Samstag, 18. Oktober 2014

Pechrabella -part zwei-



Aus Steinfugen franst Efeu, verirrt. Nächtlich geschult dringt Regenwasser aus den Schuhsohlen, lacht, petzt verborgene Wege. Diese dunkelnasse Grube weiß sie als ihr eigenes mütterlich-uterines Urmedium. Hier steht sie mit dem Boten des Kastellans, verfänglich und abgeschieden, fensterlos, rückhaltlos, für alle Zeiten nichtgebärend.
„Der Herr weiß und er wartet.“

Sie nickt, weil auch sie weiß und ihrerseits wartet. Auch jetzt sind die trunkenen Bärte auf der Lauer, in den Schenken, zögern nicht, die Schlafzimmer zu erschnüffeln, um die Häuser zu schleichen, wild und entschlossen wie die Raubtiere, die Esrabella bald auf sie hetzen wird. Noch weiß sie nicht die Formel, nicht selbst zerfetzt zu werden von den Wölfen. Sie war schon einmal hier, die Hand an einer Münze, spürte das schwere Gold, empfand die Müdigkeit des Dichters Tieck, dem sie das Zimmer bereitet hatte, jene Müdigkeit, die eine Müdigkeit des Alters ist, eine, die keine Welt der Sprache mehr empfindet. Der Gestiefelte Kater hing als getrocknetes Fell über einem Bettpfosten, sie sprachen sich durch Hände an, die aus dem Halbdunkel heraus gestikulierten. Er den Worten fern, wie es ihm der nahe Tod befahl, sie nach der Münze greifend.

In der Stube fackelten zwei Feuer neben einer Traubenpresse, davor der Kastellan in Scharlach. Der Lakai verpuffte ohne Worte rückwärtig durch die Tür.

„Sind sie nicht selbst wie wilde Tiere ihrer Natur hörig, den Instinkten treu, dem Gezeter zum Trotz? Sind sie nicht das Überleben sichernd durch bloße stolze Kraft? Wer wollte ihnen Einhalt gebieten?“
„Mir geht es um die Macht des Mondes, und wie ich weiß, seid Ihr interessiert an einen ganz bestimmten Inhaltsstoff für Euren Wein, den ich Euch dafür besorgen werde, wenn Ihr mir die dunkle Seite offenbart.“
„Ich trage mich ein in das Buch der Erde. Ich rühre an den Instinkten der Wonne. Die Vernunft hängt zerschmettert am Baum, der dort vor der Türe steht.“

Ah – es begann ein Donnern weicher Pfoten; es begann aus den Winden zu schneien. Frost gefror die Bäche ein, das glänzende Licht heulte rufend aus der Ferne. Es tanzten die Tatzen, es wogten die Flanken, es stiegen am Nacken die Borsten empor. Es wichen die Ranken und pumpten die Lefzen, das Hecheln der Meute stank Wolken hervor.
„Jetzt kommen die Wolfen über die Felder von Ypern geeilt. Fleisch ernährt Fleisch.“
Esrabella setzt den Kelch ab. Tannine beranken ihre Lippen, verzieren ihr Gesicht. Die Augen kühl von der Farbe des Pechsteins, der auf dem Mären-Tisch liegt.
„Sie hat den Zauberwein getrunken!“
Ab jetzt drehen alle Uhren nach vorne und keine mehr zurück.

*

Der Zauberer ist tot, es lebe der Zauberer!
Esrabella hat alles genau geplant, aber das Schloß bekommt sie nicht, oder woher soll sie eine Million Mark nehmen? Die Hammerschmieden stehen still, der Athanator ist erkaltet, aber die Münze funkelt in ihrer Hand. Wenn sie sich von ihm trennen muß, dann wird sie sich auch von der Münze trennen können, dann wird sie damit den Fährmann bezahlen. Sie wandelt zur Eger hinunter, eine dunkle Wolke mit einem Gesicht, das weiß aus der Nacht herausragt.

„Fährmann!“ Und lauter, so laut, daß sich ihr Hals plustert, der Kragen weitet: „Fährmann!“
Die Eger gurgelt und spült den Rest des Tages in die Ferne, aber mehr ist da nicht. Das Echo ihrer Stimme hält sich wacker, manch Schlaf wird unruhig, die Milch in den Eutern der Kühe sauer werden. Sie betrachtet das glitzernde Goldstück, steht hier stellvertretend für alle Witwen am Fluß, von dem sie sich viel mehr versprach. Am anderen Ufer regt sich die Gestalt der weißen Ratte Fridolin.

„Frau Gräfin, schreien Sie bitte nicht so exorbitant herum! Sie kennen das Problem mit den Geistern doch zur Genüge! Ich kann Ihnen eine Barke zukommen lassen, aber Sie müssen sich etwas gedulden, das Jenseits ist heute wegen Überfüllung geschlossen.“

Im Jahre 1846 kam ein äußerst merkwürdiger Mensch in unser Dorf, den man auf den ersten, den zweiten und sogar den dritten Blick für einen Lotterbuben halten konnte, wäre da nicht der Heckerhut gewesen, den bei uns zulande zwar keiner kannte (die radikaldemokratische Gesinnung war uns fremd) – der aber, war er nicht gestohlen, einen gewissen Stand andeutete.

„Er ist tot!“ rief sie hinüber.
„Ich dachte es mir. Aber auch für einen Alchimisten wird es keine Ausnahme geben. Madame! Ich bin nur eine sprechende und philosophisch begabte Ratte, eine Altweltmaus – wie gefällt Ihnen das? Aber im Gegensatz zu Ihnen bin ich sterblich. Genug der Wunder! Man bekommt sie nicht allesamt. Halten Sie das alles denn für so wichtig?“
„Er verschimmelt in meiner Wohnung! Ich halte es durchaus für wichtig!“
„Sollten ihn seine Schüler nicht einbalsamieren?“
„Das geht nicht. Er feiert ja gerade mit ihnen seinen Abschied!“
„Es gäbe ein Notfloß. Wenn er allerdings entdeckt wird, schicken sie ihn zurück.“
„Mich würde interessieren, warum ich hier stehe und mit einer Ratte diskutiere!“
 „Mit wem sollten Sie denn sonst reden? Es ist ja niemand anderes da!“

Es war einmal ein Dorf, das man nicht kennt und an das man nicht denkt. Es lag in einer schlechten Wetterzone, Nebel stand hier selbst in den Sommermonaten, die kaum einmal wirklich heiß wurden, jeden Morgen sehr tief. Im Umland lagen rudimentäre Erinnerungen an eine bessere Zeit teilweise im Acker vergraben. Ruinen bröckelten vor sich hin, faulende Gatter schlugen wie Geisterkiefer in einem zahnlosen Bett. Der Wind röchelte durch die ausgemergelten Fensterscharten. Kein Glas saß mehr in seinem Rahmen. Begonnen hat Frau Gräf, den Kindlein zu erzählen, daß ein großer, garstger Vogel käm’, wenn sie nicht schlafen wollten. Zuvor, da sang sie Lieder, erzählte von Feenreichen, Paradiesen, die im Wasser funkeln – und Schätzen tief in Höhlen, von Königreichen, die man nur im Traum betreten kann, wo man König ist und Königin, die Bienen den Honig an die Haustür bringen und die Tiere sprechen. Auch ihr Vogel sprach, den sie den Nachtkrapp nannte – heute weiß keiner mehr, wer ihn erfand. Die Angst zu schüren, gefiel ihr sehr gut, sie spürte da ein regelrechtes Ziehen in den verbotenen Regionen, wann genau sie schwarz geworden war, das hatte sie vergessen. Als Witwe fürchtete man sie, das lag an der Tracht des Todes, wie sie wußte. Sie roch nach Humus und Stall. 

„Sie muß verrückt geworden sein vor Trauer“, sagte man im Dorf von ihr. Die Wahrheit aber ging anders. 

Esrabella Gräf hatte ihr Leben nie gelebt: sehr früh schon Magd am Hof des Vaters, wurde sie jung in die Ehe gegeben, vor der sie sich zu Recht gefürchtet hatte. Ihr zukünftiger Gemahl hatte einige recht merkwürdige Angewohnheiten und keiner konnte sagen, ob er sich die nach der Hochzeit abgewöhnen würde. Esrabella hätte gesagt, sie habe in die Abgründe eines Mannes geblickt, der als Säugling mit Schnaps ruhig gestellt,  später der Gespiele seiner eigenen Mutter wurde, nachdem der Vater sich bei einem Jagdunfall den Hoden abgeschossen hatte. Er überlebte, aber vielleicht wäre es für die Familie besser gewesen, er wäre gestorben (Gott verbiete mir mein Mundwerk!).

Tief hängen die Decken des Hauses, festgestampft wie der Gartenboden, der sich rund um das Haus findet, und auch wie der Gartenboden zeugen Fußspuren von verdreht angelegten Wegen. Teekessel baumeln an Ketten, in ausgehöhlten Hühnerköpfen leuchten Kerzen durch Augen und aufgesperrte Schnäbel, die Wände krummer Lehm. Katzen schleichen um Porzellanaccessoires herum, die auf Regalen und bemalten Schränken einstauben. Esrabella wartet auf Bartholomäus, der seine Träume nicht versteht, der ihnen aber dennoch folgen wird.

„Ich war mal Schaffner“, sagt er gerade. Sie weiß es, weil ihr Mund sich mitbewegt.
Die Hühnerköpfe im Chor: „Ich war mal Schaffner! Ich kann Ihnen Karten besorgen!“
Die Jahre vergehen wie Stunden, die Stunden vergehen wie Minuten, die Minuten vergehen wie Jahrhunderte. Fridolin trabt durch den neblichten Garten, erfreut sich am Denken, erschnuppert sich Kompost und Schlachtabfälle. Die Hühnerköpfe im Chor: „Heute ham’se den Buback abgeknallt!“
Fridolin indes: „Oh! Aha! Ich entdeckte den Tunnel der Weisheit sozusagen im Rattentempo. Ich also verfing mich mit meiner Nase in einem Kadaver und wurde sehend, das heißt: sprechend; aber du mußt sehen, was nicht gesprochen sein wird, was im Hintergrundrauschen steckt. Du mußt es nicht riechen, sagte ich mir, also zieh‘ deine Nase aus dem Gedärm heraus und denke darüber nach, warum du eine Ratte bist, ob das jetzt ein Zufall ist.“
Der Hahn kräht in der Annahme des frühen Morgens, die Hühner hören den Hühnerkopfchor: „Er kommt, Frau Gräfin! Der zerfetzte, zerschlissene Flüchtling naht sich!“
Fridolin indes: „Hier ist es wahrlich wunderlich. Alles ist illuminiert als gäbe es ein Fest.“

O when the chicks
go marching in…
tanned and delicious

„Du wirst jetzt dieses Kostüm anziehen, mein lieber Bartholomäus.“
Ist es ein Vogel-, ist es ein Ratten-, ist es ein Wolfskostüm?

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