Freitag, 31. Oktober 2014

Das Pfand

Die Türen klappern und die Eulen kauzen, sie erledigen ihr finsteres Mahl. In den Katakomben wären sie die Herrscher der klandestinen Welt, auf den Bäumen sind sie die Augen der Nacht, denen das Flirren der vom Irrlicht angestrahlten Insekten die Straße in den Nebel ist.
Aus den Schornsteinen schälen sich die Gespenster der Holzrinde in hellgraue Mäntel. Ihr Ziel ist, wie so oft, das Nirgendwo.
Nur mich treibt es über das unebene Plastrum hinaus, und ich wundere mich, daß ich unbehelligt fliehe, ohne ein forsches Tempo anzuschlagen, ohne die unzureichenden Sinne auszufahren, um die Schatten zu deuten, die gemütlichen Gerüche, die aus schlecht schließenden Fenstern schleichen, von den ätzenden Salben der Gefahr zu unterscheiden. Das stille Wunder der Nacht verschluckt mich an Ort und Stelle, unsichtbar, weil ich mich unsichtbar denke. Nur die Arglosen sowie Kinderseelen könnten mich jetzt noch entdecken, wie ich mich aufmache in die jenseitige Welt, die für mich nicht schwer zu erreichen ist durch das Pfand, das ich bei mir trage.
Aber auch die würden mich nur in einem Traum wie ein Schemen finden, das Grauen in ihnen auslöst ohne Grund, so daß sie sich weigern, allein zu schlafen und darum bitten, es möge eine Kerze scheinen, ihren Atem bewachen, die Tür angelehnt, die Schränke verschlossen, denn vielleicht kröche ich aus dem Gewühl des Unaufgeräumten.
Ohne Grund, nur aus der tiefen Ahnung des Todes heraus, den sie in Gedanken vorwegnehmen und sich damit zeichnen all ihr Leben lang. Es wird dieses Bild sein, daß sie auf ihrem Sterbebett imaginieren, daß ihnen sagt: „Alles ist bar jeder Hoffnung. Kein Licht wird dich erretten, wenn du fällst in meine dunklen Schwingen:“
Nichts Sensationelles gebührt mir, keine Chronik verbindet meinen Namen mit Papier, ich fürchte gar, man sieht mich an und vergißt mich gleich beim nächsten Augen=Niederschlag. Wie schwarze Materie vermutet man mich in leeren Häusern, verlassenen Orten; man spricht mit mir über die Wunder dieser Welt, als wäre ich ihnen näher. Doch ich bin nur der Wanderer, der flieht, auch wenn niemand sich hinter mir zeigt.
Und ich wundere mich, daß ich unbehelligt bin, obwohl ich diesen Kopf bei mir trage, der mit Tropfen statt mit Krumen den Weg mit Abschied füllt. Kalt die Lippen, kalt das Glas der Augen, Wund der ferne Körper.
Vielleicht träumt mich jemand vor sich her und wünscht, daß all dies geschähe. Vielleicht bin ich nur das fahle Blatt eines Gedankens der Wut, der Hilflosigkeit, deren Schild die Gewalt ist, deren Dreizack der Atem der Verwünschung ist, unachtsam aus der Niederung formuliert. Vielleicht aber bin ich die Tat und die Bewegung des Ungesagten. Der beginnende Regen spricht mich frei von der Kälte, die durch Wände kriecht.

Donnerstag, 30. Oktober 2014

Vom Zauberberg

Rückkehr vom Zauberberg : MiWo. Kurz nach meiner Ankunft, brach hier das Internet zusammen und wurde in den letzten Tagen rudimentär geflickt. Ich bringe ein nahezu fertiges Typoskript mit zurück, freilich, so glaube ich, noch imposanter als "Entropia",mit dem es ja einige Zeitgenossen etwas schwer zu haben scheinen.

Michael Perkampus’ Erzählung „Entropia, oder die Hochzeit auf dem Lande“ versucht, den Surrealismus in die Gegenwart zu übertragen

Nö, näh? Ist eigentlich ein interessanter Satz, weil der Betrachter dadurch denkt, Surrealismus wäre (wie Sprache, wie Bildung, wie Kultur) ein Relikt aus alten Tagen. Die Realität ist jetzt!, sagt uns das - aber damals war man eben noch nicht so weit, zu wissen, was das ist: Realität. Wurscht; ist ja unterm Strich amüsant.

Der hier ist besser, wenn auch natürlich überfordert:

Der Rhythmus im Unbewussten – Michael Perkampus’ «Entropia»

Ich laß Sie jetzt mal wieder an Ihre eigenen Gedanken. Kaufen Sie das Buch, ich garantiere, es ist mal was anderes als dieses Storytelling mit Schleife, das uns Dichtern und uns ächten Lesern die Luft, die ohnehin schon dünn ist, verpestet.

Samstag, 18. Oktober 2014

Pechrabella -part zwei-



Aus Steinfugen franst Efeu, verirrt. Nächtlich geschult dringt Regenwasser aus den Schuhsohlen, lacht, petzt verborgene Wege. Diese dunkelnasse Grube weiß sie als ihr eigenes mütterlich-uterines Urmedium. Hier steht sie mit dem Boten des Kastellans, verfänglich und abgeschieden, fensterlos, rückhaltlos, für alle Zeiten nichtgebärend.
„Der Herr weiß und er wartet.“

Sie nickt, weil auch sie weiß und ihrerseits wartet. Auch jetzt sind die trunkenen Bärte auf der Lauer, in den Schenken, zögern nicht, die Schlafzimmer zu erschnüffeln, um die Häuser zu schleichen, wild und entschlossen wie die Raubtiere, die Esrabella bald auf sie hetzen wird. Noch weiß sie nicht die Formel, nicht selbst zerfetzt zu werden von den Wölfen. Sie war schon einmal hier, die Hand an einer Münze, spürte das schwere Gold, empfand die Müdigkeit des Dichters Tieck, dem sie das Zimmer bereitet hatte, jene Müdigkeit, die eine Müdigkeit des Alters ist, eine, die keine Welt der Sprache mehr empfindet. Der Gestiefelte Kater hing als getrocknetes Fell über einem Bettpfosten, sie sprachen sich durch Hände an, die aus dem Halbdunkel heraus gestikulierten. Er den Worten fern, wie es ihm der nahe Tod befahl, sie nach der Münze greifend.

In der Stube fackelten zwei Feuer neben einer Traubenpresse, davor der Kastellan in Scharlach. Der Lakai verpuffte ohne Worte rückwärtig durch die Tür.

„Sind sie nicht selbst wie wilde Tiere ihrer Natur hörig, den Instinkten treu, dem Gezeter zum Trotz? Sind sie nicht das Überleben sichernd durch bloße stolze Kraft? Wer wollte ihnen Einhalt gebieten?“
„Mir geht es um die Macht des Mondes, und wie ich weiß, seid Ihr interessiert an einen ganz bestimmten Inhaltsstoff für Euren Wein, den ich Euch dafür besorgen werde, wenn Ihr mir die dunkle Seite offenbart.“
„Ich trage mich ein in das Buch der Erde. Ich rühre an den Instinkten der Wonne. Die Vernunft hängt zerschmettert am Baum, der dort vor der Türe steht.“

Ah – es begann ein Donnern weicher Pfoten; es begann aus den Winden zu schneien. Frost gefror die Bäche ein, das glänzende Licht heulte rufend aus der Ferne. Es tanzten die Tatzen, es wogten die Flanken, es stiegen am Nacken die Borsten empor. Es wichen die Ranken und pumpten die Lefzen, das Hecheln der Meute stank Wolken hervor.
„Jetzt kommen die Wolfen über die Felder von Ypern geeilt. Fleisch ernährt Fleisch.“
Esrabella setzt den Kelch ab. Tannine beranken ihre Lippen, verzieren ihr Gesicht. Die Augen kühl von der Farbe des Pechsteins, der auf dem Mären-Tisch liegt.
„Sie hat den Zauberwein getrunken!“
Ab jetzt drehen alle Uhren nach vorne und keine mehr zurück.

*

Der Zauberer ist tot, es lebe der Zauberer!
Esrabella hat alles genau geplant, aber das Schloß bekommt sie nicht, oder woher soll sie eine Million Mark nehmen? Die Hammerschmieden stehen still, der Athanator ist erkaltet, aber die Münze funkelt in ihrer Hand. Wenn sie sich von ihm trennen muß, dann wird sie sich auch von der Münze trennen können, dann wird sie damit den Fährmann bezahlen. Sie wandelt zur Eger hinunter, eine dunkle Wolke mit einem Gesicht, das weiß aus der Nacht herausragt.

„Fährmann!“ Und lauter, so laut, daß sich ihr Hals plustert, der Kragen weitet: „Fährmann!“
Die Eger gurgelt und spült den Rest des Tages in die Ferne, aber mehr ist da nicht. Das Echo ihrer Stimme hält sich wacker, manch Schlaf wird unruhig, die Milch in den Eutern der Kühe sauer werden. Sie betrachtet das glitzernde Goldstück, steht hier stellvertretend für alle Witwen am Fluß, von dem sie sich viel mehr versprach. Am anderen Ufer regt sich die Gestalt der weißen Ratte Fridolin.

„Frau Gräfin, schreien Sie bitte nicht so exorbitant herum! Sie kennen das Problem mit den Geistern doch zur Genüge! Ich kann Ihnen eine Barke zukommen lassen, aber Sie müssen sich etwas gedulden, das Jenseits ist heute wegen Überfüllung geschlossen.“

Im Jahre 1846 kam ein äußerst merkwürdiger Mensch in unser Dorf, den man auf den ersten, den zweiten und sogar den dritten Blick für einen Lotterbuben halten konnte, wäre da nicht der Heckerhut gewesen, den bei uns zulande zwar keiner kannte (die radikaldemokratische Gesinnung war uns fremd) – der aber, war er nicht gestohlen, einen gewissen Stand andeutete.

„Er ist tot!“ rief sie hinüber.
„Ich dachte es mir. Aber auch für einen Alchimisten wird es keine Ausnahme geben. Madame! Ich bin nur eine sprechende und philosophisch begabte Ratte, eine Altweltmaus – wie gefällt Ihnen das? Aber im Gegensatz zu Ihnen bin ich sterblich. Genug der Wunder! Man bekommt sie nicht allesamt. Halten Sie das alles denn für so wichtig?“
„Er verschimmelt in meiner Wohnung! Ich halte es durchaus für wichtig!“
„Sollten ihn seine Schüler nicht einbalsamieren?“
„Das geht nicht. Er feiert ja gerade mit ihnen seinen Abschied!“
„Es gäbe ein Notfloß. Wenn er allerdings entdeckt wird, schicken sie ihn zurück.“
„Mich würde interessieren, warum ich hier stehe und mit einer Ratte diskutiere!“
 „Mit wem sollten Sie denn sonst reden? Es ist ja niemand anderes da!“

Es war einmal ein Dorf, das man nicht kennt und an das man nicht denkt. Es lag in einer schlechten Wetterzone, Nebel stand hier selbst in den Sommermonaten, die kaum einmal wirklich heiß wurden, jeden Morgen sehr tief. Im Umland lagen rudimentäre Erinnerungen an eine bessere Zeit teilweise im Acker vergraben. Ruinen bröckelten vor sich hin, faulende Gatter schlugen wie Geisterkiefer in einem zahnlosen Bett. Der Wind röchelte durch die ausgemergelten Fensterscharten. Kein Glas saß mehr in seinem Rahmen. Begonnen hat Frau Gräf, den Kindlein zu erzählen, daß ein großer, garstger Vogel käm’, wenn sie nicht schlafen wollten. Zuvor, da sang sie Lieder, erzählte von Feenreichen, Paradiesen, die im Wasser funkeln – und Schätzen tief in Höhlen, von Königreichen, die man nur im Traum betreten kann, wo man König ist und Königin, die Bienen den Honig an die Haustür bringen und die Tiere sprechen. Auch ihr Vogel sprach, den sie den Nachtkrapp nannte – heute weiß keiner mehr, wer ihn erfand. Die Angst zu schüren, gefiel ihr sehr gut, sie spürte da ein regelrechtes Ziehen in den verbotenen Regionen, wann genau sie schwarz geworden war, das hatte sie vergessen. Als Witwe fürchtete man sie, das lag an der Tracht des Todes, wie sie wußte. Sie roch nach Humus und Stall. 

„Sie muß verrückt geworden sein vor Trauer“, sagte man im Dorf von ihr. Die Wahrheit aber ging anders. 

Esrabella Gräf hatte ihr Leben nie gelebt: sehr früh schon Magd am Hof des Vaters, wurde sie jung in die Ehe gegeben, vor der sie sich zu Recht gefürchtet hatte. Ihr zukünftiger Gemahl hatte einige recht merkwürdige Angewohnheiten und keiner konnte sagen, ob er sich die nach der Hochzeit abgewöhnen würde. Esrabella hätte gesagt, sie habe in die Abgründe eines Mannes geblickt, der als Säugling mit Schnaps ruhig gestellt,  später der Gespiele seiner eigenen Mutter wurde, nachdem der Vater sich bei einem Jagdunfall den Hoden abgeschossen hatte. Er überlebte, aber vielleicht wäre es für die Familie besser gewesen, er wäre gestorben (Gott verbiete mir mein Mundwerk!).

Tief hängen die Decken des Hauses, festgestampft wie der Gartenboden, der sich rund um das Haus findet, und auch wie der Gartenboden zeugen Fußspuren von verdreht angelegten Wegen. Teekessel baumeln an Ketten, in ausgehöhlten Hühnerköpfen leuchten Kerzen durch Augen und aufgesperrte Schnäbel, die Wände krummer Lehm. Katzen schleichen um Porzellanaccessoires herum, die auf Regalen und bemalten Schränken einstauben. Esrabella wartet auf Bartholomäus, der seine Träume nicht versteht, der ihnen aber dennoch folgen wird.

„Ich war mal Schaffner“, sagt er gerade. Sie weiß es, weil ihr Mund sich mitbewegt.
Die Hühnerköpfe im Chor: „Ich war mal Schaffner! Ich kann Ihnen Karten besorgen!“
Die Jahre vergehen wie Stunden, die Stunden vergehen wie Minuten, die Minuten vergehen wie Jahrhunderte. Fridolin trabt durch den neblichten Garten, erfreut sich am Denken, erschnuppert sich Kompost und Schlachtabfälle. Die Hühnerköpfe im Chor: „Heute ham’se den Buback abgeknallt!“
Fridolin indes: „Oh! Aha! Ich entdeckte den Tunnel der Weisheit sozusagen im Rattentempo. Ich also verfing mich mit meiner Nase in einem Kadaver und wurde sehend, das heißt: sprechend; aber du mußt sehen, was nicht gesprochen sein wird, was im Hintergrundrauschen steckt. Du mußt es nicht riechen, sagte ich mir, also zieh‘ deine Nase aus dem Gedärm heraus und denke darüber nach, warum du eine Ratte bist, ob das jetzt ein Zufall ist.“
Der Hahn kräht in der Annahme des frühen Morgens, die Hühner hören den Hühnerkopfchor: „Er kommt, Frau Gräfin! Der zerfetzte, zerschlissene Flüchtling naht sich!“
Fridolin indes: „Hier ist es wahrlich wunderlich. Alles ist illuminiert als gäbe es ein Fest.“

O when the chicks
go marching in…
tanned and delicious

„Du wirst jetzt dieses Kostüm anziehen, mein lieber Bartholomäus.“
Ist es ein Vogel-, ist es ein Ratten-, ist es ein Wolfskostüm?

Samstag, 11. Oktober 2014

Pechrabella -part eins-

Sie traf ihre Vorbereitungen im Gestank verfaulender Abfälle. In der Nacht zankten sich Schatten um die Überreste des Tages, unbedacht zurückgelassen. Sie verschonten die Hütte, weil sie dort lebte. Schwarzes Leben meidet schwarzes Leben. Die Einladungen waren verschickt, sie würde ihre Geschichte hören. Sie würde nicht mehr allein sein und ihnen erzählen, was sie dachte und warum sie so lange gewartet hatte. Wenn sie es verstehen, dachte sie, könnte sich alles ändern.

Sie ging zurück in die Hütte. Dort bewahrte sie die Zutaten auf, Kräuter, die auf einer Leine über dem Ofen hingen. Alles, was sie besaß, hatte sie in diesem Raum verstaut, in halb zerfallenen Schränken. Sie war eins mit den Gerüchen, eins mit den Farben und dem, was sich in den Ecken verbarg. Der helle Tag drang weder durch die dichtstehenden Bäume noch durch die Fenster auf der Südseite ihrer Behausung. Nur der Schein einer unbekannten Lichtquelle zeigte ihr die Umgebung, als wären ihre Pupillen von einer milchigen Substanz beherrscht, die sie nicht beiseite blinzeln konnte.

Als nächstes saßen sie bereits um ihren Tisch herum. Sie hieß sie alle willkommen, unsicher, ob sie den richtigen Ton getroffen hatte.

„Stellen wir uns doch kurz einander vor. Ich möchte nicht, daß unsere Namen vertauscht werden. Eine unglückliche Sache könnte das werden.“ Sie wußte, daß falsch war, was sie da sagte, aber die drei Frauen sahen sie einfach nur an. Es war wohl alles in Ordnung.

Diese weiblichen Personen, vom Tageslicht genau in diesen Formen, vom Nachtlicht noch geheimnisvoller angestrahlt, in ihren Konturen gebirgig bis hochalpin, entziehen sich von nun an dem Hunger, dem sie das Brot sein sollen, dem sie das Schmankerl, das Wildbret bedeuten. Die Höhlen, die sie bergen, das Geziere, verzierte Scheu. So ziehen sie andere an, indem sie sich ausziehen, hinter geschlossenen Türen, die lüsternen Holzarbeiter, die den Tälern Lichtungen verschaffen, Rhoden für den Wegebau, Plätze, neue Häuser.

„Sie haben mich und meine Tochter, als wir gemeinsam in den Beeren standen, die Fesseln blau vom Saft, die Schuhe bemoost, die Waden zerstochen, angefaßt, mit den Äxten gewinkt. Gestunken haben sie nach gärendem Harz und Testosteron, nach wochenlangem Schmutz, nach der Abwesenheit von Wasser.“

„Kommt herein und erzählt frei von der Brust. Da sitzen andere auch, wie ihr seht, und es ist der erste Schritt, da zu sitzen.“

Sie saßen um einen Mären-Tisch herum, so alt wie viele Bäume nicht, ganz speckglänzend und rustikal, mit Narben an den richtigen Stellen, genau die richtige Anzahl an Narben, an geschnitzten Liebesbotschaften, Jahreszeichen, Tierkreisen, alchimistischen Berechnungen, die wie Rebusse prankten. Humpen, gefüllt mit Met oder Bienenwasser, wie Esrabella Gräf das Gebräu stets nennt.
Und wie heißt du? – Ich heiße Johanna.
Und wie heißt du? – Ich heiße Maria.
Und wie heißt du? – Ich heiße Justina.

Ab heute sind wir ein Bund. Wir werden sprechen wie ein Bund, wir werden zählen wie ein Bund, wir werden versiegeln mit Blut, das unser persönlicher Saft genannt werden kann.

„Mir hat man die Würde genommen, denn zwei schlossen Freundschaft auf mir, in mir. Sie röhrten ihren Frieden über das Unterholz und scheuchten Rehe aus meinem Leib, trafen eine Entscheidung in meinem Mund. Sie ließen mich liegen und begossen mich, nachdem ich ihnen wertlos geworden, wuschen mich in ihrem Unrat.“

Ab heute folgen wir dem Mond, wir stehen in seinem silbernen Licht, jede Waffe kann daraus geschmiedet sein. Es beugen sich die Ränder in die Bildmitte, lassen ihrer Unschärfe freien Lauf, alles zentriert sich, fokussiert sich auf das lauschig aufgeheizte Zimmer.
„Laßt uns ein Fenster öffnen!“

Es knackt und peitscht das Holz, Nadelbrausen dringt herein. Im Schloß angekommen ist der neue Kastellan, von dem man leise zischelnd spricht. Sein Name wurde nirgendwo noch gehört, man sah nur Kutsche um Kutsche rollen, erst wenn die Sonne kühler wurde, erst wenn die Wolken sich zu Bett begaben, wenn Werkzeug und Tagwerk langsam verödete. Aus dem ehemaligen Liebesnest mit allerlei besonderem Zauber, blieb nur der Küchenflügel noch bestehen. Der Hauptteil wurde abgesprengt und fiel in sich zusammen. Der Pavillon, im Prunk geplant, verprellte all sein Holz und morschte vor sich hin. Kein Fürst, kein Förster bändigte die Heerschar der Timbermänner, den Raub der Sabinerinnen. In vielen Jahrhunderten standen die Sumpfwälder mit ihren Röhrichten unbeeindruckt von einem – zugegeben – langsamen Lauf der Menschengeschicke. Wollgras flankierte die Moorkiefern, seggenreiche Flach- und Übergangsmoore fanden sich verwoben mit Pfeifengrasbrachen und Borstgrasrasen, so daß man sich, wenn man darauf spazierenging, vorkam wie eine kleine Mücke auf einem Bisonfell. Hier wurden Hausmittel, Schmierstoffe und Dichtmaterial aus Pech gewonnen, dem Harz der Fichten, Kiefern, Tannen und Lärchen, die sich hier in großer Zahl in den Himmel schraubten. Das Harzen der Bäume geschah in folgender Weise: Man befreite im Juni und Juli die Stämme von Bäumen, auf zwei Drittel der Stammbreite, bis auf eine bestimmte Höhe, von der Rinde und entfernte den Splint. Das aus der Wunde fließende Weichharz sammelte man durch Abkratzen und brachte es in die Pechhütte. Hier wurde es in kupfernen oder eisernen Kesseln geschmolzen, durch Abschöpfen der Verunreinigung und Durchseihen der geschmolzenen Masse gereinigt. Oder man nutze die Pechpfanne, indem man in sie längsgespaltenes, verharztes Kiefernholz aufstellte und dieses mit einer Rasenschicht bedeckte. Dann zündete man den Inhalt an – und ähnlich wie bei der Holzkohlegewinnung begann eine Art Verschwelung. Ein darunter gestelltes Gefäß nahm das tropfende Pech auf. Man verrührte es im Verhältnis eins zu vier mit Leinöl. Was dabei herauskam, wurde zum Pichen der Bierfässer benötigt, denn Bier – beim Karpfengott – ist zwar keine oberfränkische Erfindung, aber es gibt nirgendwo auf der Welt besseres, und vor allem nirgendwo mehr Brauereien.

Esrabella lauschte den Stimmen in ihrem Kopf, vor allem der Stimme ihres Vaters, einem der letzten Pechbrenner, wie er in der Kemenate sitzend, nachdem die Sonne längst schon untergegangen war, seine harzig gewordenen Stiefel noch eine Weile anbehielt, weil die Füße erst abschwellen mußten (an den Donnerstagen, wenn es im Gasthof Schlachtschüssel gab, zog er sie überhaupt nie aus, weil er an diesem Tag einen Rausch sonderer Güte mit nach Hause brachte, und der machte ihn fast doppelt so schwer als er eh schon war, erklärte er seiner Tochter).

„Aber wenn ich an diesem Tag nicht so viel Bier tränke, dann wäre der Hopfen beleidigt und würde sich von seiner bitterer Seite zeigen. Ein Mannsbild, das sich nicht einmal in der Woche in die goldgelben Wogen stürzt, ist ja gar keins, war nie eins und wird wohl nie eins werden.“

Esrabella drehte den Pechstein in den knotigen Fingern, von denen es heute nur noch wenige gab, weil sie überwachsen der Vergessenheit anheimgefallen sind, da auch die Menschen, die davon wußten, längst nicht mehr lebten.

Das ist alles, was wir spüren: diese Erde, dieses alte Fleisch, durch unsere Fußsohlen nach oben, wer weiß, wohin. Die Schlangenenergie, die sich das Rückgrat hinaufschiebt, Hitze aufstaut, auch auf dem kühlen Boden, auch auf dem nassen Boden. Ihre Täler sind unsere Täler, wir füllen den Raum um ihr Humus-Rund herum mit aberwitzigen Geschichten, mit hohen Sprüngen und einer Menge gebrochener Knochen. Das einzige, das am Abend übrigbleibt, sind gewaschene Füße. Von den Spuren im Haus bleiben nur die Abdrücke vor der Tür, die sich bereits mit Wasser füllen, einen Trog formen, aus dem die wilden Hunde trinken, die man gerne irrtümlich im Abendnebel für Wölfe hält. Sauhundgrausen ist das Wort für dieses Wetter, den ganzen Tag überschwenglich schön und am Abend so, als schütteten sämtliche Dämonen der Umgebung ihren Eintopf auf die Straße. Einen Eintopf voller Rätsel.

Nacht und Nebel schultern das Firmament, Esrabella wirft sich an den Hauswänden entlang, es ist spät. Sie sagt nicht, wer sie ist, aber offenbar ist sie bereits bekannt, wird durch einen Seiteneingang geschleust und mit einer Robe bedeckt. Sie täuscht sich über die Augenfarbe des Lakaien, ist es Bernstein oder Schwarz?