Die Dinge waren Honig im Sommer 88

Die Tussi blieb unbeeindruckt. Beim Ausfüllen des Personalbogens hatte ich wahrheitsgemäß angegeben, bereits seit über drei Jahren arbeitslos zu sein, doch das kümmerte sie nicht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass ich weder den Führerschein besaß noch Spanisch sprach oder CNC-Fräsen beherrschte, TÜV-Zertifiziert. Erst als sie die Rubrik Stundenlohnvorstellung erreichte, blickte sie hoch.

“Sechzehn Mark..? Nee, junger Mann, das können wir gleich vergessen. Wir hatten an elf gedacht. Elf Mark, nicht sechzehn.”

Ich konnte von meinem Platz aus sehen, wie sie auf dem Personalbogen in Druckbuchstaben ZU HOHE LOHNFORDERUNG eintrug. Verdammt, musste das sein? Druckbuchstaben machten Lärm, Druckbuchstaben fielen auf. Druckbuchstaben waren Gorillas, die sich auf der Brust trommelten: HIER, ICH!! UUH! UUH!
“Moment mal.. Das geht nicht”, sagte ich. “Wenn Sie das so schreiben, kriege ich Ärger mit dem Arbeitsamt.”
“Ärger? Wieso? Wenn Sie doch auf Ihrer letzten Stelle wesentlich mehr verdient haben, ist das doch kein Problem. Dann kann Sie das Amt nicht zwingen, eine Arbeit aufzunehmen.”

“Na schon..”, setzte ich an.

Sie wartete.

“Aber..?”

“.. bei meinem letzten Job als Kommissionierer hab ich elf fünfundsiebzig gekriegt.”

“Oh. Ja. Das sind gerade mal fünfundsiebzig Pfennig mehr. Warum fordern Sie denn plötzlich so viel?”

“Weil man mit dem Geld nicht hinkommt. Könnten Sie nicht.. sagen wir, einen anderen Grund angeben, warum Sie mich nicht einstellen?”

Sie rückte die Brille zurecht.

“Was denn für einen?”

Eigentlich sah sie ganz nett aus. Als wäre sie gerade aus dem Bett gestiegen. Verwuseltes Haar, kleine chinesische Teezähnchen. Ich meine, ist doch schöner als perfekt. Eine Personalchefin muss kein Top-Mannequin sein. Dazu dieses neugierige kleine Stupsnäschen. Wie süß. Und das bißchen Brille.

“Vielleicht.. dass ich untauglich wäre für den Job?”

“Das ist einfache Maschinenarbeit. Das kann jeder.” Sie gackerte. “Sogar Sie.”

“Hm ja.. Oder Sie hätten sich für einen anderen Bewerber entschieden. Es haben sich doch mehrere Leute vorgestellt, oder nicht.”

“Damit wir uns recht verstehen, junger Mann.” Ihre Stimme bekam einen harschen Klang, so als hätte sie plötzlich den Kehlkopf durchgedrückt und stünde nun kerzengerade vor mir. “Wir suchen Mitarbeiter für mehrere Maschinen, und soviel Leute hat uns das Arbeitsamt gar nicht hergeschickt. Und den meisten, die erschienen sind, ist der Stundenlohn zu gering.”

Mir ging es nicht um den Stundenlohn. Ich hatte einfach keine Zeit für den Job, ich hatte im Hotel genug zu tun. Nachmittags war ich Kofferträger und verteilte das Gepäck der ankommenden Reisegruppen, nachts arbeitete ich an der Rezeption und beschiss den Chef, wenn ich ein Zimmer schwarz vermietete. Ich klüngelte an allen Fronten. Die Dinge liefen gut in diesem Sommer. Ich war seit anderthalb Jahren mit der Gräfin zusammen, die Sonne war draussen, ich hatte Bargeld satt.

Nur wenn ich die Zeitung aufschlug, wurde mir zunehmend mulmig. Konjunkturaufschwung, las ich. Jobs, Jobs, Jobs. Was bedeutete, dass möglicherweise selbst für Loser wie mich ein Pöstchen heraussprang, ein sozialversicherungspflichtiges, versteht sich. Aber davon hatte niemand etwas. Ich würde alles nur kaputtmachen mit meinen zwei linken Händen und gefühlsduseligen Kopfhälften. Nein. Es konnte ruhig alles so bleiben, wie es war.

Pünktlich zum Monatsende überwies Nürnberg die Arbeitslosenhilfe auf mein Konto, nicht sehr viel, doch es reichte für Miete, Strom und eine Tageszeitung. Für den Rest, fürs High Life, wie meine Eltern das nannten, jobbte ich im Turmhotel. Bezahlt wurde cash auf die Hand, in Dollar das Koffertragen, in D-Mark die Nacht. Ich fühlte mich wie Onkel Dagobert im Geldspeicher. Hier ein Zwanni, da zehn abgegriffene Dollarnoten, alles voll.

“Things are really honey”, sang ich vor mich hin, eine Zeile aus einem Popsong. Ich hatte vergessen, welcher Song. War ja auch egal. Die Dinge waren Honig, in jenem Sommer 88. Bis eben zu diesem Tag, diesem Vorstellungstermin in einem alten Wuppertaler Gewerbegebiet, bei Frau Patzke.

Ich war Mitte zwanzig und wusste immer noch nicht, was ich werden wollte, wenn ich mal groß bin. Schon Jahre zuvor, als Pepe im Knast saß und wir uns lange Briefe schrieben, kam Pepe auf den Punkt. Er beschwerte sich darüber, dass dieser Staat sich anmaßte, darüber zu entscheiden, welche Drogen wir Bürger nehmen dürften und welche nicht. Die sollen uns in Ruhe lassen, schrieb Pepe zornig, wir tun diesem Land doch nichts. Wir gehen unserer Arbeit nach und zahlen Steuern, dann können wir auch abends was kiffen oder ein Näschen Koks ziehen. Er zählte einige Kumpel auf, die gerne ihrer Arbeit nachgingen und Steuern zahlten. Zuletzt kam er bei mir an, und der Faden riss. Bei mir wollte ihm partout keine bezahlte Beschäftigung einfallen, die zu mir passte.

Du bist ein Outlaw, schrieb er. Schreib einen Sommerhit, dann hast du ausgesorgt.

Ich zog meinen Tabak aus der Gesäßtasche und begann mir eine zu friemeln. Live. Live kam immer gut. Tabak krümelte auf die weiße Resopalplatte des Schreibtischs. Das Gespräch war am Tiefpunkt angekommen.

“Frau..”, ich blickte auf ihr Namenschildchen, “.. Patzke, ich muss jedes Jobangebot annehmen. Ich kann gar nicht ablehnen. Wenn Sie also unbedingt wollen, dass ich hier anfange, dann muss ich das tun, wohl oder übel. Sonst sperrt mir das Arbeitsamt die Zahlung.”

Die Leiterin des Personalbüros starrte auf meine Finger, die eine Zigarette rollten. Ihr Blick verriet erst Ungläubigkeit, dann Hass. Da war nichts mehr mit Stupsgesicht und Teezähnchen. Da war kaum noch Nase. Nur noch Brille, Kassengestell. Ich war zu weit gegangen.

“Also, das müssen Sie schon selbst entscheiden”, giftete sie. “Wenn Sie mit elf Mark Stundenlohn bei einer Vierzig-Stunden-Woche zufrieden sind, können Sie Montagfrüh anfangen, Punkt sieben Uhr dreißig. Wenn nicht, dann nicht.”

Das Gespräch neigte sich dem Ende zu, mit riesigen Schritten. Es war schon draussen auf dem Gang. Ich hörte es trappeln, bis hierhin. Ich saß in der Falle. Das war exakt die Situation, die man bei einem Vorstellungsgespräch unbedingt vermeiden sollte. Wenn nichts mehr vor und zurück ging und man selbst der Gelackmeierte in der ganzen Geschichte war.

“Elf Mark sind zu wenig”, sagte ich und steckte die fertiggedrehte Kippe ein. “Da bleiben doch gerade mal tausend Mark im Monat.”

Sie zog eine veraltete Rechenmaschine heran und tippte mit flinken Fingern Zahlen ein.

“.. genau elfhundertneunzig netto, Steuerklasse eins.”

Ich griff zur finalen Maßnahme.

“Sie hätten doch gar nichts davon, wenn ich hier Montag anfange und nach, sagen wir, zwei, drei Wochen wieder in den Sack haue.”

“Da haben Sie wohl recht”, sagte sie und erhob sich rasch. “Davon hätte ich nur jede Menge Papierkram.”

Sie ging zur Tür und öffnete sie, flankiert von einer kühlen Kopfbewegung: UND JETZT RAUS HIER, FAULER POLAKKE!

Ich schlich davon, wie ein begossener Pole.

*

..

“Das Wort Land finde ich echt schön. Ein schönes Wort. Land in Sicht!”

..

aus

Von Philosophen und echter Philosophie

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