Ebene arrangiert sich zu sanft geschwungenen Berghängen und wie ein Hochofen gießt die Sonne ihr grüngeschmolzenes Blei vor die Augen. Selbst der nervus glossopharyngeus verändert unter diesen Voraussetzungen die Anzahl seiner Geschmacksknospen. Die Dendriten übermitteln: Sonne schmeckt nach Zitrone oder Apfelsine. Jonathan Levke hat ihm das gesagt, damals an der Uni.

Willi fand ihn zu seiner Verblüffung eines Tages heulend in der Mensa sitzen, ein zerkautes Schnitzel ausgespuckt neben ihm auf dem Tisch. Vielleicht, dachte Willi, hat er nun seinen notwendigen Zusammenbruch. Levke besuchte zu diesem Zeitpunkt so viele Vorlesungen, wie er konnte, stets auf der Suche nach einer Weltformel, die, davon war er überzeugt, Nietzsche gefunden haben muß. Dessen Schicksal ein Paradigma. Schwerlich ist unsere Welt zu denken ohne den Einschnitt, den seine Philosophie markiert hat. 1900 stirbt er, 1913 malt Kandinsky sein erstes ungegenständliches Bild – eine Farbexplosion – im gleichen Jahr die Uraufführung von Igor Strawinskys ›Le Sacre du Printemps‹, die musikalische Illustration eines archaisch-rituellen Menschenopfers wirft eine jahrhundertealte Wahrheit ab: die traditionelle Tonalität. 1914 erster Weltkrieg, der Amoklauf des alten Kontinents in Richtung eines kollektiven Suizids beginnt.
»Jeder wird zum Schweigen gebracht, mein Freund. Müsste ich jetzt mit ansehen, wie man einen Gaul auspeitscht, könntest du mich gleich ebenfalls zu meiner Schwester nach Bamberg bringen. Ich werde stürzen.«

Aber der Freund starrte ihn an, wie man einen Baumstumpf betrachtet, den man gleich anpinkeln wird. Du wirst die Universität verlassen, Du experimentierst mit Drogen, dein Honig, Deine Sonnen, Dein Duftorgeltum, Hypnose und Wachtrance. 
»Die Alchimisten haben etwas ganz anderes getan, als unreine Stoffe in Gold zu verwandeln. Sie haben die Welt und ihre Teile in Handarbeit miteinander verbunden. Da war vorher nichts zwischen dem Mond und einer Frau, da war keine Weltformel am Werk, die sich das ausdachte, damit jeder in die Falle lief. Die Naturgesetze undsoweiter... die galten nicht schon immer. Wenn wir die Geschichte wirklich begreifen wollen, müssen wir herausfinden, wann genau welche Erfindung der Wirklichkeit stattgefunden hat. Wenn wir den Saal räumen, bleibt nichts als die Bühne übrig, ein paar Steckdosen in den Wänden.«

»Als ich mich zum ersten Mal in die Magnesiumsulfatlösung legte und der Deckel geschlossen war, wich die Dunkelheit vor den zunächst schnell und verworren rotierenden Bildern zurück. Erst wurde mir schwindelig und schlecht, die schwanken Farben und Objekte verdichteten sich jedoch durch die verschenkte Aufmerksamkeit binnen weniger Sekunden. Da ich nicht wusste, wo ich mich befand – der Tank war scheinbar verschwunden (es hatte den Anschein, als könne ich mich frei in dieser nie gesehenen Landschaft bewegen), rief ich, ob mich jemand hören könne. Vermutlich war meine Stimme sehr laut, denn der Deckel wurde aufgestoßen und mich blendete die helle Wirklichkeit, die jedem Neugeborenen die Netzhaut vom Apfel zieht. Im Tank aber schaute ich meinen Tod.« Levke rappelte sich auf. »Hier stinkt’s nach Bohnerwachs, und meine Paranoia ist echt!« 
In diesem Moment ging die Tür auf und alles war wie immer. Momente verschwanden durch den Ausgang, Gelegenheiten kamen durch den Eingang herein. Seine Worte. Wie zur Bestätigung stieg er eines Tages trotz seines Wahns in einen Hubschrauber und landete in Einzelteilen, weil das Ding in der Luft explodiert. Wäre Willi kleinlich, hätte er da einen Fehler in Levkes Theorie finden können: Explodieren und Abstürzen, das ist nicht dasselbe. Den Zeitungsartikel hatte Willi damals ans Schwarze Brett gehängt:
Ein Hubschrauber mit vier Menschen an Bord ist am Sonntagnachmittag bei einem Volksfest in der Nähe von E. mit einem Kleinflugzeug zusammengestoßen und explodiert. Die vier Insassen kamen dabei ums Leben, wie die Polizei in A. mitteilte. Der Pilot des Kleinflugzeuges machte mit seiner nicht mehr manövrierbaren Maschine eine Bruchlandung und erlitt schwere Verletzungen.
Die Ebbinghaussche Vergessenskurve beschreibt das logarithmische Vergessen. Am Anfang ist nichts mehr, die Geburt ist die Stunde Null, im Gestern aber sind ungeheuerliche Räume frei. Mit Balkon.

Dienstag, 9. Juni 2015

9. Achatne Kugeln

Die Hochzeit: Schlitten, die auf Rädern die Kufen nachstellten, schneelos den Asphalt berollten, klingelten herbei, schön geschmückt mit Glöckchen und Glocken und Bändchen, schöner gar als die Jungfern trugen. Hypnose ist kein Schlaf sondern ein Wachzustand. Achatne Kugeln pilgerten die künstlich angelegten Gartenwege entlang, die allein dem Zweck dienten, die Braut für fotodokumentarische Zwecke dort entlang schweben zu lassen, wenn sie denn eintrifft (sie scheint sich zu verspäten). Aus Wasserspeiern pinkelt goldeingefärbtes Wasser, das in reichverzierten Auffangbecken glitzert.
Die Angeturtelten stritten sich selten in ihrem Bunker, an dem jedes Flugzeug abgeprallt wäre wie ein nasser Blechschauer. Immer dann, wenn Willi eine gehörige Sammlung Unverstandenheit aufgestaut hatte, um Ilene einmal mächtig zu beleidigen, schloß die sich in einem Zimmer ein, immer in einem anderen, und nicht etwa reihum. Sie schloß sich systemlos ein, was Willi noch wütender machte. Er fühlte sich wie ein Stier, dem man in Ketten liegend mit einem langen Besen die Testikel scharfmacht. Küche, Bad, Schlafzimmer – es war ihr ganz egal. Fehlte an einer Tür einmal der Schlüssel, weil er vielleicht zu Boden gefallen war und sie ihn dort nicht gleich finden konnte, zog die Gefahr eines hysterischen Unwetters auf, sozusagen als Gegengewicht zu seinem Brüllvorhaben. Die Schlüssel mußten jederzeit griffbereit sein, um dann, wenn er sich dazu durchgerungen hatte, sie eine ‹wirklich dumme Kuh› zu nennen (später fiel ihm ‹zystrische Vibrose› ein), Ilene eine beliebige Tür wie ein Siegel zwischen ihre zarten Ohren und seinem Speichelflug bringen konnte. Willi schrie nie: »Mach sofort die Tür auf, du Miststück!« Niemals wäre er hinterhergestürzt, aber sie sperrte dennoch jedesmal ab, symbolisch, so wie seine Veranda symbolisch war. Zumindest dachte sie das. Seine Veranda war symbolisch, die des seltsamen Vogels von einem Dichter war echt. Oh, Willi hätte natürlich jede Art von Beleidigung in einer Lautstärke schreien können, die auch hinter die Tür gedrungen wäre, transversal sozusagen, aber das war etwas völlig anderes. Wenn man jemanden beleidigt, möchte man sich in Genugtuung aalen, die Dosenpyramide nicht nur scheppern hören, sondern fallen sehen. Diese Pyramide, die wäre natürlich Ilenes Gesicht gewesen.

Montag, 8. Juni 2015

Note 104

Amerika - von Nord nach Süd - ist der Kontinent der Dichter. Deutschland liegt, betrachtet man Amerika also diesbezüglich als Paradies, ungefähr da, wo Lots Frau den Atompilz schmeckte.

Der Horcher

Die neuen Tage beginnen nicht so, wie die alten enden.
Jemand hat das Interieur verändert, die Kabelage ist
Durch fremde Mauern gezogen, die Venuslampe scheint.
Über unzählige Stufen gepoltert, trifft derjenige ein,
Den sie den Horcher nennen. Er steigt aus der
Fassade, die ihn wie mit einem Fahrstuhl nach oben brachte.

Geweihe zeigen nach Norden, was die natürliche Ansicht unterstreicht.
Pläne werden aufmerksam studiert, kein Wort fällt
Zu Boden, sondern in ein dafür installiertes Sicherungsgitter.
Geflohen sind wir längst, nur scheint uns jetzt
Zusätzlich die Sonne ins Gesicht, was die Arbeit sichtlich erschwert.

Die Sätze sind abhängig von den großen Laternen, pausenlos
Ausgespuckte Routine wäre ein Wort dafür, das der Horcher verwendet hätte.
Ohne Gefühl der Zweckbindung an den Türen vorbeizugehen,
Die atmosphärischen Störungen von jenem Weizen zu trennen,
Das nicht in ein Brot fährt, die zarten Verwehungen anzuerkennen,

Ohne Gegenwehr, ohne einen Wimpernschlag in Anspruch zu nehmen.
Selten haben wir unsere Tage wie vorgesehen verbracht,
Ungesehen, Staubteufel auf einem Friedhof in der Nacht.

Samstag, 6. Juni 2015

Note 103

Man muss die Sprache von allem reinigen, was Bedeutung hat, ein festgelegtes Muster. Statt Ich gehe nun hinaus in den Garten : Ich fließe nun in Wolkenbüsche und Erdschalen, unter Nussbetten und Wacholdertaler.
Das ist natürlich auf den ersten Blick nicht dasselbe - und das wird es auch niemals sein, denn der erste Satz unterliegt der Deutungshoheit, der zweite Satz ist Deutungshoheit und kann also lauten, wie er da zu lesen ist - oder anders. Es gibt also kein Problem mit dem Garten.

Ludus

Jeder geht seinen eigenen Weg des Verstummens.
Ich kam aus der Tiefe eines verdichteten Meeres,
Urgrund schwarzleuchtender Schlacken,
trat flackernd an das Ufer,
den dunklen Reptilien gleich,
um wieder in die Schwärze hinabzusteigen,
die niemanden kennt, die niemand kennt.
Ich war so unbedeutend
nur einen Atemzug ich selbst.

Aus den Kelchen zusammen mit den Bienen
in den Nektar verbissen, abschüssig das Bad,
die Pfütze kleine luftschnappende Hälse,
blaue Lippen.
Aufragend die zerfallenen Pfeiler, Vasen aus Gips.
Die Nymphen, nass, wogen in künstlichen Wellen,
sehen den Bock unbehaart, sein Fell über einem Stuhl.