Mongo

Mongo.

Das ist vielleicht mongo, sagt er und bleckt die Zähne. Mongo, nach einem chilenischen Comic aus den fünfziger Jahren, fügt er hinzu, von ihm aufgegriffen auf Anregung durch einen chilenischen Flüchtling, der den Alexanderplatz so nannte, weil er ihn an die Darstellung zukünftiger Städte erinnert hat. Mongo, das ist die Haltung, die eine solche Stadt hervorbringt, ein Wohnkästchen neben und über dem anderen, eine Menschenschachtel neben und über der anderen.

Götz greift nach einer Mappe im Regal links neben ihm und holt eine Zeichnung heraus, die die Dehnbarkeit dieses Begriffs demonstrieren soll. Ein grünschwarzes Menschenmonster – auch das ist mongo. Mongolisch, mongoloid. Wer ist hier nicht mongo, wir alle sind mongo, auch ich bins, wenn ich so etwas anfertige.

Er zeigt eine von ihm entworfene Postkarte: Rotes Herz hinter grauem Gitter; darüber der Text: Ein herzhaftes 1983. Mongo bin ich aber auch, weil ich zu feig war, es zu verschicken, damit ich keinen Ärger bekomme. Er blickt zu Beate: Und du bist mongo, weil deine Familie mongo ist.

Ärger.

Götz dämpft seine Zigarette im leeren Schnapsglas vor ihm kraftvoll aus. Bevor sie bei der Frau König eingezogen sind, sagt er, ist er mehrmals hier herumgegangen, um die Leute zu fragen, wie denn das Wohnen in der Gegend sei. Dabei ist er an ein älteres Ehepaar geraten, das sofort aggressiv reagiert hat. Die Frau habe die Handtasche gegen ihn erhoben, der Mann habe sich nicht ausreden lassen, er sei ein ZDF-Reporter und wolle die Leute zu Aussagen über die hiesige Umweltverschmutzung erpressen. Wenn das nicht mongo ist!

Traum.

Er habe – im Traum – einen Antrag für eine Reise nach West-Berlin gestellt. Ein S-Bahn-Fahrer habe ihn aber, bevor irgendeine Antwort eintraf, mehrmals nach drüben mitgenommen, sozusagen auf Probe.

Einmal bin ich in einem riesigen Kaufhaus gelandet, sagt Götz, im KADEWE, und staunend und völlig euphorisch an den vollgefüllten Regalen vorbeigezogen, von einem Stockwerk zum anderen, und immer noch dieses Überangebot, diese Unmenge verschiedenster Waren, bis in den letzten Winkel. Schließlich habe ich in der Käseabteilung haltgemacht und mich nicht satt sehen können an den mehr als hundert Sorten aus Italien, Frankreich, Spanien, Griechenland, Österreich, Westdeutschland, Holland und Dänemark.

Bei einer Selbstbedienungskassa in der obersten Etage habe ich eine Portion BULEX verlangt, in der Meinung, das sei etwas völlig Exotisches, das sei ein von mir irgendwann erfundener Markenname für eine himmlische Speise, die ich mir ausgedacht habe. Ich habe mich setzen müssen – auf meine eigenen Unterarme, denn Sitzgelegenheiten hat es keine gegeben -, und die Verkäuferin hat mir mit der größten Selbstverständlichkeit eine riesige Portion BULEX über die Theke gereicht, wobei ich mich nachher nicht mehr erinnern konnte, woraus das Gericht eigentlich bestanden und wonach es geschmeckt hat.

Mongo.

Klar vor Augen sei ihm aber noch die Szene, wie er sich einen 5 kg-Sack Knoblauch gegen den Widerstand des Mädchens erstanden habe: Selbst im Traum sei er von dem Gedanken verfolgt gewesen, hier gebe es Knoblauch nur alle zwei Jahre und dann nur in winzigen Mengen.

Mongo.

Dann habe er sich allerdings verirrt, sei rauf und runter gefahren, doch die Treppe habe kein Ende gehabt, und vor ihm mit seinem Knoblauchsack seien alle Leute geflüchtet, er habe sich ständig über die Augen wischen müssen, was das Falscheste war, was er tun konnte.

Jetzt ist kein menschlicher Laut mehr zu vernehmen gewesen, flüstert Götz, nur das Geräusch der rasch rollenden Treppen, wobei diejenige, auf der ich gestanden bin, sich immer schneller, mit immer schnellerem Knacken hinunterbewegt, ein immer stärkeres Rauschen erzeugt hat, bis dann plötzlich Stille eingetreten ist und mich das Gefühl erfaßt hat, ich würde schweben, hinunterschweben, den Knoblauchsack an die Brust gepreßt, immer mehr aus allen Poren schwitzend – lautlos bin ich dem Erdmittelpunkt entgegengesunken.

Mongo.

Götz zündet sich eine weitere Zigarette an. Und Stefan starrt auf seine rote Lena, die ihm noch weiter unter den Tisch gerutscht erscheint, während er ein Gläschen Schnaps nach dem andern in sich versiegen spürt, gerade die richtige Wärme erzeugend, um das Auftauchen der Phosphoreszierenden Frau – falls sie ihr Versprechen auch einhält – ertragen zu können.

Verirren.

Wer von der Richtigkeit seines Wegs überzeugt ist, behauptet Götz, genießerisch an seiner Zigarette saugend, der kommt auch nicht um, der kehrt heim. Er habe sich einmal mit Freunden in der Hohen Tatra verirrt, die Gruppe jedoch retten können, weil er an einer Wegkreuzung hundertprozentig sicher gewesen ist, der richtige Abstieg sei links, nicht rechts. Mit denen, die sich ihm angeschlossen hätten, habe er die lebensrettende Hütte gefunden und dann auch noch die restlichen Kameraden herunterholen können.

Weg und Ziel.

Die Abweichung vom Weg, sagt Götz, das Aus-den-Augen-Verlieren-des-Ziels. Die Angst vor den Mühseligkeiten des Wegs, die Zweifel an der Richtigkeit des Wegs. Die Zweifel an der Richtigkeit des Ziels. Das Wagnis, das als Wagnis bestehen bleibt, auch ohne Weg und Ziel.

Weg könne auch heißen Lebensweg, und da müsse er sofort an seinen Freund Rolf denken, der viel weniger Glück gehabt habe als er: Als begleitender Kameramann eines Bergsteigerteams im Kaukasus hat er mit diesen die Orientierung verloren. Man hat unter einem Felsüberhang Unterschlupf gefunden und sich unter einer Plache zusammengekauert, wobei Rolf am äußersten Rand seinen Platz gehabt haben muß, weil ihm, ohne daß er es merkte, der linke Fuß abgefroren ist.

Dabei ist es aber nicht geblieben: Der zweite Fuß ist dem Rolf beim Verladen eines Findlings in der Nossentiner Heide zermanscht worden; so, mit dem Mus im Schuh, ist er bis zur nächsten Ortschaft gewankt, wo dann das Schicksal in Form einer Krankenschwester zugeschlagen hat. Sie hat ihm durch ihre inbrünstige Pflege alle Lust auf Abenteuer jeglicher Art gehörig ausgetrieben, ihn umgepolt in Richtung Ehe, Seßhaftigkeit, Kleben an einem Fleck, Zuspecken, gegenseitigem Bekochen.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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