Helmut Finner war der letzte, den man nackt an einen Baum gefesselt, mit dem
Odel aus dem Güllefaß gleich unten, wo seine übervölkerte Patchworkfamilie mit
Hasen und Mäuse hauste, übergossen eine ganze Nacht lang in der Kälte hängenließ,
aber er war der erste, der dabei draufging. Die Zeiten, in denen die Gemeinschaft um
den Baum wie um einen Scheiterhaufen herum stand und rief: „Du stinkst wie deine
Sünden!“ war längst vorbei, aber man konnte noch immer eine Vorstellung davon
bekommen, was der Ausspruch Friß Scheiße! einmal bedeutet haben könnte, damals –
ein Wort, das mächtige Welten aus der Vergangenheit herbeizaubert – als hier die
Holzknechte in ihren Hütten, aus Rinde gebaut, lagerten, um den gewaltigen Bedarf
an Brenn- und Bauholz zu gewährleisten. Die Essen der Hammerwerke verschlangen
dabei genausoviel wie die Glashütten. Darüber hinaus benötigte man Bauland in
dieser nahezu lichtungsfreien waldreichen Gegend, in der die Fürsten der Jagd
huldigten. Das alles lag lange zurück, länger als die Eger benötigt, zur Elbe zu
fließen. Für die 291 km braucht sie zwar nicht allzulange, aber das Sprichwort ging
nun einmal so.
Heute standen die Hammerschmieden still, vielen sah man nicht einmal mehr an,
daß in ihnen einst mächtige Hämmer das Erz aus den Steinen schlug, aber die
Geschichten sind geblieben, haben sich in den Zungen der Alten vergraben, die sie bei
jeder Gelegenheit weitergeben wollten – und die Holzknechte arbeiteten nun in den
Sägewerken in Puchberg oder der Hohen Mühle. Vom Treiben in Wendenschuch ahnte
man in der nahen Umgebung nichts, man hätte nicht einmal geglaubt, daß direkt im
Umfeld der modernen Kunststofffabrik, die sich hier seit einigen Jahren angesiedelt
hatte, so ein mittelalterlicher Ritus überhaupt stattfinden könnte. Man mag ja von der
Grobschlächtigkeit in den abgelegenen Roden sprechen, von der ein oder anderen
Brutalität erfahren, aber das meiste davon waren Familienangelegenheiten, in die man
sich nicht einmischte. Ein öffentlicher Pranger wäre jedoch etwas anderes gewesen.
Die Witwe Gräf hätte erklären können, warum ausgerechnet hier die Zeit einen
Tunnel durch das Granit brach, um Ereignisse zuzulassen, die weit weg von einer
beginnenden modernen Welt angesiedelt lagen (schließlich befand man sich bereits in
den 70ern, der Mond war längst erobert und in den Menschen Hand, Hawlett Packard
stellte einen programmierbaren Taschenrechner), sie hätte gesagt, daß sie alle in der
Mitte der Unendlichkeit lebten und man von hier aus nicht nur nach vorne in der Zeit,
sondern auch in die Tiefe hinabsteigen könne, denn (das hätte sie vielleicht auch noch
gesagt), selbst die Zeit ist eine Kugel. Genau aus diesem Grund wiederholt sich auch
alles so wie sich Geschichten wiederholen, weil man sie überhaupt nicht erfinden
kann. Der Wolf frißt den Hasen. Basta.
- Lesezeichen-Spezial:
von Michael Perkampus
Litblogs.net veröffentlicht den Beginn einer längeren Erzählung von Michael Perkampus mit dem Arbeitstitel: Ich bin die Nacht / Du bist der Ort. Einige der Motive und Charaktere sind erfunden, andere sind es nicht. Nicht erfunden jedoch ist der Ort, an dem die Erzählung einsetzt: das Sechsämterland im Fichtelgebirge.